Igor Levit in Luzern

 

Peter Hagmann

Für Dresden, gegen Leipzig

Bachs Goldberg-Variationen mit Igor Levit beim Lucerne Festival

 

Uns Heutigen gilt er als der Thomaskantor – aber in Leipzig, wo er von 1723 bis an sein Lebensende 1750 gewirkt hat, ist es Johann Sebastian Bach denkbar schlecht ergangen. Natürlich hat er in den Anfängen seiner Leipziger Zeit in einem unvorstellbaren Furor des Schaffens drei Jahreszyklen an Kantaten geschrieben (und zur Aufführung gebracht), hat er dazu zwei grosse Passionen geschaffen und im Café Zimmermann seinen Ruf als Dirigent eines blendenden Kammerorchesters gemehrt. Aber er litt nachhaltig unter Spannungen mit seinen Vorgesetzten, die von Musik nichts verstanden, ihm aber ästhetische Vorgaben machten, seine Dienstwohnung eng und laut, und die Schüler der Thomasschule wollten an den Projekten ihres Kantors partout nicht ordentlich mitwirken. So erstaunt nicht, dass Bach mit einigen Hintergedanken nach Dresden blickte, wo es einen kurfürstlichen Hof und reichlich Mittel für die Musik gab und wo, vor allem, sein Sohn Wilhelm Friedemann zum Organisten an die Sophienkirche berufen worden war.

Der Bass als des Pudels Kern

Allerdings, der Dresdener Geschmack war ganz und gar anders gelagert als der in Leipzig. In Dresden gaben die Italiener mit ihrer Oper den Ton an und mit ihnen die deutschen Musiker, die auf dieses Pferd gesetzt hatten. Up to date war die Gesangslinie mit ihrer homophon gedachten Begleitung, während die Kunst des Kontrapunkts, wie sie Bach Vater vertrat, für eine vergangene Zeit stand. Bach freilich, er konnte nicht anders – die Goldberg-Variationen zeugen davon. Wie genau es zu diesen dreissig Variationen über ein vergleichsweise simples Thema (respektive über eine relativ einfache Abfolge von Bass-Schritten) gekommen ist, ist nicht bekannt. Es gibt die Legende von dem mit dem Kurfürstlichen Hof in Dresden verbundenen Reichsgrafen von Keyserlingk, der unter Schlaflosigkeit gelitten haben und als Mittel dagegen die Goldberg-Variationen erhalten haben soll – nur war der Cembalist, der neben dem reichsgräflichen Schlafzimmer die hochkomplexe Musik Bachs aus den frühen 1740er Jahren gespielt haben soll, zu jener Zeit noch ein Kind. Das ist nur eine von vielen Unklarheiten, die sich um dieses Werk ranken.

Dass die Goldberg-Variationen mit Dresden zu tun haben, mithin als leuchtender Edelstein kontrapunktischer Kunst in einem auf die Monodie fokussierten Umfeld empfunden werden können, steht freilich fest. Bach selbst spielt mit diesem Spannungsfeld, und dies an mehr als einer Stelle. Und fast hat es den Anschein, als hätte Igor Levit mit seiner Auslegung der Goldberg-Variationen im Rahmen des Luzerner Klavierfestivals genau das unterstreichen wollen. Schon die Aria, die zu Beginn das Thema vorgibt und am Ende die symmetrische Klammer bildet, deutete das bei ihm an – insofern nämlich, als die Oberstimme stets deutlich führende Melodie blieb, während die linke Hand aus dem Hintergrund heraus einen begleitenden Bass und etwas Harmonie beifügte. Das war bei András Schiff vor Jahresfrist ähnlich, nur hat Schiff in den Wiederholungen, die auch Levit ausführte, den Bass jeweils ganz leicht hervorgehoben – zum Zeichen dafür, dass es ja justament der Bass ist, der hier des Pudels Kern bildet.

