Besser hören – bei Brahms

Die beiden Klavierkonzerte mit András Schiff und dem Orchestra oft the Age of Enlightenment

 

Von Peter Hagmann

 

Von Johannes Brahms ist bekannt, dass er die Art, in welcher der Dirigent Felix Weingartner seine Musik zum Klingen brachte, besonders schätzte. Der leichte, transparente Klang, den Weingartner bei Brahms pflegte, hatte es dem Komponisten angetan. Inzwischen kann man sich das kaum mehr vorstellen. Wer Karajan im Ohr hat oder Abbado, der kennt den kraftvollen, festgefügten Ton, der bei Brahms heute die Regel ist. Nur wenige Dirigenten unserer Zeit haben auf diesem Feld nach neuen Wegen gesucht, Günter Wand zum Beispiel oder, besonders folgenreich, Nikolaus Harnoncourt, in seinen späten Jahren auch Bernard Haitink. Ganz langsam hat sich das Brahms-Bild zu wandeln begonnen.

Anteil daran nimmt auch András Schiff. Nachdem der Pianist schon bei seiner wegweisenden Gesamtaufnahme der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens aus den Jahren 2004 bis 2006 zwei Flügel verwendet hatte, sowohl den gebräuchlichen Steinway als auch den leider nicht sehr verbreiteten Bösendorfer, wandte er sich zunehmend Instrumenten aus der Entstehungszeit der von ihm interpretierten Kompositionen zu – und dezidiert vom Steinway ab. Für die «Diabelli-Variationen» Beethovens oder die Klaviersonaten Franz Schuberts liess er sich gar auf Hammerflügel ein.

Nun also Brahms, und zwar die beiden Klavierkonzerte in d-Moll von 1854 und B-Dur von 1881, für deren Aufführung Schiff einen Blüthner-Flügel von zirka 1859 beigezogen hat. Und nicht nur das. Begleiten lässt er sich von Orchestra of the Age of Enlightenment, einer profilierten Formation aus dem Bereich der Originalklangszene. Dirigent braucht es da keinen; die Mitglieder des englischen Klangkörpers wirken, wie es in vielen Projektorchesters üblich ist, aus einem emanzipierten Selbstverständnis heraus. Und die Besetzung mit zehn Ersten Geigen und insgesamt fünfzig Musikern bleibt so überschaubar, dass Schiff am Flügel und die Konzertmeisterin Kati Debretzeni das Ensemble im Griff zu halten vermögen. Koordinationsprobleme treten jedenfalls in keinem Moment auf.

Das Orchestra of the Age of Enlightenment spielt auf sogenannt alten Instrumenten. Die Streicher etwa verwenden Darmsaiten, die Hornisten Instrumente ohne Ventil. Das ergibt insgesamt einen obertonreicheren, trennschärferen, klarer zeichnenden Klang als bei Orchestern in herkömmlicher Besetzung. Geringer bleibt die Lautstärke; die Instrumente des 19. Jahrhunderts waren nicht für die grossen Konzertsäle heutiger Zeit mit 2000 und mehr Sitzplätzen gedacht. Die Musikerinnen und Musiker können denn auch nach Massen aus dem Vollen schöpfen, ohne dass sich jene Wucht einstellt, die Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern und Maurizio Pollini mit seinem metallischen Fortissimo erzielt haben. Wobei zu sagen ist, dass dieses Klangbild durchaus und nach wie vor über Wirkung wie Berechtigung verfügt. Nach Rom führen viele Wege.

