Der Geist lebt – und wie

Ertragreiche Wochen beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Diesen Sommer hat es das Lucerne Festival nicht nur mit dem Paradies und seinen Äpfeln, sondern auch mit den alten Instrumenten. Genauer: mit dem Instrumentarium, wie es den Komponisten zur Zeit der Niederschrift ihrer Werke vertraut war wie mit jenen Spielweisen, die sich den überlieferten Quellen entnehmen lassen. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis also. Beim Lucerne Festival erhielt diese Spielart der musikalischen Interpretation, heute weit verbreitet und durch einen eigenen, bedeutenden Markt vertreten, bisher vergleichsweise wenig Raum. Sie wurde vielleicht auch nicht ihrer Bedeutung gemäss geschätzt. Nach einem Auftritt des Dirigenten Philippe Herreweghe mit einem seiner Orchester habe er, so verriet der Luzerner Intendant Michael Haefliger, aus dem Publikum eine Reihe deutlich ablehnender Zuschriften erhalten.

Nun also das: gleich drei Abende im Zeichen der historischen Praxis. Und Abende, die nicht nur von der Vielfalt in dieser Art des Musizierens zeugten, sondern auch kapital neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Werke eröffneten. So war es bei der konzertanten Aufführung von «Rheingold», dem Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», von der vor Wochenfrist an dieser Stelle die Rede war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.23). Und so war es vor wenigen Tagen bei der Begegnung mit Joseph Haydns «Jahreszeiten», einem für seine Natürlichkeit, seine Eingängigkeit, ja seine Volkstümlichkeit geschätzten Oratorium. So berührend, so erschütternd, jedenfalls so aufregend habe ich diesen Gang vom Frühling über Sommer und Herbst in den Winter nie gehört. Ermöglicht hat es Giovanni Antonini, der Haydn-Spezialist dieser Tage, der die Erfahrungen, die er im Rahmen der Gesamtaufnahme der Sinfonien Haydns sammelte und weiterhin sammelt, auf das grossangelegte, vierteilige Vokalwerk angewandt hat.

Mit einem schockierenden Schlag hob der Übergang vom Winter zum Frühling in der orchestralen Einleitung an; der Pauker benützte dafür die Griffseite seiner Schlägel und hieb mit aller Kraft aufs Fell. Deutlicher hätte nicht markiert werden können, dass es in den nun folgenden gut zwei Stunden ernsthaft zur Sache gehen würde. Antonini setzt durchwegs auf explizites, ja zugespitztes Musizieren – im Dynamischen, in der Akzentuierung, in der Ausformung des Rhythmischen, auch in der Gestaltung der teilweise atemberaubenden Tempi; nichts gerät hier beiläufig, jeder Ton, jede Geste wird beim Wort genommen. Möglich wird das, weil das in Mailand domizilierte Orchester Il Giardino Armonico, Antoninis Gründung 1985 und seither sein Erfolgsmodell, mit Instrumenten arbeitet, die den Klang der Jahre um 1800 evozieren. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die duftige Beweglichkeit ermöglichen, die Bläser mit ihren Instrumenten nach der Bauart jener Zeit steuern äusserst pointierte Farben bei – zumal die hochvirtuosen Naturhörner, die in der herbstlichen Jagdszene durch schallende Jagdhörner ersetzt wurden. Krass klingt das bisweilen und dann wieder flüsterzart, jederzeit aber ausdrucksvoll und packend. Dabei kommt alles aus einem einzigen Guss, die Musik scheint den Fingern des ungeheuer temperamentvoll agierenden Dirigenten zu entspringen.

Dazu kamen der aus dem polnischen Wroclaw angereiste, dort von Lionel Sow betreute NFM-Chor, der Transparenz mit Homogenität verbindet und überwältigende Klangpracht entfaltet, sowie ein hochstehendes Solistenterzett. Florian Boesch (Simon) hielt seinen opulenten Bass perfekt im Zaum; mit natürlicher Frische versah er den Landmann, der in der Frühlingssonne über sein Feld schreitet, mit Augenzwinkern berichtete er im Herbst von den auf der Lauer liegenden Jägern. Der Tenor Maximilian Schmitt (Lukas) liess anfangs noch etwas viel Vibrato hören, fand in seiner sommerlichen Cavatine, in der sich sehr konkret die Hitzewelle 2023 spiegelte, eindrucksvoll zu schaurig ermattetem Ton – spätestens da konnte jedermann bewusst werden, was uns Haydns «Jahreszeiten» bedeuten könnten. Verschmitzt und mit sorgsam eingesetztem Vibrato trug danach die Sopranistin Annett Fritsch (Hanne) die Geschichte von der jungen Bauerntochter vor, die dem Edelmann, der sie mit Geld und Schmuck um den Finger zu wickeln sucht, ein Schnippchen schlägt. Was Interpretation vermag, wie die Kunst der Verlebendigung die Gestalt eines Werks prägen kann, hier war es zu erleben.

