Peter Hagmann
Vitalität der Altersweisheit
Bruckners Achte und anderes mit Bernard Haitink
Einen «artiste étoile» gibt es diesen Sommer beim Lucerne Festival nicht, und auch die Residenzen sind offiziell auf die Komponistin Olga Neuwirth beschränkt. Indessen sind auch dieses Jahr mit dem Mahler Chamber Orchestra als Kern des Lucerne Festival Orchestra und mit dem Chamber Orchestra of Europe zwei Klangkörper aus dem Wirkungskreis Claudio Abbados so stark präsent, dass wenigstens inoffiziell von Residenzen die Rede sein darf. Gerade das 1981 gegründete Chamber Orchestra of Europe, es erscheint neben dem Lucerne Festival Orchestra und dem Orchester der Lucerne Festival Academy als eigentliches Hausorchester, das zusammen mit den beiden anderen Klangkörpern dem Lucerne Festival die Möglichkeit gibt, seine Abhängigkeit von den gastierenden Orchestern mit ihren Tourneeprogrammen zu reduzieren und auf eigene Produktionen zu setzen. Zwei Konzerte hat das Chamber Orchestra of Europe im Rahmen des Erlebnistages zum Thema «PrimaDonna» mit jungen Dirigentinnen gespielt, für zwei weitere ist der Altmeister Bernard Haitink ans Pult gerufen.
Haitink wiederum hat zusätzlich zu den beiden Auftritten mit dem Chamber Orchestra of Europe an zwei Abenden die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner dirigiert, dies im zweiten Programm des Lucerne Festival Orchestra – er dürfte sich also mit Fug und Recht als «artiste étoile» sehen. Und dies umso mehr, als der inzwischen 87-jährige Dirigent vor genau fünfzig Jahren zum ersten Mal am Luzerner Festival aufgetreten ist und diesen Sommer, genauer: am 19. August, das Jubiläum seines fünfzigsten Konzertauftritts feiern konnte. Zögerlich hatte es angefangen mit zwei Auftritten am Pult des Schweizerischen Festspielorchesters 1966 und 1968. Und mit Mahlers Vierter sowie Bruckners Neunter, womit zwei Schwerpunkte in Haitinks Repertoire markiert waren. In den Jahrzehnten darauf, als Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouworkest, erschien er nur drei Mal, doch als Michael Haefliger zum Luzerner Steuermann wurde, kam es bald zu jenen alljährlichen Auftritten Haitinks, ohne die ein Luzerner Sommer keiner wäre.
Dabei setzten sich die Schwerpunkte bei Bruckner und Mahler fort, zeigte sich aber durchaus auch die Weite von Haitinks Repertoire, das zu Haydn zurückgeht, aber auch Bartók, Schostakowitsch und Strawinsky umfasst. Eine Intensivierung ergab sich ab 2008, als das Chamber Orchestra of Europe zum ständigen Partner Haitinks wurde. Mit diesem Orchester der neuen Art unterzog Haitink seine ästhetischen Auffassungen noch einmal einer gründlichen Überprüfung; Mozart, Beethoven, Schumann, Brahms, schliesslich Schubert – alles wurde neu erkundet. Und das in einem Altersstil, der sich ganz und gar der Gegenwart zuwendet, sich den Tendenzen zu leichter Diktion, hellem Klang und Transparenz des Stimmengeflechts öffnet. Haitink ist nicht nur ein Mann von eiserner Disziplin, was ihm erlaubt, bis ins allerhöchste Alter aktiv zu bleiben. Er hat sich auch seine geistige Regsamkeit bewahrt, nimmt aufmerksam das Geschehen rund um ihn wahr und macht sich zu eigen, was ihn davon interessiert.
Ein Beispiel dafür gab es in jenem schönen Programm, das ausschliesslich Antonín Dvořák gewidmet war. Im Kopfsatz der neunten Sinfonie, «Aus der Neuen Welt», liess Haitink die Exposition wiederholen, was in der Partitur steht, aber von den Dirigenten traditionsgemäss ignoriert wurde. Die Wiederholung sei ohnehin optional, und mehr als das: bei den bekannten Stücken aus dem Kern des Repertoires sei sie überflüssig. Mit ihrem neuartigen Bezug zu den Notentexte hat die historische Aufführungspraxis auch diesbezüglich einiges zurechtgerückt, der Verzicht auf die Wiederholung gilt heute nicht mehr als zeitgemäss. Dass das inzwischen auch bei Dvořák seine Gültigkeit hat und selbst bei einem Renner wie dessen Neunter, dass es zudem von einem sehr alten, aber äusserst vitalen Herrn postuliert wurde – das war nun doch eine kleine Überraschung.
Auch darüber hinaus fehlte es nicht an Glanzlichtern. Das Chamber Orchestra of Europa erschien in kleiner Besetzung, weshalb die Neue Welt in keinem Augenblick pathetisch oder, schlimmer noch, knallig klang. Mit Clara Andrada verfügt das Orchester ausserdem über eine Soloflötistin von sensationell brillantem Ton und mit Kai Frömbgen über einen Oboisten, der nicht nur kernig, sondern auch sehr leise zu spielen vermag. Vor allem aber bilden die beiden ein Duo, das den Klang grossartig verschmelzen, aber auch äusserst subtil abzufärben weiss. Bei Dvořák werden musikalische Einfälle ja nicht selten mehrere Male gezeigt, und wie hierbei die Wiederholungen klanglich differenziert wurden, wie das eine Mal die Flöte die Farbe gab, das andere Mal die Oboe, das war ein Erlebnis der besonderen Art. Haitink gehört zu jenen Dirigenten, die einem Orchester sehr genau zuhören; so versteht sich, dass er dies Angebot aus dem Kreis der Holzbläser gerne annahm. Etwas weniger inspiriert wirkten «Die Mittagshexe», eine Sinfonische Dichtung von verhältnismässig geringem Raffinement, und das Cellokonzert in h-moll, weil da mit Alisa Weilerstein eine junge Solistin beteiligt war, die soliden amerikanischen Stil bot und die in der ihrer Auslegung des Soloparts hinter dem zurückblieb, was sie als Potential zu erkennen gab.
Und dann: Bruckners Achte mit dem Lucerne Festival Orchestra. Auch hier eine Überraschung insofern, als nicht wie gewohnt Jacques Zoon die Soloflöte spielte, sondern Chiara Tonelli, die gewöhnlich die zweite Position besetzt. Die sich hier aber als eine absolut ebenbürtige, klanglich blendend präsente Solistin erwies. Bei Bernard Haitink, dem die Musikerinnen und Musiker am Ende fast demonstrativen Beifall spendeten, scheint sich das Orchester aufgehoben zu fühlen. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn so wie Claudio Abbado gesagt haben soll, am liebsten möchte er nach dem ersten Schlag verschwinden und die Musik aus sich selber heraus entstehen lassen, so scheint Haitink das musikalische Geschehen eher zu beobachten als zu lenken. Das ist natürlich Trug, denn was er aus seiner immensen Erfahrung und seinem vibrierenden inneren Erleben heraus ans Orchester übermittelt, ist einzigartig. Wie er die Bögen spannt, wie er die enorm weit ausgelegten Verläufe als solche fühlbar macht, wie er ausserdem die Gesten Bruckners in ganzer Grösse zeigt, dabei aber jede Monumentalität vermeidet, vielmehr Atmen und Pulsieren spüren lässt – das gibt es so nur bei ihm. Und was sich dabei an orchestraler Qualität einstellte, besonders etwa bei den Einsätzen der vier Wagner-Tuben, sucht weitherum seinesgleichen.