András Schiff freilich meidet diesen Pfad. Alles andere als ein Vertreter donnernder Kraftentfaltung, hat er auch in seiner frühen Aufnahme des d-Moll-Konzerts mit Georg Solti und den Wiener Philharmonikern die lyrischen Seiten Brahms’ betont – und so leuchtet ein, dass er für die soeben bei ECM erschienene Einspielung der beiden Brahms-Konzerte diesen sehr charakteristischen Blüthner-Flügel aus der Entstehungszeit des ersten Konzerts gewählt hat. Mit klaren Worten begründet er im Booklet diese Entscheidung. Tatsächlich verfügt das Instrument – das sich damit ideal mit der Sonorität des Orchesters verbindet – über ein ausgebautes Obertonspektrum. Zudem sind die Register des Flügels nicht konsequent einander angeglichen, sie führen vielmehr ihr je eigenes Leben, was die musikalischen Verläufe in bisweilen frappanter Weise auszeichnet.

Zu den Instrumenten treten die Spielweisen. Das Orchester spielt mit nuanciertem Vibrato. Und bisweilen erlaubt es sich ein gut hörbares Portamento, jenes Gleiten vom einen Ton zum anderen, das noch bis ins frühe 20. Jahrhundert zu den gebräuchlichen Ausdrucksmitteln gehörte, heute aber verpönt ist. Schiff selbst gibt sich diesbezüglich etwas zurückhaltender – anders als auf der wunderschönen Aufnahme der beiden Klarinettensonaten von Brahms mit Jörg Widmann, wo der Pianist in reichem Masse Ausdrucksmittel des 19. Jahrhunderts zur Geltung kommen lässt (vgl «Mittwochs um zwölf» vom 07.10.20). Dennoch: Wie Schiff in den beiden Konzerten die Klangballungen schlank bleiben lässt, wie er mit geschmeidigen Rubato die Musik zum Schwingen und Sprechen bringt, wie er das Geschehen durch sorgfältige Artikulation belebt, allein schon das sichert dieser Aufnahme ihren herausragenden Rang.

Dazu kommt, weil der Orchesterklang so enorm Masse durchhörbar bleibt, eine neuartige Beziehung zwischen Solo und Tutti – ein Freiraum, den András Schiff mit jener Wachheit und jener Phantasie nutzt, die sein Künstlertum seit je auszeichnen. Wer erfahren möchte, was sich in den beiden Klavierkonzerten von Johannes Brahms alles verbirgt, sollte zu dieser Einspielung greifen. Überraschende Hörerfahrungen sind garantiert.

Johannes Brahms: Klavierkonzerte Nr. 1 in d-Moll, op. 15 (1854), und Nr. 2 in B-Dur, op. 83 (1881). András Schiff (Klavier, Blüthner 1859, und Leitung), Orchestra of the Age of Enlightenment. ECM 4855770 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021).

Brahms zum Singen gebracht – von Jörg Widmann und András Schiff

 

Von Peter Hagmann

 

Ein wundervolles Album ist das, reich an Poesie, getragen von dichter Atmosphäre, musikalisch auf höchstem Niveau. Ein Album, wie es in Zeiten des Streamings als Ausdruck bewusster Programmgestaltung leider wenig zur Geltung kommt, wie es aber bei ECM unentwegt produziert wird. Die Anlage ist denkbar einfach: Jörg Widmann mit seiner Klarinette und András Schiff am Klavier spielen die beiden späten Klarinettensonaten op. 120 von Johannes Brahms, dazwischen setzt Schiff die fünf Intermezzi für Klavier in Klang, die Widmann, bekanntlich Komponist wie Interpret, 2010 zu Papier gebracht hat.

Aufgeschrieben hat Widmann, was ihn als Nachklang an Musik von Brahms begleitet und was er dann weitergedacht hat. So wie es Wolfgang Rihm tat, als er 2011/12 im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters seine Assoziationen an die vier Sinfonien Brahms’ in vier kurze Orchesterstücke mit dem Titel «Nähe Fern» einfliessen liess. Brahms’ Musik kann einem nicht nur sehr nahegehen, sondern eben auch lange und nachhaltig im Ohr bleiben, das weiss die Zuhörerin so gut wie der Musiker. In seinen Intermezzi – der Titel schliesst an Brahms’ späte Intermezzi op. 117 an – lässt sich Widmann von Gesten und strukturellen Verfahren aus der musikalischen Handschrift Brahms’ anregen. Gleich das erste, ohne Bezeichnung versehene Stück, zeugt davon; eine knappe Minute lang lebt es von einem kleinen, drei Mal in absteigender Folge wiederholten Motiv und der kontrapunktischen Antwort darauf. Was András Schiff aus dieser Miniatur (und aus den darauf folgenden) macht, schon allein das lässt staunen.

