Das Fordernde als Attraktion

Salzburger Festspiele:
Opern von Weinberg, Prokofjew und Offenbach

 

Von Peter Hagmann

 

Bogdan Volkov als Fürst Myschkin – als «Der Idiot» kurz vor seinem epileptischen Anfall / Bild Bend Uhlig, Salzburger Festspiele

Als einen Ort für die Reichen und die Schönen, ach ja, so sieht Volkes Mund hie und da die Salzburger Festspiele. Ganz falsch ist es nicht, wenn für einen Platz der besten Kategorie in, sagen wir «Don Giovanni», 465 Euro fällig sind (Taylor Swift kann hier ausgeklammert werden) und wenn sich auf das Ende der Vorstellungen hin die Limousinen der höchsten Preisklasse zusammen mit ihren Chauffeuren in Reih und Glied gestellt haben. Allein, das ist bloss die eine Seite; die andere Seite weiss, dass es auch, und gar nicht wenige, preisgünstigere Angebote gibt und dass sich mit einer Eintrittskarte ein grosses Zeitfenster lang vor und nach dem Anlass der Öffentliche Verkehr im Salzburger Verbund kostenlos benutzt werden kann.

Vor allem aber ist nicht zu vergessen, dass es bei den Salzburger Festspielen der Kunst gilt, der grossen Kunst. Unglaublich umfangreich, vielgestaltig in der Werkauswahl und höchststehend in den Interpretationen präsentiert sich das Konzertprogramm; es reicht von der Ouverture spirituelle des Beginns über die fünf bis zu dreifach geführten Sinfoniekonzerte der Wiener Philharmoniker und die thematischen Schwerpunkte (dieses Jahr wurde die «Zeit mit Schönberg» verbracht) bis hin zu den Kammerkonzerten, den Liederabenden und den solistischen Auftritten – und immer wieder ergeben sich Glücksmomente der besonderen Art (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.08.24).

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch die Oper. Sie trat diesen Sommer mit drei Neuinszenierungen, einer Wiederaufnahme sowie nicht weniger als fünf konzertanten Aufführungen in Erscheinung. Das späte «Capriccio» des Festival-Mitbegründers Richard Strauss eröffnete den Reigen der Opern auf dem Konzertpodium, worauf «Hamlet» von Ambroise Thomas erschien, hier mit Stéphane Degout, dem Grandseigneur des französischen Gesangs. Schliesslich gab es reichlich Zeitgenössisches: «Koma» von Georg Friedrich Haas, einen Doppelabend mit Luigi Dallapiccola und Luigi Nono, das «Begehren» von Beat Furrer, das Anfang September auch zum Lucerne Festival kommt.

«Der Idiot»

Auch im Kernbereich des Angebots herrscht alles andere als kulinarisches Wohlgefühl. Neben der überarbeiteten Wiederaufnahme des ebenso anregenden wie unbequemen «Don Giovanni» von 2021 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21) und «La clemenza di Tito», einer weiteren Mozart-Produktion als Übernahme von den Pfingstfestspielen, gab es überaus anspruchsvolle Kost. Den Höhepunkt bildete fraglos «Der Idiot» von Mieczysław Weinberg. Der polnische Komponist jüdischen Glaubens (1919-1996), der 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen nach Minsk und Taschkent flüchten musste und sich 1942 in Moskau niederliess, teilte anfangs das Schicksal seines engen Freundes Dmitri Schostakowitsch, schuf in den wechselvollen Jahren der Sowjetunion und später Russlands jedoch ein weit ausholendes Œuvre. Heute ist es so gut wie vergessen. Seine Oper «Der Idiot» nach dem Roman Fjodor Dostojewskis und auf ein Libretto Alexander Medwedews stellte er 1987 fertig. Uraufgeführt wurde sie 1991 in Moskau, dies jedoch in einer kammermusikalischen Fassung. In der vollen Orchesterbesetzung kam «Der Idiot» erst 2013 im Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung; Initiant und Dirigent war damals Thomas Sanderling. Eine zweite Produktion gab es zehn Jahre später beim Theater an der Wien. Salzburg folgte nun mit der dritten und, so darf man wohl sagen, folgenreichsten Inszenierung.

