Höhenflug in Lugano

Das Orchestra Mozart mit Isabelle Faust und Bernard Haitink im LAC

 

Von Peter Hagmann

 

Wie wenn der Tod Claudio Abbados am 20. Januar 2014 nicht traurig genug gewesen wäre, wurde in unmittelbarem Zusammenhang damit bekannt, dass das Orchestra Mozart, die letzte Gründung des Dirigenten, aus finanziellen Gründen seine Aktivitäten einstellen müsse. Die Musiker waren freilich nicht gewillt, den administrativen Akt anzunehmen. Sie leiteten eine ganze Reihe von Initiativen ein, welche die Wiederbelebung des 2004 mit Abbado an der Spitze eingerichteten Orchesters ermöglichen sollten. Die Regia Accademia Filarmonica in Bologna, dem letzten Wohnsitz Abbados, hatte schon bei der Gründung Hand geboten; sie ist jetzt wieder im Boot. Gestartet wurde ausserdem eine Crowdfunding-Aktion, die bis heute bereits mehr als 90’000 Euro erbracht hat. Nun sind die Musiker wieder aufs Podium gegangen. Das Orchestra Mozart lebt, und wie.

Zu hören war es am vergangenen Wochenende in Lugano, im Konzertsaal des neuen Kulturzentrums LAC, und dort im Rahmen der von Etienne Reymond geleiteten Konzertreihe LuganoMusica. Zwei Tage zuvor hatte das Orchestra Mozart in Bologna sein erstes Konzert der Post-Abbado-Ära gegeben, danach ist es für sein erstes Konzert im Ausland nach Lugano gereist, wo es ein hingerissenes Publikum gefunden hat. Kraftvoll blickt das Orchester jetzt nach vorn, doch tut es das im Wissen um seine grosse Vergangenheit. So hat es denn den Faden, der vor drei Jahren niederfiel, wieder aufgenommen. Am Pult stand erneut Bernard Haitink; er hatte das letzte Konzert des Orchestra Mozart vor Abbados Tod dirigiert. Und mit von der Partie war die Geigerin Isabelle Faust, die in der späten Zeit Abbados oft mit dem Dirigenten zusammengearbeitet hat.

Auch das Programm stellte eine Hommage an den Gründer des Orchesters dar. Die «Egmont»-Ouvertüre Ludwig van Beethovens war das erste Stück, das in einem Konzert des Orchestra Mozart erklang. Beethovens Violinkonzert hat Isabelle Faust mit dem Orchestra Mozart unter Abbados Leitung 2010 aufgenommen, dies zusammen mit dem Violinkonzert Alban Bergs – die CD ist dann 2012 erschienen. Und die «Rheinische», die Sinfonie Nr. 3 in Es-dur von Robert Schumann, war das letzte Werk, an dem Abbado mit dem Orchester gearbeitet hat. So schliesst sich jener Kreis, zu dem auch Bernard Haitink gehört. Im Spätsommer 2000 ist er zum ersten Mal für den akut erkrankten Claudio Abbado eingesprungen, damals noch am Pult der Berliner Philharmoniker; 2014 dirigierte er an Abbados Stelle das Orchestra Mozart, ein knappes Jahr später das ebenfalls auf Initiative Abbados installierte Lucerne Festival Orchestra.

Indes, bei dem jüngsten Konzertprojekt des Orchestra Mozart ging es keineswegs um die Retrospektive allein. Zu spüren war vielmehr ein klarer Wille zum Aufbruch. Das Orchester klang ungemein frisch und zupackend, seine knapp 60 Mitglieder wirkten motiviert und engagiert bis in die hintersten Ränge. Sie wollen, was sie tun; sie tun es nicht, weil sie es müssen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie sich anderswo, im Orchestra Mozart finden sie zusammen für Projekte, für begrenzte Arbeitsphasen. An ausgedehnte Konzertreisen, wie sie die anderen von Abbado gegründeten Orchester pflegen, denken sie weniger; eher möchten sie sich in einigen Städten Europas als Residenzorchester verpflichtet sehen, um sich dort mit einer breiten Palette musikalischer Darbietungsformen vom Sinfoniekonzert zum Kammermusikprogramm und zu pädagogischen Projekten einzubringen. Auch in Lugano hat das Orchestra Mozart vor seinem abendlichen Auftritt Kammermusik präsentiert: im Foyer des LAC, wo sechzig Stühle aufgestellt und dreissig Kissen für Kinder ausgelegt wurden. Fünfhundert Zuhörer seien gekommen, berichtet Etienne Reymond; die meisten von ihnen hätten von den Treppen aus zugehört.