Vollends gilt das für die Auslegung der beiden Klarinettensonaten. Sie werden in umgekehrter Reihenfolge präsentiert: die melancholische Nummer zwei in Es-dur erscheint auf der CD an erster Stelle, die etwas offenere erste in f-moll mit ihrem volkstümlichen Allegretto im Dreivierteltakt und ihrem spritzigen Finale zum Ausklang. Das wirkt vom Spannungsverlauf her plausibel, widerspricht jedoch den biographischen Umständen. Durch die Begegnung mit dem seinerzeit ausserordentlich berühmten Klarinettisten Richard Mühlfeld, von dessen Spiel sich der Komponist verzaubern liess, kam Brahms noch einmal zu einem letzten Schaffensschub, der freilich bald wieder in düstere Gefilde führte. Mit welcher Sensibilität Schiff und Widmann diese Musik in die Hand nehmen, lässt keine Wünsche offen. Mit dunklem, jederzeit geschmeidigem Ton wartet der Pianist auf, weite Bögen und sanfte Artikulation bringt der Klarinettist ein, und beides geschieht in vollkommener Übereinstimmung.

Ganz besonders gelungen ist in dieser Aufnahme die zarte Es-dur-Sonate op. 120 Nr. 2. Beide Musiker sind eben Meister des Leisen, und genau das ist hier gefragt. Hauchzart das Pianissimo, zu dem Jörg Widmann in der Lage ist – ein Pianissimo, das sich vom Piano noch durchaus abhebt. Und in weicher, sinnlicher Kantabilität gehalten das Dolce, das András Schiff seinem von der Bauart her perkussiven Instrument entlockt. Auch in diesem Stück hat der Pianist immer wieder so vollgriffig zu wirken, wie es nun einmal zu Brahms gehört – nur geschieht das hier ohne jeden Lärm, ohne jeden Druck, sondern in schlanker Schönheit des Tons. Und in aller Klarheit der Stimmführung; das Kontrapunktische im Klaviersatz arbeitet Schiff sehr schön heraus, so dass es selbst in dem wie ein Monolog angelegten Kopfsatz dieser Sonate zu lebhaftem Dialog mit Widmann kommt. Nicht zuletzt lässt sich auch in dieser Aufnahme erleben, mit welch diskreter Selbstverständlichkeit Schiff Spielmanieren des späten 19. Jahrhunderts pflegt, das Vorschlagen der Basstöne etwa, das leichte Arpeggieren oder die Simulation einer dynamischen Steigerung durch eine Modifikation des Tempos. Das alles belebt den leisen Ton in hinreissender Weise.

Johannes Brahms: Die zwei Klarinettensonaten op. 120, Jörg Widmann: Intermezzo. Mit Jörg Widmann (Klarinette und András Schiff (Klavier). ECM 4819512. CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020.

Igor Levit in Luzern

 

Peter Hagmann

Für Dresden, gegen Leipzig

Bachs Goldberg-Variationen mit Igor Levit beim Lucerne Festival

 