Ein unerhört eindrucksvolles Werk, es steht auf Augenhöhe mit den grossen Opern des 20. Jahrhunderts – dass es bei den Salzburger Festspielen in einer so vorbildlichen Produktion gezeigt worden ist, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Allerdings, leicht macht es das vierstündige Stück weder dem Zuhörer noch der Zuschauerin. Dostojewskis Roman bildet hochkomplexe Verästelungen aus und spart nicht mit Personal, Medwedew hat geschickt eingedampft, kann die ziselierte Struktur aber nicht wirklich in dramatische Spannung überführen. Als operngewohnter Rezipient muss man sich auf langsam voranschreitende Prozesse einstellen; die Ankunft des als «Idioten», nämlich des hier als «Gutmenschen» gezeichneten Fürsten Myschkin in der degenerierten St. Petersburger Gesellschaft des mittleren 19. Jahrhunderts und die Wirkung auf sie kommt nur schleichend voran; sie gewinnt gerade daraus ihre Attraktivität. Genau gleich wie die musikalische Handschrift Weinbergs, die genaues Zuhören und ein offenes Herz einfordert, vor allem aber Geduld, denn nur so kann man sich in diesen Kosmos einleben. Ganz eigen klingt diese Musik, sie ist weder tonal noch atonal, lebt vielmehr in einem Zwischenreich. Sehr geholfen beim Eindringen in die Partitur haben die Wiener Philharmoniker, die sich mit ihrer vollen Kompetenz auf ihre Aufgaben eingelassen haben, aber auch die lettische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die zusammen mit dem russischen Geiger Gidon Kremer die Entdeckung Weinbergs vorantreibt und sich die Handschrift des Komponisten in hohem Mass zu eigen gemacht hat.

Blendend die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczęśniak spreizt das Geschehen über die ganze Breite der Bühne in der Salzburger Felsenreitschule auf; geradezu sensationell der Beginn des Werks, die Bahnreise des Fürsten Myschkin nach St. Petersburg, für die ein 1.-Klass-Coupé ganz langsam von rechts nach links bewegt wird, es dazu den Blick aus dem Fenster als Videoprojektion gibt und schliesslich die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof vom Videokünstler Kamil Polak überblendet wird. Mit äusserster Sorgfalt sind die einzelnen Figuren ausgestaltet, und da bewährt sich ein osteuropäisch-russisch besetztes Ensemble – in Salzburg wird ja auf den verschiedensten Ebenen sehr genau zwischen Russland und Putin unterschieden. Grossartig im vokalen Laut wie im körperlichen Ausdruck Bogdan Volkov als Fürst Myschkin, Vladislav Sulimsky gibt den düsteren Gegenspieler Rogoschin mit schwarzen Stimmfarben, stupend verkörpert Ausrine Stundyte die undurchdringliche Emanze Nastassja, während Xenia Puskarz Thomas als die gutbürgerliche Aglaja mit einem hellen Sopran auf sich aufmerksam macht. Zahlreiche liebevoll und klug ausgedachte Details beleben die Szene. Und getragen wird sie von einem starken Ensemble. Mehr noch: von einer Identität stiftenden künstlerischen Familie, wie sie Markus Hinterhäuser als temporäres Mitglied der Truppe um Christoph Marthaler kennengelernt haben mag.

«Der Spieler»

Zur Familie gehört auch Peter Sellars. Der unkonventionell, auch witzig denkende Amerikaner meisterte in diesem Sommer, ebenfalls in der Felsenreitschule, als Regisseur die selten aufgeführte Oper «Der Spieler» von Sergej Prokofjew, ein scharf kritisierendes Werk. Er tat das in seiner Weise. Die Handlung, sie basiert wie «Der Idiot» auf einem Roman von Dostojewski und spielt in einer ähnlichen gesellschaftlichen Konstellation wie Weinbergs Oper, versetzte er in die Gegenwart – etwas zaghaft, doch durchaus erkennbar: Statt zu Briefen und zu Schuldscheinen wird zum Smartphone gegriffen, und wenn ein aus Deutschland angereister Gast im Spielcasino seine Werte zu verteidigen sucht, wird sein Anzug mit oranger Farbe bestrichen. Das kann man umso mehr hinnehmen, als Österreich derzeit von einem Finanzjongleur der ärgsten Sorte heimgesucht wird. Dass am Ende die etwas moralinsaure Erkenntnis im Raum steht, dass Geld allein weder heilt noch glücklich macht, so ist das freilich schon wieder ein Allgemeinplatz. Nur ist das nicht Sellars’ Schuld, sondern jene des Werks – einer Oper, die mitten im Ersten Weltkrieg auf der Basis eines von Prokofjew selbst eingerichteten Librettos entstand und 1929 musikalisch überarbeitet wurde, in der Sowjetunion jedoch erst 1970 vollgültig aufgeführt werden konnte.