Der Geist, der hier zum Ausdruck kommt, ist nicht unbekannt. Es ist jener des Lucerne Festival Orchestra – und tatsächlich gibt es hörbare klangliche Verwandtschaften. Kein Wunder, fand sich unter den Musikern, die in Lugano auftraten, doch eine ganze Reihe von Mitgliedern des Luzerner Lucerne Festival Orchestra: vom Geiger Raphael Christ, der beim Orchestra Mozart als Konzertmeister wirkt, über Danusha Waskiewicz, die Stimmführerin der Bratschen, und dem Solo-Cellisten Gabriele Geminiani bis hin zum Solo-Oboisten Lucas Marcías Navarro und seinem Kollegen Carlos del Ser Guillén. Die Schnittmenge umfasst zwanzig Prozent der Mitglieder. Das ist nicht so viel, dass die Eigenständigkeit der beiden Klangkörper tangiert wäre, fällt aber doch ins Gewicht. Bedeutender sind freilich die Prämissen des Musizierens, die hier wie dort dieselben sind: die Exzellenz auf dem Instrument, Präsenz und Reaktionsvermögen im Geist der Kammermusik, das Engagement aus freien Stücken und die freundschaftliche Verbundenheit untereinander – das macht den sagenhaften Klang auch des Orchestra Mozart aus.

Es ist ein persönlicher Klang mit einem kompakten Kern und einer starken Leuchtkraft. In dem akustisch hervorragenden Saal des LAC – was vom Podium kommt, wirkt in der Höhe des Balkons genau so präsent wie im Parkett – kam er um so mehr zur Geltung, als Bernard Haitink die Eigenheiten der Orchester Abbados optimal zu nutzen und sie zur Geltung zu bringen versteht. Eindrucksvoll auch, wie die Energien zwischen dem Dirigenten und dem Orchester fliessen. Der Kopfsatz der «Rheinischen» mag im Tempo etwas behäbig geraten sein, jedenfalls lag er merklich unter der von Schumann stammenden Metronomzahl; in der vibrierenden Spannkraft, mit welcher der Pauker Robert Kendell das Orchester voranzog, gewann das Tempo jedoch seine eigene Plausibilität. Die «Egmont»-Ouvertüre wiederum geriet so wuchtig, dass man sie durchaus auch als Ausdruck der Orchesterbiographie hören konnte. Während das Violinkonzert Beethovens von Isabelle Faust und dem Orchester derart berührend nach innen gewandt vorgetragen wurde, dass auch der Zuhörer zu aktiver Partizipation eingeladen war. Meine Nachbarin im Saal scheint davon wenig bemerkt zu haben; unverdrossen beleuchtete sie ihre Umgebung und liess sie an den Eingebungen teilhaben, die sie in ihr iPad tippte.

Lucerne Festival (1) – Stabwechsel beim Festivalorchester

 

Die «Sinfonie der Tausend» zur Eröffnung des Lucerne Festival im Konzertsaal des KKL / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Überwältigender Abschluss, vielversprechender Aufbruch

Mahlers Achte zum Debüt von Riccardo Chailly beim Lucerne Festival Orchestra

 

Ein Gast, der eigens aus Amsterdam angereist war, blieb unerwähnt. Die extragrosse Pauke, die der Dirigent Willem Mengelberg auf Anraten des Komponisten für eine Aufführung von Gustav Mahlers achter Sinfonie 1912 im Amsterdamer Concertgebouw hatte anfertigen lassen, war mit Donnerschlag am Eröffnungskonzert der diesjährigen Sommerausgabe des Lucerne Festival beteiligt, erschien aber auf keiner einzigen VIP-Liste. Macht nichts, sie ist es gewöhnt. Lange hatte sie im Keller des Concertgebouw geschlummert. Im Zuge von Bauarbeiten kam sie zufällig zum Vorschein, und als sich Riccardo Chailly, damals Chefdirigent des Concertgebouworkest, im Rahmen des Mahler-Festes 1995 mit der Achten befasste, liess er das Instrument restaurieren und setzte es ein. So war es jetzt auch im Luzerner KKL mit von der Partie. Nichts davon steht in der Partitur; um darauf zu kommen, muss man schon ein wenig tiefer graben.