Uns Heutigen gilt er als der Thomaskantor – aber in Leipzig, wo er von 1723 bis an sein Lebensende 1750 gewirkt hat, ist es Johann Sebastian Bach denkbar schlecht ergangen. Natürlich hat er in den Anfängen seiner Leipziger Zeit in einem unvorstellbaren Furor des Schaffens drei Jahreszyklen an Kantaten geschrieben (und zur Aufführung gebracht), hat er dazu zwei grosse Passionen geschaffen und im Café Zimmermann seinen Ruf als Dirigent eines blendenden Kammerorchesters gemehrt. Aber er litt nachhaltig unter Spannungen mit seinen Vorgesetzten, die von Musik nichts verstanden, ihm aber ästhetische Vorgaben machten, seine Dienstwohnung eng und laut, und die Schüler der Thomasschule wollten an den Projekten ihres Kantors partout nicht ordentlich mitwirken. So erstaunt nicht, dass Bach mit einigen Hintergedanken nach Dresden blickte, wo es einen kurfürstlichen Hof und reichlich Mittel für die Musik gab und wo, vor allem, sein Sohn Wilhelm Friedemann zum Organisten an die Sophienkirche berufen worden war.

Der Bass als des Pudels Kern

Allerdings, der Dresdener Geschmack war ganz und gar anders gelagert als der in Leipzig. In Dresden gaben die Italiener mit ihrer Oper den Ton an und mit ihnen die deutschen Musiker, die auf dieses Pferd gesetzt hatten. Up to date war die Gesangslinie mit ihrer homophon gedachten Begleitung, während die Kunst des Kontrapunkts, wie sie Bach Vater vertrat, für eine vergangene Zeit stand. Bach freilich, er konnte nicht anders – die Goldberg-Variationen zeugen davon. Wie genau es zu diesen dreissig Variationen über ein vergleichsweise simples Thema (respektive über eine relativ einfache Abfolge von Bass-Schritten) gekommen ist, ist nicht bekannt. Es gibt die Legende von dem mit dem Kurfürstlichen Hof in Dresden verbundenen Reichsgrafen von Keyserlingk, der unter Schlaflosigkeit gelitten haben und als Mittel dagegen die Goldberg-Variationen erhalten haben soll – nur war der Cembalist, der neben dem reichsgräflichen Schlafzimmer die hochkomplexe Musik Bachs aus den frühen 1740er Jahren gespielt haben soll, zu jener Zeit noch ein Kind. Das ist nur eine von vielen Unklarheiten, die sich um dieses Werk ranken.

Dass die Goldberg-Variationen mit Dresden zu tun haben, mithin als leuchtender Edelstein kontrapunktischer Kunst in einem auf die Monodie fokussierten Umfeld empfunden werden können, steht freilich fest. Bach selbst spielt mit diesem Spannungsfeld, und dies an mehr als einer Stelle. Und fast hat es den Anschein, als hätte Igor Levit mit seiner Auslegung der Goldberg-Variationen im Rahmen des Luzerner Klavierfestivals genau das unterstreichen wollen. Schon die Aria, die zu Beginn das Thema vorgibt und am Ende die symmetrische Klammer bildet, deutete das bei ihm an – insofern nämlich, als die Oberstimme stets deutlich führende Melodie blieb, während die linke Hand aus dem Hintergrund heraus einen begleitenden Bass und etwas Harmonie beifügte. Das war bei András Schiff vor Jahresfrist ähnlich, nur hat Schiff in den Wiederholungen, die auch Levit ausführte, den Bass jeweils ganz leicht hervorgehoben – zum Zeichen dafür, dass es ja justament der Bass ist, der hier des Pudels Kern bildet.

Denn gleich bleibt in den dreissig Veränderungen, die der eröffnenden Aria folgend, der Bass: die Goldberg-Variationen als eine riesige, knapp eineinhalb Stunden dauernde Passacaglia. Das zu schultern, ohne unter der Last zusammenzubrechen, ist schon eine Tat. Igor Levit, dem noch nicht dreissigjährigen Pianisten aus Nischni Nowgorod, der seine Wurzeln aber klar in der deutschen Kultur hat, gelang das ganz ausgezeichnet – und dies trotz dem einschüchternd definitiven Statement, das András Schiff im Herbst 2015 im Konzertsaal des Luzerner KKL zu den Goldberg-Variationen abgegeben hat. Während Schiff das Wechselspiel der musikalischen Linien, die sich viefältigst miteinander verschlingen und äusserst vielgestaltig aufeinander reagieren, mit seiner einzigartigen Erzählkraft zum Leben brachte, schien Levit die Goldberg-Variationen eher als ein sehr unmittelbares Dokument aus dem bewegten Lebens Bachs zeigen zu wollen.