Der temporeiche, darum kurzweilige Abend spielt auf einer ebenfalls ganz in die Breite gezogenen Bühne. George Tsypin hat sie mit riesigen, an Ufos erinnernden, nach der Art eines Balletts auf- und absteigenden Roulettetischen bestückt, und die Kostüme von Camille Assaf sorgen für Farbeffekte, die mit der frechen Musik Prokofjews durchaus etwas gemein haben. Die Partitur befindet sich bei dem noch jungen Russen Timur Zangiev und den Wiener Philharmonikern in besten Händen. Das Orchester agiert auf seinem bewundernswert hohen Niveau, und der Dirigent lässt den Farbeffekten den ihnen gebührenden Raum, behält die musikalischen Verläufe aber stets in ruhiger Hand. Gewinnend auch hier das riesige Ensemble, allen voran Sean Panikkar als der wirtschaftlich auf unsicheren Beinen stehende Hauslehrer, der am Spieltisch mehr als das benötigte Kleingeld erwirtschaftet und dafür seine Geliebte verliert – und diese Geliebte, Polina, ist Asmik Grigorian, die als eigenwillige Frau starke Akzente setzt, sich aber zugleich ganz selbstverständlich in ihr Umfeld integriert. Für ein Glanzlicht besonderer Art sorgt Violeta Urmana, der reichen, von allen Seiten in den Tod gewünschten Grossmutter, die sich aus ihrem Rollstuhl erhebt und im Casino all ihr Hab und Gut verliert.

«Hoffmanns Erzählungen»

Eine andere Art von Sucht herrscht in der dritten Neuinszenierung der Salzburger Festspiele dieses Sommers. Es ist der Alkoholrausch, der Ernst Theodor Wilhelm (später: Amadeus) Hoffmann seinen Brotberuf als Beamter aushalten und in nächtlichen Sitzungen in Gasthäusern das Dichten ermöglichte. Jacques Offenbach war von E. T. A. Hoffmann derart angezogen, dass er sich für «Les Contes d’Hoffmann», seine einzige ernste Oper, von Jules Barbier ein Libretto zusammenstellen liess, in dem der Dichter dreien der von ihm erfundenen Frauenfiguren begegnet – für den Tenor Benjamin Bernheim ergab sich hier eine Sternstunde. Nicht nur war er der agile Hauptdarsteller der im Salzburger Grossen Festspielhaus gezeigten Inszenierung, er sang sich auch buchstäblich von Höhepunkt zu Höhepunkt – wenn ihm denn der Dirigent Mark Minkowski am Pult der Wiener Philharmoniker den Raum dafür liess. Ihm zur Seite standen in dieser vokal exzellenten Produktion Kathryn Lewek, welche die vier Frauenfiguren bewältigte, und Christian Van Horn in den Partien der vier männlichen Gegenspieler, vor allem aber Kate Lindsey, die mit blühender Sonorität und packender Bühnenpräsenz als Hoffmanns guter Geist Nicklausse begeisterte. Szenisch hatte der Abend allerdings ein grosses Problem. Für die Regisseurin Mariame Clément war Hoffmann ein innerlich zerrissener Filmer, der die Fäden einer grossen Produktion in den Händen zu behalte, was die Ausstatterin Julia Hagen dazu bewog, die Bühne mit einer Vielzahl stummer, unablässig gestikulierender Techniker und Assistentinnen zu füllen, ja zu verstopfen. Durchaus plausibel erfundene Nebenhandlungen schoben sich in den Vordergrund, dies zu Lasten der Hauptsache, nicht zuletzt der herrlichen Musik Offenbachs. Auf hohem Niveau gescheitert. Doch ohne Scheitern keine Kunst.

Höhenflüge mit Überraschung

Abschluss des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Drei Klima-Aktivisten / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Es geschah nicht am helllichten Tag, das nicht. Aber doch mitten in der allerschönsten Musik, mitten im Scherzo der vierten Sinfonie Anton Bruckners. Zwei junge Leute, beide in weissen T-Shirts, schreiten entschlossen den rechten Seitengang im Parket hinunter. Warum die Studentin und der Student gerade jetzt so dringend nach Hause wollen? Wollen sie nicht, sie biegen nämlich nicht nach rechts zur Eingangstür ab, sondern nach links, streben an der ersten Sitzreihe vorbei zur Mitte des Orchesterpodiums. Dort schwingen sie sich mit einem Satz hinauf zu den Füssen des Dirigenten, kleben je eine Hand an dessen Podest und beginnen in die Musik hineinzusprechen. Es tue ihr leid, dass sie stören müsse, erklärt die junge Frau, sie liebe klassische Musik. Indessen stünden wir bekanntlich mitten in einer scharfen Klimakrise, sofortiges Handeln sei dringend geboten – «act now» steht gut lesbar auf ihren T-Shirts. Dessen ungeachtet und trotz der wütenden Zurufe aus den Sitzreihen bringt das Bayerische Staatsorchester aus München das angefangene Scherzo zu Ende.

Danach aber dreht sich der Dirigent Vladimir Jurowski um, geht in die Hocke, nähert sich den beiden Jungen und spricht mit ihnen. Sie hätten eine Abmachung getroffen, und er habe sein Ehrenwort für deren Einhaltung gegeben, ruft er ins Auditorium. Die beiden jungen Leute sollten, so die Vereinbarung, ihr Anliegen in wenigen Worten vortragen dürfen, man möge bitte ruhig zuhören; danach würden sie den Saal wieder verlassen, und Bruckners Vierte werde zu Ende gespielt. Er ersuche um Unterstützung für die Einhaltung des Ehrenworts. Die gehässigen Reaktionen aus dem Publikum halten freilich an, weshalb sich Jurowski im Schneidersitz auf seinem Dirigentenpodest niederlässt. Derweil lösen die beiden Aktivisten der Bewegung Renovate Switzerland umstandslos ihre Hände von dem Möbel, sprechen einige Sätze und verlassen dann ohne weiteres den Konzertsaal im KKL.