Denn gleich bleibt in den dreissig Veränderungen, die der eröffnenden Aria folgend, der Bass: die Goldberg-Variationen als eine riesige, knapp eineinhalb Stunden dauernde Passacaglia. Das zu schultern, ohne unter der Last zusammenzubrechen, ist schon eine Tat. Igor Levit, dem noch nicht dreissigjährigen Pianisten aus Nischni Nowgorod, der seine Wurzeln aber klar in der deutschen Kultur hat, gelang das ganz ausgezeichnet – und dies trotz dem einschüchternd definitiven Statement, das András Schiff im Herbst 2015 im Konzertsaal des Luzerner KKL zu den Goldberg-Variationen abgegeben hat. Während Schiff das Wechselspiel der musikalischen Linien, die sich viefältigst miteinander verschlingen und äusserst vielgestaltig aufeinander reagieren, mit seiner einzigartigen Erzählkraft zum Leben brachte, schien Levit die Goldberg-Variationen eher als ein sehr unmittelbares Dokument aus dem bewegten Lebens Bachs zeigen zu wollen.

Mit dem geschmeidigen Laufwerk auf der Ebene der Sechzehntel und dem eleganten Non-Legato auf jener der Achtel betonte Levit in der ersten Variation das Element des Konzertanten, das bei Vivaldi anschliesst und in Dresden besonders geschätzt wurde. Überhaupt sparte der Pianist nicht mit dem Effekt des Virtuosen, mit der perlenden Geläufigkeit und dem behenden Überkreuzen der Hände – dies allerdings da und dort zu Lasten der satztechnischen Klarheit. Vor allem in jenen raschen Stücken, für deren Ausführung eigentlich zwei Manuale erforderlich wären, ging das Geschehen gern in Klangwolken unter, was den Intentionen des Komponisten widerspricht, denn bei aller Neigung zum modernen Dresdener Still ist Bach doch stets Kontrapunktiker geblieben. Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr spitzte sich das zu – bis hin zu den Variationen ab der Nummer 23, die mit durchbrochenem Satz arbeiten und die in den Tempi und im Pedalgebrauch Levits unverständlich blieben.

Das mag auch eine Frage der Erfahrung sein, nicht zuletzt der Vertrautheit mit dem Luzerner Konzertsaal. Igor Levits CD-Aufnahme der Goldberg-Variationen – Teil jener grandiosen, auch grandios gewagten Dreierbox, die ausserdem die Diabelli-Variationen Beethovens und «The People United Will Never Be Defeated» des Amerikaners Frederic Rzewski enthält –, Levits Aufnahme zeigt, dass im Studio die reine Makellosigkeit herrschte und die Transparenz jederzeit gegeben war. Anders als im Luzerner Konzert bilden auf der CD diese Stücke der blitzenden Lineatur das ebenbürtige Gegengewicht zu den Variationen, in denen Bach die Monodie, aber auch die damals moderne Strömung der Empfindsamkeit aufnimmt. Gerade die empfindsamen Variationen gerieten im Luzerner Konzert zu Momenten entrückter Schönheit. Mit Mut zum lauschenden Verfolgen der musikalischen Verläufe, mit Vorstellungskraft und Atem versenkte sich Levit etwa in die Nummern 13 und 15, nach denen er, die Mitte des Zyklus markierend, eine grosse Pause machte, um dann die französische Ouvertüre der Nummer 16 mit federnder Punktierung anzugehen.

Interpretation als deutender Akt

Unter den Händen Igor Levits erschienen Bachs Goldberg-Variationen somit weniger als das Monument der kontrapunktischen Kunst, das sie zweifellos sind. Vielleicht ungewollt, aber doch deutlich wahrnehmbar liess der Pianist in seiner Deutung vielmehr das um 1740 Moderne heraustreten. Als ob Bach mit den Goldberg-Variationen hätte in Erinnerung rufen wollen, dass er als Thomaskantor den Kontrapunkt wie kein Zweiter beherrsche, dass er sich in den neueren Gestaltungsweisen aber nicht weniger auszudrücken wisse. Interpretation als deutender Akt ist das, explizit und angreifbar zugleich. Jedenfalls gab der Abend ebenso viel Anregung wie Hörgenuss – kein Wunder bei einem Pianisten, der nicht nur technisch und musikalisch für höchstes Niveau steht, sondern seinem Gegenüber auch als hellwacher Kopf begegnet. Dass Igor Levit seines jugendlichen Alters zum Trotz zu den bedeutendsten Erscheinungen in der anhaltend lebendigen Welt des Klaviers gehört, hat sich an diesem einzigartigen Abend beim Lucerne Festival erneut bestätigt.