Mit Herz und Kopf

Riccardo Chailly, der jetzt als nicht ganz unmittelbarer, aber doch eigentlicher Nachfolger Claudio Abbados an die Spitze des Lucerne Festival Orchestra getreten ist – Riccardo Chailly tut das, allezeit und in jedem Fall. Seine Kompetenz als Dirigent gründet nicht allein in seinem unbestreitbaren Charisma, sie basiert auch auf einem vertieften Eindringen in die Partituren, das nicht nur die Notentexte an sich, sondern auch all das betrifft, was dahinter steht und sich darum herum angelagert hat. Das etwa Fragen der Rezeption einschliesst – und darum hat Chailly, als er mit dem Concertgebouworkest die Sinfonien Mahlers erarbeitete, auch die Dirigierpartituren Willem Mengelbergs zur Hand genommen. Als enger Freund Mahlers und früher Streiter für dessen Werke hat Mengelberg, ein halbes Jahrhundert lang Chefdirigent des Concertgebouworkest, vom Komponisten eine Fülle von Hinweisen erhalten, die nirgends publiziert, aber von hoher Nützlichkeit sind. Zum Beispiel eben den Vorschlag zum Bau einer speziellen Pauke für die Achte.

Mit diesem überbordenden, immer wieder hinreissenden Werk wurde nun die Sommerausgabe 2016 des Lucerne Festival eröffnet – eine Ausgabe, die dem jüngst verstorbenen Pierre Boulez gewidmet ist, während das Eröffnungskonzert selbst vom Lucerne Festival Orchestra und seinem nunmehrigen Chefdirigenten dem ebenfalls dahingegangenen Gründer Claudio Abbado zugeeignet wurde. Mit anhaltendem Stehapplaus aufgenommen, bot der Abend Abschluss und Aufbruch in einem. Abgeschlossen wurde eine Ära von elf Jahren, in der die Sinfonien Mahlers einen zentralen Nervenstrang bildeten – just bis auf die Achte, deren Aufführung Abbado 2012 zweifellos mit Rücksicht auf die schwindenden Kräfte hatte absagen müssen. Und aufgebrochen wurde in eine Zukunft, in der sich eine neue Balance einstellen wird zwischen einem Chefdirigenten, der in den besten Jahren steht, auch ungeheuer Energie verströmt, und dem trotz aller Unkenrufe nach wie vor höchstkarätigen Orchester.

Dieses Orchester präsentierte sich so unverändert oder so leicht verändert, wie es in den vergangenen Jahren stets der Fall war. Dass enge Freunde Abbados nach dem Tod des Dirigenten nicht mehr dabeisein mögen, lässt sich nachvollziehen. Dass andererseits Mitglieder des Scala-Orchesters, dem Riccardo Chailly inzwischen als Musikdirektor vorsteht, nun auch in Luzern mit von der Partie sein sollen, kann man ebenso sehr verstehen – ein Orchester ist ein lebendiger Körper, und selbstverständlich hat der Chefdirigent in Sachen Besetzung etwas zu sagen, das war bei Abbado auch so. Am ehesten zu bedauern ist vielleicht das Ausscheiden Sebastian Breuningers, einem Konzertmeister von seltener Qualität. Aber Breuninger ist eben auch Konzertmeister im Leipziger Gewandhausorchester, von dem Chailly auf Ende der Saison 2015/16 nicht ganz ohne Spannung geschieden ist. Davon abgesehen äussert sich Chailly über das Lucerne Festival Orchestra in Ausdrücken der Bewunderung und des höchsten Respekts; und er bekräftigt, dass die von Abbado für dieses Orchester installierten Prinzipien bestehen bleiben sollen.