Der Zwischenruf war gewiss störend, angesichts der klimatischen Umstände und der allgemeinen Gleichgültigkeit im Umgang damit aber sehr wohl am Platz. Dass der Dirigent ihn zugelassen und gleichzeitig gezielt auf Deeskalation gesetzt hat, war ein Meisterstück. Die Besondere des Moments lag jedoch weniger bei dem Auftritt der beiden Aktivisten vor den Gästen der Zurich Versicherung als vielmehr bei der Fortsetzung des Konzerts. Jurowski ging das Finale von Bruckners «Romantischer» nämlich in einer Wildheit sondergleichen an, er peitschte es richtiggehend auf; der Satz, von Bruckner als «bewegt, doch nicht zu schnell» gedacht, fand zu bestürzender Eindringlichkeit und liess einen fassungslos zurück. Was heisst das?

Man mag des Dirigenten Ansatz als Akt der Interpretation verstehen, nur bleibt dabei die Frage offen, warum sich das Finale interpretationsstilistisch, etwa im Dynamischen und in der Artikulation, so krass vom Vorangehenden abhob. Näher liegt die Annahme, dass Jurowski in seiner Weise auf jenes Paradies zu sprechen kommen wollte, welches das Lucerne Festival diesen Sommer zum Motto gemacht hat. Oder um einen Schritt weitergedacht: Dass sich der Dirigent kurzerhand auf die Seite der beiden Klima-Aktivisten geschlagen hat. Tatsache ist jedenfalls, dass Jurowski, 1972 in Moskau geboren, schon seit geraumer Zeit unseren Umgang mit dem Planeten als fahrlässig geisselt, dass er die Zahl seiner berufsbedingten Flüge zu reduzieren sucht und angeblich darum 2019 sein Engagement als Chefdirigent des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters in Moskau aufgegeben hat. Dem entspricht, dass er so drastisch wie kein anderer Musiker seines Renommees den Krieg Putins gegen die Ukraine verurteilt. So politisch kann es im Paradies plötzlich werden.

Und das erstaunlicherweise mit einem Dirigenten, der sich einer altmodisch herrscherlichen Schlagtechnik bedient und vom Pauker verlangt, dass er jeden längeren Wirbel, und zwar auch im Piano, mit einem Akzent auf dem letzten Schlag markiert. Von ausgesuchter Konventionalität zudem das Programm: Vor der Vierten Bruckners gab es das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners «Tristan und Isolde», einige Tage zuvor schon vom Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä vorgetragen, sowie das Klavierkonzert Robert Schumanns, diesen Sommer ebenfalls schon auf dem Luzerner Programm, nämlich mit dem Solisten Daniil Trifonov. Für das Gastspiel aus München wäre eine Spur mehr Phantasie, ein My mehr Koordination denkbar gewesen, denn ins KKL kam das Orchester der Bayerischen Staatsoper München, das Staatsorchester, das dieses Jahr das Jubiläum seines nicht weniger als fünfhundertjährigen Bestehens feiern kann. Als Opernorchester besitzt es seit langem einen ausgezeichneten Ruf, auf dem Konzertpodium ist es weniger bekannt; beim Lucerne Festival gastierte es erst zum zweiten Mal.

Es tat es mit Aplomb – das kann sagen, wer die von Vladimir Jurowski gesetzten Prämissen akzeptiert. Schon im Kopfsatz von Bruckners Vierter – die Jurowski, wie es vor ihm Herbert Blomstedt bei der Siebten getan hat, aus der neuen Gesamtausgabe dirigierte – war ein ungemein kraftvolles, strahlendes Fortissimo zu hören. Eine Kraft allerdings, in der die Blechbläser so massiv in Erscheinung traten, dass alles andere unterging; weder die Holzbläser noch die Streicher waren in diesen Momenten zu hören, sie bildeten nicht mehr als vage wahrnehmbaren harmonischen Untergrund. Das entspricht einem althergebrachten, inzwischen ausser Kraft gesetzten Bruckner-Ton, wie ihn zum Beispiel Eugen Jochum pflegte. Dem Statischen, das mit dem blechgepanzerten Tutti einhergeht, suchte Jurowski durch die bewusste Gliederung der Sätze und flexibel ausgeformte Übergänge entgegenzuwirken. Immer wieder tauchten auch Inseln schönster farblicher Abmischung auf, etwa zwischen Flöte und Klarinette im Kopfsatz. Und der Solohornist, er hatte einen formidablen Auftritt.