Mit dem geschmeidigen Laufwerk auf der Ebene der Sechzehntel und dem eleganten Non-Legato auf jener der Achtel betonte Levit in der ersten Variation das Element des Konzertanten, das bei Vivaldi anschliesst und in Dresden besonders geschätzt wurde. Überhaupt sparte der Pianist nicht mit dem Effekt des Virtuosen, mit der perlenden Geläufigkeit und dem behenden Überkreuzen der Hände – dies allerdings da und dort zu Lasten der satztechnischen Klarheit. Vor allem in jenen raschen Stücken, für deren Ausführung eigentlich zwei Manuale erforderlich wären, ging das Geschehen gern in Klangwolken unter, was den Intentionen des Komponisten widerspricht, denn bei aller Neigung zum modernen Dresdener Still ist Bach doch stets Kontrapunktiker geblieben. Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr spitzte sich das zu – bis hin zu den Variationen ab der Nummer 23, die mit durchbrochenem Satz arbeiten und die in den Tempi und im Pedalgebrauch Levits unverständlich blieben.

Das mag auch eine Frage der Erfahrung sein, nicht zuletzt der Vertrautheit mit dem Luzerner Konzertsaal. Igor Levits CD-Aufnahme der Goldberg-Variationen – Teil jener grandiosen, auch grandios gewagten Dreierbox, die ausserdem die Diabelli-Variationen Beethovens und «The People United Will Never Be Defeated» des Amerikaners Frederic Rzewski enthält –, Levits Aufnahme zeigt, dass im Studio die reine Makellosigkeit herrschte und die Transparenz jederzeit gegeben war. Anders als im Luzerner Konzert bilden auf der CD diese Stücke der blitzenden Lineatur das ebenbürtige Gegengewicht zu den Variationen, in denen Bach die Monodie, aber auch die damals moderne Strömung der Empfindsamkeit aufnimmt. Gerade die empfindsamen Variationen gerieten im Luzerner Konzert zu Momenten entrückter Schönheit. Mit Mut zum lauschenden Verfolgen der musikalischen Verläufe, mit Vorstellungskraft und Atem versenkte sich Levit etwa in die Nummern 13 und 15, nach denen er, die Mitte des Zyklus markierend, eine grosse Pause machte, um dann die französische Ouvertüre der Nummer 16 mit federnder Punktierung anzugehen.

Interpretation als deutender Akt

Unter den Händen Igor Levits erschienen Bachs Goldberg-Variationen somit weniger als das Monument der kontrapunktischen Kunst, das sie zweifellos sind. Vielleicht ungewollt, aber doch deutlich wahrnehmbar liess der Pianist in seiner Deutung vielmehr das um 1740 Moderne heraustreten. Als ob Bach mit den Goldberg-Variationen hätte in Erinnerung rufen wollen, dass er als Thomaskantor den Kontrapunkt wie kein Zweiter beherrsche, dass er sich in den neueren Gestaltungsweisen aber nicht weniger auszudrücken wisse. Interpretation als deutender Akt ist das, explizit und angreifbar zugleich. Jedenfalls gab der Abend ebenso viel Anregung wie Hörgenuss – kein Wunder bei einem Pianisten, der nicht nur technisch und musikalisch für höchstes Niveau steht, sondern seinem Gegenüber auch als hellwacher Kopf begegnet. Dass Igor Levit seines jugendlichen Alters zum Trotz zu den bedeutendsten Erscheinungen in der anhaltend lebendigen Welt des Klaviers gehört, hat sich an diesem einzigartigen Abend beim Lucerne Festival erneut bestätigt.