Der logische Nachfolger

Ohnehin ist der Schritt von Abbado zu Chailly kleiner, als es erscheinen mag – nicht nur darum, weil beide Dirigenten Mailänder sind. Und nicht nur, weil Chailly in den siebziger Jahren Abbado, der damals als Musikdirektor die Scala umpflügte, als junger Assistent zur Seite stand. Die Verbindung zwischen Herzenskraft und Forschergeist, die Chailly auszeichnet, mag auf Abbado zurückgehen, der damals der unzulänglichen Edition von Bizets «Carmen» zu Leibe rückte und im gleichen Geist Jahre später aus der Partitur von Bergs «Wozzeck» hunderte von Fehlern beseitigte. Chailly treibt die nämliche Neugierde, darum hat er 2005 mit dem Gewandhausorchester Mendelssohns Sinfonie Nr. 2, den «Lobgesang», in der kaum je gespielten Erstfassung von 1840 einstudiert. Dazu kommt die selbstverständliche Nähe zur neuen Musik, weshalb er jetzt, als er in der Scala die von Puccini unvollendet zurückgelassene Oper «Turandot» dirigierte, sich nicht für das hergebrachte Finale von Franco Alfani, sondern für die neuere Schlusslösung von Luciano Berio entschied.

Das alles sind Aspekte, die Riccardo Chailly als einen jener modernen Dirigenten erkennen lassen, wie es – jeder auf seine Weise – Claudio Abbado und Pierre Boulez waren. Bei Mahlers Achter war es zu hören. Der von Mahler bewusst intendierten Grandiosität blieb er nichts schuldig. Der Chor des Bayerischen Rundfunks München, der Lettische Radio-Chor Riga und der baskische Chor Orfeón Donostiarra sowie der Tölzer Knabenchor sorgten, vorbereitet von Howard Arman, für gewaltige vokale Präsenz – dies aber auf einem Niveau der Darbietung, das als sensationell gelten darf: satt und homogen im Klang, ausgeglichen präsent in allen Registern bis hin zu den Strohbässen im Chorus Mysticus, strahlend ohne Annäherung an den Schrei im Fortissimo. Das Orchester wiederum war in extragrosser Besetzung angetreten, mit dem Fernorchester der Trompeten und Posaunen auf der Orgelempore, mit der von Franz Schaffner gespielten Orgel als einer Art zweitem (oder drittem) Orchester. Und es lebte das Prinzip der Exzellenz, aus dem es geboren ist, in hohem Masse aus.

Dabei blieb die Lautstärke – eines der heikelsten Probleme bei einer Aufführung von Mahlers Achter mit ihrer überbordenden Besetzung – insgesamt besser im Rahmen als bei den früheren Aufführungen des Werks etwa 2001 mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester unter der Leitung von Franz Welser-Möst oder 2006 mit dem Orchester aus San Francisco und seinem Chefdirigenten Michael Tilson Thomas. Dass es am Ende des ersten Teils zu Momenten der Übersteuerung kam, mag am Stück selber liegen; Mahler führt kontrapunktische Verdichtungen herbei, die tatsächlich schwer zu kontrollieren sind. Die freilich durchaus nicht implodieren müssen, das hat die Aufführung von Mahler VIII mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und seinem damaligen Chefdirigenten David Zinman gezeigt, die 2009 aus akustischen Gründen von Zürich ins KKL Luzern verlegt worden war. Beim Luzerner Eröffnungskonzert hatte ich jedoch den Eindruck, dass Chailly zu sehr und zu lange auf dem Forte-Fortisssimo verblieb, weshalb der Klang grau wurde und die sonst gerade klanglich so wunderbar aufgefeilte Wiedergabe ihre Spannung verlor.

Kontrollierte Emphase

Dass es nicht restlos gelang, geht vielleicht auch auf das Solistenensemble zurück, wo in den Ensembles des ersten Teils bisweilen jeder gegen jeden sang. Wo die Sopranistin Ricarda Merbeth derart vibrierte, dass das Gefühl für die Tonhöhe gefährdet war, und wo der an sich sehr geschätzte Tenor Andreas Schager unheimlich presste. Die wertvollsten Momente ergaben sich im zweiten Teil des Stücks. Zunächst beim schwankenden Wald des Männerchors, dann aber beim Auftritt des Pater ecstaticus, den Peter Mattei mit der grossartig gewachsenen Schönheit seines Timbres, einer Innigkeit sondergleichen und intensiv erfüllten Spannungsverläufen zu einem Höhepunkt des Abends machte. Juliane Banse (Una poenitentium) bewahrte sich in ihren kurzen Auftritten bewundernswert lyrische Ansätze, während Samuel Youn (Pater profundus), Mihoko Fujimura (Maria Aegyptiaca) und vor allem Sara Mingardo (Mulier Samaritana) mit glanzvoller Tiefe punkteten. Und als die junge Sopranistin Anna Lucia Richter, in bester Erinnerung von Mahlers Vierter mit Bernard Haitink im letzten Sommer, als Mater gloriosa die Orgelempore betrat, ging ein ganz besonderes Licht an.