Nicht weniger retrospektiv ausgerichtet wirkte am Abend darauf die Sächsische Staatskapelle Dresden mit ihrem seit 2012 und noch bis 2024 tätigen Chefdirigenten Christian Thielemann (der einen exquisiten Frack trug, wie es derzeit nur noch wenige Vertreter seiner Profession tun). Das stimmt allerdings nur zur Hälfte, denn immerhin eröffnete Thielemann das Luzerner Gastspiel des Orchesters aus der Semperoper mit dem «Schwanendreher», einem (freilich etwas etwas verkrampften) Bratschenkonzert Paul Hindemiths von 1935, dessen Solopart von Antoine Tamestit superb gemeistert wurde. Danach aber gab es «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, ein Leib- und Magenstück Thielemanns, mit dem er schon 2015, beim letzten Auftritt der Dresdener, das Publikum im KKL hingerissen hatte und es jetzt noch einmal und vielleicht noch deutlicher tat. Thielemann ist nicht nur ein mit allen Wassern gewaschener Kapellmeister alter Schule, sondern auch ein Taktstockvirtuose im besten Wortsinn. Mit wenig Aufhebens, aber den genau richtigen Zeichen hält er das Geschehen in Gang, souverän steht er über den Verästelungen der äusserst reichhaltigen Partitur und weiss doch immer wieder auf Einzelheiten einzugehen. Und unter seiner entspannten Hand klang Wagners «Wunderharfe» ganz vorzüglich: in kompakter Lautstärke, wo das gross besetzte Orchester laut sein soll, mit zart schimmernden Farben, wo der imaginäre Wanderer seinen Fernblick geniessen kann. Ob es ein Non plus ultra gibt?

Das gibt es. Dann nämlich, wenn die Münchner Philharmoniker das Podium einnehmen – das Stadtorchester aus der Kapitale des Freistaates und somit die Nummer drei neben der Staatskapelle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, bei dem bald Simon Rattle die Leitung antreten wird. Unvergessen die siebzehn Jahre ab 1979 mit Sergiu Celibidache am Dirigentenpult und den ebenso umstrittenen wie aussergewöhnlichen Einspielungen der Sinfonien Bruckners. Seit Celibidaches Tod 1996 gab es bessere und weniger gute Zeiten, 2026 soll Lahav Shani die Position des Chefdirigenten übernehmen. Jetzt aber, beim Schlusskonzert des Lucerne Festival in diesem Sommer, war die Konstellation eine ganz besondere, denn an die Spitze der Münchner Philharmoniker gerufen war Mirga Gražinytė-Tyla, die 2016, im Luzerner Sommer mit dem Thema «PrimaDonna», so viel Aufmerksamkeit erzielt hat und seither eine steile Karriere verfolgt. Und auf den Pulten lag nicht weniger als die zweite Sinfonie Gustav Mahlers, die «Auferstehungssinfonie», mithin das Gegenstück zu Mahlers Dritter, mit der das Festival eröffnet worden ist.

Dass eine Frau vor einem meist vornehmlich mit Männern besetzen Orchester steht, gehört inzwischen zum Alltag – die Zeiten haben sich geändert, und «PrimaDonna» von 2016 hat hier zweifellos entscheidende Weichen gestellt. Im Fall von Mahlers Zweiter liegt der Fall anders. Das Stück ist ein veritabler Felsbrocken; ihn dirigentisch zu stemmen, kann verbreiteter Vorstellung gemäss nur mit gehörig ausgebautem Bizeps gelingen. Mirga Gražinytė-Tyla verkörpert geradewegs das Gegenteil. Klein gewachsen und von zarter Statur, gibt sie nicht die Dirigentin, die bitte sehr genau so gut sein kann wie ein männlicher Kollege, sie ist vielmehr ganz sich selbst. Unauffällig huscht sie zu ihrem Podest, das sie nur zur Ausübung ihrer Tätigkeit betritt; in den Momenten des Beifalls steht sie unauffällig unter den Orchestermitgliedern. Ihre Zeichengebung ist von ausserordentlicher Sparsamkeit, dies jedoch nicht zum Zeichen ihrer Virtuosität, vielleicht eher als Ausdruck eines kooperativen Selbstverständnisses. Die Auslegung der riesenhaften Partitur Mahlers zeugte freilich von hochentwickeltem Vorstellungsvermögen und der Fähigkeit, den Weg der Interpretation mit einem Blick, einem Lächeln den in aller Konzentration agierenden Musikerinnen und Musikern in aller Klarheit zu vermitteln.