Lucerne Festival am Piano (1)

 

Peter Hagmann

Konstruktive Kunst, vitale Erzählung

András Schiff spielt Bachs «Goldberg-Variationen»

 

Ob man Musik verstehen müsse, um sie geniessen zu können – das ist in diesem Fall mehr als anderswo die Frage. Bei den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs liegt der Reiz ja darin, dass die insgesamt 32 Teile über einen stets gleichbleibenden Bass von 32 Tönen eine Summe dessen bieten, was in der Mitte des 18. Jahrhunderts als späte Frucht langer Entwicklungen an satztechnischem Raffinement möglich war. An höchststehender musikalischer Konstruktion also, die man umso mehr bewundern kann, je tiefer man in ihre Geheimnisse eindringt. Das ist der Grund dafür, dass András Schiff, wenn er die «Goldberg-Variationen» vorträgt, den Abend bisweilen zweiteilt. In einem ersten Teil führt er erläuternd, nämlich sprechend und spielend, durch die Komposition –wie er es im Ansatz schon im Booklet zu seiner CD-Aufnahme von 2001 getan hat. Im zweiten Teil des Abends trägt er dann das Werk vor. So hat er es etwa in der Alten Oper Frankfurt getan, die den «Goldberg-Variationen» vor gut zwei Monaten ein ganzes zweiwöchiges Festival gewidmet haben.

Vielleicht wäre die Eröffnung der Klavierwoche, die das Lucerne Festival wie jeden Herbst zur Zeit durchführt, noch eine Spur konkreter geworden, wenn der konstruktive Reichtum der «Goldberg-Variationen» etwas direkter ans Licht gehoben worden wäre; denkbar, dass eine stichwortartige Verlaufsskizze dienlich gewesen wäre – dies nicht anstelle von, sondern als Ergänzung zu dem wiederum sehr schönen Text von Wolfgang Stähr im Programmheft. Aber möglicherweise hat das Festival auch Recht, wenn es András Schiff die «Goldberg-Variationen» ohne Vermittlung durch das Wort darbieten lässt. Und ihm dafür die Gelegenheit bietet, vor den 75 Minuten des zweiten Teils eine Ergänzung zu bieten, die in ihrer Weise einen aufschlussreichen Horizont bildet. Schiff spielte nämlich das Italienische Konzert in F-dur und die Französische Ouvertüre in h-moll, mithin den zweiten Teil der von Bach selbst zusammengestellten und zum Druck gebrachten «Klavier-Übung». Ihren vierten Teil bilden wiederum die «Goldberg-Variationen» – in denen vieles anklingt, was im Italienischen Konzert und in der Französischen Ouvertüre prächtig vorgeformt ist.

Wenn András Schiff die «Goldberg-Variationen» spielt, sein erklärtes Lieblingsstück, wird das mehr als ein Konzert, es gerät zu einem gemeinschaftlichen Erleben mit einem Zug ins Spirituelle. Nicht zuletzt geht das auf die unglaubliche Verbundenheit des Interpreten mit der von ihm dargebrachten Musik zurück – nicht nur auf seine Identifikation, nicht nur auf seine Einlässlichkeit im Moment, sondern vor allem auf das Mass, in dem er sich diesen unvergleichlichen Notentext zu eigen gemacht hat. In jedem Winkel dieser klingenden Kathedrale kennt er sich aus – inzwischen so gut, dass bisweilen die Befürchtung aufkommt, das Werk könnte unter seinen Händen doch zum Denkmal und zum Bildungsgut erstarren. Indes verfügt András Schiff noch über einen derartigen Vorrat an Phantasie, Spontaneität und Entflammbarkeit, dass man ihm hingerissen auf dem Spaziergang durch diese zehn Mal drei Veränderungen über die zu Beginn und am Ende erklingende Aria folgt.