Der opernhafte Zug des zweiten Teils trat jedenfalls ungeschmälert heraus, dies aber ohne jeden Überdruck. Riccardo Chailly kennt nicht nur die Spezialitäten der Besetzung im Schlagzeug, er weiss auch, wo die Fallen der übersteuerten Emphase liegen, und es ist ihm bewusst, was sich an Unterstreichungen dem Notentext angelagert hat. Nichts davon war in dieser Aufführung zu bemerken. Chailly nahm die Zügel fest in die Hand und liess manches nicht in der Partitur stehende Rubato aus. Zusammen mit den vergleichsweise straffen Tempi, den vielen dynamischen Überraschungsmomenten und der grossartig aus einem Flüstern heraus angelegten Finalsteigerung tat das seine Wirkung. Der überhöhte, leicht und rasch in Kitsch fallende Ton des Werks blieb jedenfalls stets gefasst, so dass die gründerzeitliche Geste dieses musikalischen Weltentwurfs als positiver Wert erfahrbar wurde. Und restlos überwältigte.

Was für ein Abend. Was für ein Aufbruch. Die Zukunft des Lucerne Festival Orchestra – jetzt hat sie begonnen.

Lucerne Festival (1) – Das Lucerne Festival Orchestra

 

Bernard Haitink im Sommer 2015 in Luzern - Bild Stefan Deuber, Lucerne Festival
Bernard Haitink im Sommer 2015 in Luzern / Bild Stefan Deuber, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Trauer auf Erden, himmlischer Trost

Das Eröffnungskonzert mit dem Lucerne Festival Orchestra und Bernard Haitink

 

Sechsundachtzig ist er jetzt. Doch Bernard Haitink ist aktiv wie eh und je, und dabei strahlt er ungebrochene Präsenz aus. Fest hält er das Lucerne Festival Orchestra in der Hand – gründlich anders als Claudio Abbado, der die Zügel zwar auch nicht schleifen liess, den Musikerinnen und Musikern aber doch explizit Freiraum schuf und auf ihr autonomes Handeln setzte. Indes, so klar Haitink den Weg vorgibt, so sehr herrscht bei ihm eine Ruhe, die alles und jedes wie von selbst geschehen zu lassen scheint. Aus sich selbst heraus und ohne jede Unterstreichung durch den Interpreten. Und das ist nun doch wieder sehr nah bei Abbado.

Strukturbezogen und emotional

Haitinks interpretatorische Zurückhaltung ist ebenso Charaktersache, wie sie ästhetischer Prämisse entspricht. In den Proben, die von zielgerichteter Unaufgeregtheit geprägt sind, ordnet er den Verband, sorgt er für die Präzision des Zusammenspiels und die klangliche Balance. Um Fragen des Ausdrucks geht es kaum, da versteht sich, wie er immer wieder betont, manches von selbst, während sich anderes im Augenblick des Konzerts ergibt und sich das Wesentliche ohnehin nonverbal, auch nicht über die Körpersprache vermittelt. Auffassungen solcher Art wurzeln in der Herkunft. Musikalisch aufgewachsen und zum Dirigenten geworden ist Haitink nach 1955 beim Concertgebouworkest Amsterdam, wo zehn Jahre zuvor der Übervater Willem Mengelberg nach einem halben Jahrhundert an der Spitze des Klangkörpers seinen Posten hatte räumen müssen. Mengelberg hatte sich nicht nur politisch korrumpiert, er war auch ausgeprägt romantischen Auffassungen von Interpretation verhaftet, was nach dem Zweiten Weltkrieg als inopportun galt. Dass Haitink als junger, suchender Musiker dazu auf Distanz ging und sich modernen Strömungen anschloss, liegt nahe.