In der Auslegung durch Mirga Gražinytė-Tyla erstand Mahlers Zweite unter einem einzigen, über neunzig Minuten gespannten Bogen. Gewiss setzten die Kontrabässe zu beginn gleich ihre Ausrufezeichen. In der Folge entfaltete sich der Kopfsatz jedoch sorgsam tastend, in sehr ruhigen Zeitmassen, fesselnder rhythmischer Präzision und einer farblichen Vielfalt sondergleichen. Sehr leise und leicht das Andante moderato des zweiten Satzes, in dem ein kleines Detail wie die Verbindung zwischen dem Pizzicato der Harfen und dem Klang der Harfen grossen Effekt machte. Dann der zweite Teil mit dem in ruhigem Alla breve durchgezogenen Scherzo, mit dem «Urlicht», in dem die Altistin Okka von der Damerau gern etwas zu tief blieb, später mit der etwas stark vibrierenden Sopranistin Talise Trevigne, den überraschenden Fernorchestern und dem prachtvollen Münchner Philharmonischen Chor (Einstudierung: Andreas Herrmann), der erst sitzend sang und sich schliesslich der kontrapunktischen Ordnung gemäss erhob. So klein die Zeichen der Dirigentin blieben – wenn es zur Sache ging und sie die Arme in die Höhe reckte, hatte das durchaus seine Folgen. Besonders hoch darf Mirga Gražinytė-Tyla freilich angerechnet werden, dass im Finale die Massen jederzeit gezügelt blieben.

Einen würdigen Abschluss bildeten diese drei letzten Abende in der Sommerausgabe des Lucerne Festival. Sie gaben zu erkennen, dass die Perlenkette der Luzerner Orchestergastspiele lebt – auch wenn es in der einen oder anderen Hinsicht durchaus etwas mehr Bewegung geben dürfte. Dass das Konzert neu erfunden werden muss, stellt als Aussage eine an der Wirklichkeit vorbeigehende Banalität dar, die oft genug abgeschrieben und wiederholt wird, deswegen jedoch nicht mehr Sinn erhält. Die 84 Prozent Auslastung, die das Festival für dieses Jahr ausweist, kommen zwar noch in keiner Weise an die Zahlen der Jahre vor der Pandemie heran, zeugen aber doch von Erholung. Und mit den 98 Prozent Auslastung der Salzburger Festspiele brauchen sie nicht verglichen zu werden, weil ein reines Konzertfestival und Festspiele mit der Oper als Hauptsache zwei Paar Schuhe darstellen. Was am Ende zählt, ist der Blick auf die Sache selbst.

Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Lucerne Festival (3) – PrimaDonna

 

Mirga Gražinytė-Tyla am Pult des Chamber Orchestra of Europe / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

 

Peter Hagmann

Ein Ende? Ein Anfang?

Am Pult der Orchester verlieren die Männer ihre Vormacht

 

Ausser beim zweitbesten Orchester der Welt, jenem aus Wien, das bis vor wenigen Jahren ausdrücklich den Herren der Schöpfung vorbehalten war, das inzwischen aber auch schon zwei, drei Vertreterinnen des schwachen Geschlechts aufgenommen hat, ist die Präsenz von Frauen auf den Konzertpodien der Welt kein Thema mehr. In einigen Klangkörpern bilden die Musikerinnen mittlerweile sogar die Mehrheit, und selbst Instrumente wie Kontrabass, Posaune oder Schlagzeug sehen sich heute bisweilen in zarten Händen. Solistischen Ambitionen steht das Geschlecht höchstens noch insofern im Weg, als die für das gedeihliche Vorankommen erforderliche Präsenz allenfalls mit der Familienplanung kollidiert. Ohnehin ist nicht zu übersehen, dass an den musikalischen Ausbildungsstätten Studentinnen mindestens ebenso präsent sind wie Studenten.

Mit links

So wäre denn die Gleichberechtigung in musicis erreicht? Das wäre nun doch eine arge Täuschung, denn wenigstens in zwei Bereichen des Musiklebens kann davon keine Rede sein. Komponistinnen, die zu den zentralen Figuren des Betriebs gehören, also keine noch so angesehene Aussenseiterposition einnehmen, sind noch immer eine Seltenheit. Erst recht aber gilt es für Frauen am Pult von Orchestern. Gewiss sind wir weiter als zu jenen Zeiten, da das Erscheinen einer Dirigentin Befremden, wenn nicht Gelächter auslöste. Heute gehören Dirigentinnen wie Laurence Equilbey, Julia Jones, Karen Kamensek oder Simone Young ganz einfach dazu; sie stehen im Betrieb und nehmen prestigeträchtige Chefpositionen ein. Aber sie bilden noch immer mit Erstaunen quittierte Ausnahmen.