Diese Aria gibt er mit jener ausdrucksvollen Einfachheit, wie sie nur ihm zu Gebote steht. Sie ist in der Oberstimme ja schon sehr verziert, was das Ohr gefangen nimmt – und was der Interpret nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich fördert: durch seine Kunst, die Verzierungen flexibel in den Verlauf einzubauen und sie in der Ausformung subtil zu nuancieren. Im jeweils zweiten Durchgang der beiden Teile – Schiff lässt keine der Wiederholungen aus – hebt er die Dynamik der linken Hand jedoch um ein Weniges an, auf dass der Bass als das Fundament des Ganzen ins Bewusstsein rücke; einleuchtend, geschickt und fern jeder Belehrung ist das. Ebenso diskret, in der Wirkung aber noch weit frappierender die Massnahme, die Schiff am Ende ergreift, wenn die Aria ein zweites Mal erklingt und den Bogen der Variationen zum Abschluss bringt. Im Gegensatz zu der üblichen Praxis, dass ein Abschnitt eines Werks im zweiten Durchgang ausgeziert wird, lässt er hier in den Wiederholungen alle nicht explizit niedergeschriebenen Verzierungen weg, weshalb die Aria zum Schluss bar jeder Verschönerung, gleichsam in der Urgestalt erscheint. Das war stark als Einfall, aber auch als Ausdruck jener Symmetrie, die Bach, dem vom Barock geprägten Menschen, so viel bedeutete.

In seiner Einfachheit bildete das den krönenden Abschluss einer ganzen Reihe interpretatorischer Glanzlichter. Das Laufwerk der Sechzehntelketten in den vom Geist der Toccata erfüllten Stücke nahm András Schiff mit ausgeprägter Lust an der blitzenden Geläufigkeit und am virtuosen Effekt der gekreuzten Hände. Wobei hier bisweilen Vorbehalte aufkamen, weil da und dort die Erinnerung an den Nähmaschinen-Bach der Nachkriegszeit nicht zu unterdrücken war. In den imitierenden Stücken wiederum hob der Pianist die Kanonbildungen ohne ein Übermass an Unterstreichung hervor; wer wollte – und nicht alle wollten, wie Abgänge aus dem Publikum erwiesen –, konnte die Reden und Gegenreden der sich in unterschiedlichen Abständen verfolgenden Stimmen sehr genau nachvollziehen. Höhepunkte stellten aber jene drei Variationen in g-moll dar, die als einzige Teile von dem sonst durchgehenden G-dur abweichen. In der ersten Variation dieser Art, der in der Mitte stehenden Nummer 15 mit ihrem Kanon im Abstand einer Quarte, zeigte Schiff, wie sehr Bach, der bei aller rauschenden Sinnlichkeit doch klar im konstruktiven Denken verankerte Kontrapunktiker, an der Weiterung der Musik in die Bereiche des Empfindsamen Anteil nahm.

Das Ganze kam in jenem hellen Ton daher, den András Schiff seinem Flügel entlockt, und in der leuchtenden Transparenz, die sein leichter, auch im Nonlegato geschmeidiger Anschlag erzeugt. Bei Schiff kommt die Musik Bachs zu einer sprechenden Fasslichkeit ganz eigener Art, und das seit langem, seit der Aufnahme der zwei- und dreistimmigen Inventionen (1983) und der ersten Einspielung des Wohltemperierten Klaviers (1986). Zugleich herrschen aber eine Fokussierung auf die Musik selbst und ein (natürlich nur scheinbares) Zurücktreten des Interpreten als deutendes Subjekt, dass man geradezu von einem modernen Ansatz sprechen möchte. Unter den Händen von András Schiff löst sich dieser Widerspruch in einer packenden Synthese auf. Die Luzerner «Goldberg-Variationen» sprachen davon – jenseits der Frage nach dem Verhältnis zwischen Verstehen und Geniessen.