Doch anders als der wenig ältere Pierre Boulez, der als Komponist die Avantgarde und als Dirigent die mit ihr verbundene Sachlichkeit vertrat, war Haitink immer auch ein hochemotionaler Musiker. Mit der skrupulösen Genauigkeit im Lesen des Notentextes und dem moderaten Einsatz der Ausdrucksmittel in dessen Formulierung verbinden sich bei Haitink ein inneres Glühen, ein Mitschwingen und ein Mitempfinden – mit einem Wort: eine vibrierende Empathie. Sichtbar wird sie nicht, sie öffnet sich ausschliessliche dem Hören und dem Mitgehen. Das war schon in den siebziger Jahren so, als Haitink in voller Vitalität dem Amsterdamer Concertgebouworkest als Chefdirigent vorstand und die Wiederentdeckung der Musik Gustav Mahlers als eigentlicher Antipode des überschäumenden Amerikaners Leonard Bernstein vorantrieb. Im hohen Alter des Dirigenten hat sich diese besondere Art der Innerlichkeit noch verstärkt. Denn hinzu traten nun das Charisma gelebten Lebens und der Reichtum der Erfahrung. Haitink dringt damit in Bereiche der Emotionalität vor, die nicht vielen Menschen offenstehen.

Mahlers Vierte

Das alles hat die Aufführung von Mahlers vierter Sinfonie in G-Dur, mit der das Eröffnungskonzert des Lucerne Festival im Sommer schloss, zu einem Moment von magischer Wirkung werden lassen. Tief berührend war das. Für den Dirigenten selbst dürfte der Auftritt ebenfalls eine besondere Dimension besessen haben, denn vor fast fünfzig Jahren, im Sommer 1966, hat Haitink am Pult des Schweizerischen Festspielorchesters in Luzern debütiert – und dabei hat er die Vierte Mahlers zur erstmaligen Aufführung in den Programmen des Festivals gebracht. Und nun das Lucerne Festival Orchestra, an dessen Pult er eineinhalb Jahre nach dem Tod seines Gründers Claudio Abbado trat, ganz ähnlich wie er es im Sommer 2000 getan hat, als er Abbado, der damals schwer erkrankt war, in den beiden Luzerner Konzerten der Berliner Philharmoniker vertreten hat. Für Rührseligkeit war allerdings kein Platz, das ist gerade nicht die Art Haitinks. Das verhinderte auch die ausserordentlich Virtuosität des Orchesters.

Keine Frage: Es ist je länger, desto weniger das Orchester Abbados. Viele der Musikerinnen und Musiker, die explizit aus Freundschaft zu Abbado mitgewirkt haben, sind nicht mehr dabei, die Cellistin Natalia Gutman etwa, der Kontrabassist Alois Posch oder die Klarinettistin Sabine Meyer. Ein besonderes Orchester ist es dennoch geblieben, denn das dem Wirken Abbados entstammende Mahler Chamber Orchestra bildet nach wie vor seinen Kern, und in einem Orchester sind Traditionen bekanntlich nicht an einzelne Mitglieder gebunden. Das war klar zu hören – beispielsweise in der ultraleisen Leichtigkeit, mit der die Celli und die Bässe ihre Sechzehntel-Bewegungen zu Beginn der Sinfonie Mahlers durchmassen, vor allem aber in dem unglaublichen Pianissimo, mit dem Orchester im dritten Satz aufwartete: vor dem explosiven Ausbruch kurz vor Schluss, der darum umso heftiger einfuhr, und im Verdämmern am Ende.