Das Lucerne Festival schlägt hier nun eine kräftige Bresche. Es stellt seine diesjährige Sommerausgabe unter das Thema «PrimaDonna» – wobei in den Publikationen das «i» durch eine klar als solche erkennbare weibliche Hand ersetzt ist, die einen Taktstock hält. Dass es eine linke Hand ist, mag sich aus graphischen Gründen aufgedrängt haben, zumal sich dadurch ein «accent aigu» ergeben hat. Es ist aber auch von leiser Ironie, wie überhaupt das Thema ohne jeden demagogischen Zug, vielmehr geradezu spielerisch durchgeführt wird. Weniger amüsant sind die fleissigen Bienen aus dem Orchester, die dem von weiblicher Hand geführten Taktstock zu gehorchen haben – da bleibt die Graphik hinter den Errungenschaften des Festivals zurück.

Aber es wird ernst gemacht mit der Primadonna, nicht auf der Bühne, sondern am Pult. Ein gutes Dutzend Dirigentinnen treten diesen Sommer in Luzern auf, und das durchaus nicht an Nebenschauplätzen. Die Wiener Philharmoniker bitten Emmanuelle Haïm zum Gastspiel und lassen sich durch die französische Spezialistin für alte Musik, die nicht zuletzt von William Christie und Simon Rattle gefördert wurde, durch Händels «Wassermusik» führen. Susanna Mälkki, inzwischen Chefdirigentin bei den Philharmonikern von Helsinki, dirigierte das Orchester der Lucerne Festival Academy und hob ein neues Werk von Olga Neuwirth, dieses Jahr «composer in residence», aus der Taufe. Und Marin Alsop war nicht mit dem Orchester von Baltimore, das sie seit 2007 leitet, sondern mit dem von ihr 2012 übernommenen São Paulo Orchestra zu Gast.

Showtalent

Und dann: Barbara Hannigan. Die gefeierte Sopranistin, die das Lucerne Festival 2016 mit dem Solostück «Djamila Boupacha» von Luigi Nono einleitete und dann eine vielleicht etwas lange, aber sehr persönliche Eröffnungsrede im Gedenken an Pierre Boulez hielt, Barbara Hannigan stellte sich auch als Dirigentin, ja selbst als dirigierende Sängerin vor. Das war nicht das Gelbe vom Ei, um ehrlich sein. Als Sängerin in neuem Repertoire, etwa bei der Uraufführung von Toshio Hosokawas «Matsukaze» an der Brüsseler Monnaie-Oper 2011, ist sie unübertroffen, zumal auch in ihrer körperlichen Agilität und ihrer darstellerischen Präsenz. Selbst in der Titelpartie von Alban Bergs «Lulu» am selbenn Haus war sie eine Besonderheit. Aber Dirigentin muss sie erst noch werden, wie die farblose Wiedergabe von Joseph Haydns Pariser Sinfonie in D-dur, Hob. I:86 erwies.

Bei der Tondichtung «Luonnotar» von Jean Sibelius wirkte sie gar in Doppelfunktion: als Dirigentin wie als Solistin. Neu ist das nicht; es kommt etwa bei Klavier- oder Violinkonzerten Mozarts vor, wo es in der Regel, aber durchaus nicht immer, problemlos funktioniert, weil sich der dirigierende Solist meist mitten unter den Musikern aufhält. Hier bei Sibelius ging es daneben. Wenn sich Barbara Hannigan auf ihrem Podium zum Publikum hin umdrehte und als Dirigentin zu singen anhob, wirkte das geradezu grotesk; singend führte sie einem lahmen Vogel gleich halbe Armbewegungen aus, während der Konzertmeister das Mahler Chamber Orchestra bei der Stange zu halten suchte. Weil sie als Sängerin mit dem Rücken zu den Musikern und gleichzeitig vor ihnen stand, litt die Verbindung zum Orchester, was Mängel der klanglichen Balance und der Intonation in diesem harmonisch schwierigen Stücks hören liessen. Um so auffälliger dagegen die Show, die Barbara Hannigan aus dem Moment machte: mit effektvoller, aber nicht unbedingt effizienter Körpersprache und mit barfüssigem Auftritt.

Rollenbilder

Dass es all das nicht braucht, erwies der Erlebnistag dieses Sommers, der das Podium ganz den PrimaDonnen überliess. Der Knoten sei zerschlagen, versicherte Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, in dem von der Radioredaktorin Gabriela Kaegi witzig moderierten Podiumsgespräch – und er hatte recht damit. Um ernst zu machen mit dem Thema, hatte das Festival das Chamber Orchestra of Europe, das Orchester und Ensembles der Lucerne Festival Academy sowie die Festival Strings engagiert und sechs Damen jüngerer Generation zum Dirigieren eingeladen – zu einer Art Vordirigieren vielleicht, so konnte einem die friedliche Konkurrenz in der dichten Abfolge der Ereignisse vorkommen. Das Pech wollte (oder war es ganz maliziös beabsichtigt?), dass dabei auch fest verankerte Rollenbilder gepflegt wurden. Zum Beispiel von der Geigerin Arabella Steinbacher, die sich neben den irritierend beiläufig spielenden Festival Strings mit den «Vier Jahreszeiten» von Antonio Vivaldi befasste: ohne ernsthaften Kontakt mit dem Ensemble und ohne Auseinandersetzung mit neueren Strömungen der musikalischen Interpretation – als Geigensternchen alter Schule eben.

Echt weiblich halt. Wer so dachte, durfte sich an diesem Sonntag von den übrigen Damen in leitender Funktion auf den Boden einer ganz anderen Realität holen lassen. Von der Estin Anu Tali zum Beispiel, die mit einem Fräcklein erschien, festen Schrittes dem Podium zueilte und dort mit feurigem Temperament, äusserst eifrig und mit herrscherlicher Führung des Taktstocks zu erkennen gab, dass Frau in dieser Domäne durchaus ihren Mann zu stellen weiss. In der Sinfonie Nr. 1 von Sergej Prokofjew, der «Symphonie classique», fand das Chamber Orchestra of Europe darum zugespitzte Kontraste und einen kompakten Ton, was dem gelassenen Blick zurück, der in diesem Stück herrscht, doch merklich widersprach. Auch die Griechin Konstantia Gourzi schien die Geschlechterfrage bewusst aus dem Spiel lassen zu wollen. Sie gab sich in Erscheinung und Zeichengebung ausgeprägt neutral und liess in ihrem ganz auf die Moderne ausgerichteten Programm mit dem Orchester der Lucerne Festival Academy Werke wie «Le Sacrifice» von Iannis Xenakis oder das frühe «Concert Românesc» von György Ligeti in blendender, aber auch nüchterner Klarhheit erklingen.

Die Kraft der Begabung

Ganz anders dagegen Mirga Gražinytė-Tyla. Die dreissigjährige Dirigentin aus Litauen macht kein Aufhebens darum, dass sie als Frau ans Dirigentenpult tritt; ihre Weiblichkeit kommt ganz selbstverständlich und natürlich zur Geltung. Zartgliedrig, wie sie ist, bleiben ihr autoritäre Züge im Auftreten verschlossen, ihre Zeichengebung zielt vielmehr auf die Auslösung energetischer Prozesse. Den Taktstock führt sie mit feinem Griff, ihre Linke dagegen spricht in vielerlei Gestalt. So machte sie Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 6 in F-dur, die «Pastorale», zu einem Gang durch ein äusserst belebtes Landleben.

Das Chamber Orchestra of Europe war klein besetzt und sprach leise, für diesen Klangkörper mit seiner reichen Beethoven-Erfahrung vertrautes Terrain. Bemerkenswert aber die Ausdrücklichkeit, die Mirga Gražinytė-Tyla im Rahmen der ziselierten Diktion erzielte. Dass sie dabei die Tempi, die sich Beethoven gewünscht hat, nur annährend erreichte, war nicht von Belang; die vom Komponisten stammenden Metronomzahlen stellen kein Dogma dar, sie sind vielmehr aus dem Kontext heraus zu verwirklichen. Und dieser Kontext war hier von enormer Stimmigkeit: reich an struktureller Einsicht wie an emotionaler Dichte. Intensiv wuchs das Geschehen aus dem Geflecht der Stimmen, auch der Binnenstimmen, und der instrumentalen Farbwirkungen heraus; und es lebte von manch überraschendem Einfall – etwa von dem ganz und gar ungewohnt von oben genommenen Triller, mit dem sich vor der Reprise des Kopfsatzes die Ersten Geigen vernehmen lassen. Die Szene am Bach, in leichtem Fluss gehalten, geriet zu einem bunten Vogelkonzert, die Tänze der Landleute steigerten sich in so heftiges Temperament, dass der Wechsel in die bedrohliche Stimmung vor dem Gewitter von geradezu dramatischer Wirkung war, während sich das Unwetter selbst dann elementar entlud. Nichts von dem geriet jedoch überzeichnet, in jedem Moment herrschten vielmehr die authentische Hinwendung der Dirigentin zum Text und ihre Ausstrahlung an die Adresse der äusserst animiert wirkenden Orchestermitglieder.

Zutiefst berührend war das. Dieser Tage tritt Mirga Gražinytė-Tyla ihr neues Amt als Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra an; in dieser Funktion folgt sie Vorgängern wie Simon Rattle oder Andris Nelsons – und kommenden Sommer wird sie mit dem Orchester aus Birmingham in Luzern gastieren. Dass es eine Frau ist, die im Begriff steht, zu einer grossen Karriere abzuheben, ist absolut bedeutungslos; im Vordergrund steht die einzigartige Begabung. Wenn sie sich so selbstverständlich durchsetzt, wie es bei Mirga Gražinytė-Tyla den Anschein hat, zeugt das aber doch von einem gewissen Wandel in der Frage nach der PrimaDonna. Das Lucerne Festival darf sich da durchaus seiner Verdienste rühmen.