Überhaupt wurde deutlich, wie dieser langsame Satz das Zentrum des Werks bildet – jenseits der künstlichen, nämlich vorgespiegelten Naivität der Sinfonie, jenseits auch ihrer grotesken Brüche, die der Konzertmeister Gregory Ahss mit seiner umgestimmten Geige drastisch herausstellte, und somit jenseits dessen, was sich an diesem Stück als Ausdruck eines wie auch immer gearteten Humors wahrnehmen lässt. Haitink liess den Satz ganz rein erklingen, als ein Geschehen verdichteter, nach innen gewandter Emotionalität. Eindrücklich seine absolut stringente Tempodramaturgie. Langsam ging er den Satz an, wie er es schon im Kopfsatz getan hatte, sorgsam führte er die Tempoveränderungen ein, in aller Ruhe horchte er dem Geschehen nach. Ganz natürlich trat darum zur Trauer über das Vergehen der Zeit und die Endlichkeit eines jeden Daseins ein aus der Transzendenz erwachsender Trost. Grossartig, wie die junge deutsche Sopranistin Anna Lucia Richter im vierten und letzten Satz aufnahm, sich anverwandelte und weiterführte, was die Takte zuvor ausgelegt haben: mit leichter und doch körperreicher Tongebung, mit geschmeidiger und zugleich markanter Formung der Konsonanten wie strahlenden Vokalen und einem herrlichen Legato.

Erstaunlich auch, was sich vor der Pause ereignet hatte. Die Musik Joseph Haydns gehört weder zu den Schwerpunkten im Repertoire von Bernard Haitink, noch ist sie in den grossen Konzertsälen wirklich heimisch. Sie ist vielmehr längst von der historischen Aufführungspraxis absorbiert worden und hat durch sie, wenn auch in einer Nische, neue Konturen erhalten. Viel aus diesem Bereich des Musizierens war in der famosen Aufführung der Sinfonie in C-dur, Hob. I:60, durch das Lucerne Festival Orchestra vorhanden: die kleine Besetzung in deutscher Aufstellung, der sparsame, bewusste Einsatz des Vibratos, die nuancierte, bisweilen zugespitzte Artikulation, die nachdrückliche Zeichnung der einzelnen Gesten – Bernard Haitink steht zwar hoch in den Jahren, aber gleichwohl ganz am Puls der Zeit. Die sechs Sätze umfassende Sinfonie ist ja eigentlich eine Schauspielmusik; sie wartet denn auch mit derben Einfällen auf wie zum Beispiel dem Stimmen der Geigen kurz nach dem Beginn des rasanten Finales. Haitink spielte diese Effekte aus, blieb aber auch dabei nüchtern. Mehr Aufmerksamkeit schenkte er den eher impliziten, im Tonsatz versteckten Witzen – wie viel die Musik Haydns durch adäquate Interpretation gewinnt, an diesem Abend war es einmal mehr zu erfahren. Und Interpretation ist, auch, eine Frage von Persönlichkeit.

Neue Perspektiven

 Das ist es, was das Lucerne Festival Orchestra an seinem Pult braucht, soll es – nicht das Orchester Abbados, wohl aber jener besondere Klangkörper bleiben, zu dem es sein Gründer hat werden lassen: eine Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit wird der Mensch aber erst im Verlauf von Jahren. Darum hat die Begegnung mit einem ganz in sich ruhenden, ausstrahlungsmächtigen Dirigenten wie Bernard Haitink dem Orchester neue Perspektiven eröffnet. Seine Mitglieder sind allesamt so gut, dass jenes Quentchen, das ihnen der Dirigent voraus haben muss, erheblich und ausserdem nicht leicht zu finden ist. Michael Haaefliger, der Intendant des Lucerne Festival, scheint es nun aber doch gefunden zu haben.

Vom kommenden Sommer an wird Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra stehen; einen auf fünf Jahre ausgelegten Vertrag hat der 1953 in Mailand geborene Gewandhauskapellmeister und Musikdirektor der Scala soeben unterschrieben. Gut Ding will Weile haben, und diese Wahl ist ein gut Ding. Nicht nur werden hier Traditionen weitergeschrieben, war Chailly doch in frühen Jahren Assistent Abbados an der Scala. Es ist hier auch ein Dirigent angekündigt, der über ein äusserst scharfes Profil als Programmgestalter wie als Interpret verfügt. Das Orchester wird sich auf eine neue Ausrichtung einlassen müssen – aber auch können. Und dass Chailly in seinem ersten Konzert 2016 jene achte Sinfonie Mahlers dirigieren wird, die Abbado nachlassender Kräfte wegen nicht mehr zu bewältigen imstande war, dass er also den Luzerner Mahler-Zyklus Abbados vollenden wird, lässt sich eine schönere Hommage denken?