Ähnliches gilt für den Auftritt des 1979 eingerichteten, bis heute von seinem Gründer William Christie geleiteten Ensemble Les Arts Florissants. Auch hier gelten die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis – dies aber doch in der ganz persönlichen Handschrift Christies. Der ursprünglich aus Amerika stammende, heute hochdekorierte Franzose strahlt eine auf Anhieb erkennbare Fröhlichkeit aus, er steht auch für eine elegante, geschmeidige Helligkeit des Klangs. Ausgezeichnet zu hören war das bei «The Fairy Queen», der von 1692 stammenden Semi-Opera Henry Purcells, die auf dem Konzertpodium des KKL in halbszenischer Wiedergabe dargeboten wurde. Die vielen Passacaglien, Variationen über einen gleichbleibenden Bass, die in Halbtönen absteigenden Klagelaute, der reich besetzte Basso continuo, das diskret, aber effektvoll eingesetzte Schlagwerk – all das zeugte auch an diesem Abend von der ungebrochenen Vitalität der jahrhundertealten Musik.

Zu erleben war zudem, wie im Kreis rund um William Christie nicht nur instrumental, sondern auch vokal der stilistisch adäquate Zugang gepflegt – und weitergegeben wird. Le Jardin des voix nennt sich die von Les Arts Florissants betriebene Werkstatt, in der junge Sängerinnen und Sänger ihr Handwerk in Sachen alter Musik perfektionieren können. Das ist darum sinnvoll, weil sich bei manchen Aufführungen mit alten Instrumenten die vokale Seite an der heute üblichen Ausprägung des Belcanto orientiert; Willliam Christie hielt das schon in früher Zeit anders. Bei «The Fairy Queen» war ein Ensemble von vier Sängerinnen und vier Sängern mit von der Partie – auf durchwegs respektablem Niveau. Nur war es leider nicht in ausreichendem Masse wahrzunehmen. Denn vor den Instrumentalisten im Hintergrund mischte sich unter die Vokalisten im Vordergrund eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die das musikalische Geschehen sehr heftig und sehr lautstark begleiteten. Der Versuch zu zeigen, dass in der Semi-Opera die Musik nicht die Hauptsache, sondern Teil eines vielfältigen Ganzen darstellte, und das mit heutigen Formen der Körpersprache zu tun, mag zu ehren sein. Im Endeffekt ging er jedoch daneben, denn die von Mourad Merzouki organisierte Körperarbeit hat die zarte Musik Purcells regelrecht zertrampelt.

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Neben der alten gehört auch diesen Sommer die neue Musik zur DNA des Lucerne Festival, und das in Verbindung mit der Förderung nachrückender Generationen. Das war und ist die Aufgabe der von Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez begründeten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy. Jahr für Jahr wird seit 2004 eine gute Hundertschaft an jungen Leuten, Komponistinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen, nach Luzern eingeladen, um dort unter kundiger Anleitung die Welt der neuen und neusten Musik zu erkunden. Den Höhepunkt des Unternehmens bildet jeweils der Auftritt des Lucerne Festival Contemporary Orchestra auf dem Podium des KKL: mit einem Programm, das es in sich hat, und mit einem Dirigenten, der auch bei neuster Musik seiner Sache sicher ist. Dieses Jahr war die Finnin Susanna Mälkki dafür auserkoren – das war die denkbar beste Wahl.

Gewiss, «Fett» für Orchester (2018/19) des Deutschen Enno Poppe, seines Zeichens «composer in residence» dieses Sommers, ist ein gewiss leicht zu durchschauendes, wenn auch vielleicht nicht leicht zu spielendes Stück. Es operiert mit klanglichen Blöcken, die sich, nun ja, bekämpfen, wie es in Gesellschaft und Politik unserer Tage die Regel geworden ist. In den Vordergrund tritt dabei eine fein austarierte Mikrotonalität, Augenblicke des Gleitens, des Rutschen, des Jaulens, was beim Zuhören nicht ungerührt lässt. Allein, in dieser Hinsicht gibt es von Poppe bessere Stücke, zum Beispiel «Salz» für Ensemble von 2005. Auch nicht gerade vom Sessel geworfen hat mich «Šu», ein einsätziges Konzert für die chinesische Mundorgel Sheng und Orchester von Unsuk Chin. Unvergessen die 2010 in Genf uraufgeführte Oper «Alice in Wonderland», mit der die Koreanerin einen unerfüllt gebliebenen Wunsch ihres Lehrers György Ligeti in die Tat umgesetzt hat. Im Vergleich dazu wirkte das Mundorgelkonzert etwas trivial – aber vielleicht war diese Wahrnehmung auch die Folge des Auftritts von Wu Wei, des Virtuosen an der Sheng. Amüsant war der, aber nicht mehr.

Mit reinem Sachbezug, untadelig ausgebildetem Handwerk und einer formidablen Präsenz auf dem Podium – damit punktete dagegen Susanna Mälkki. Die von ihr geleitete Wiedergabe von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» geriet zu einem grossen Moment des Festivals. Mit energischer, klarer Zeichengebung, souverän in der Bewältigung der komplexen Taktwechsel, aus spürbarer Übersicht über den musikalischen Verlauf heraus führte sie das Lucerne Festival Contemporary Orchestra durch die Klippen der Partitur, und die jungen Leute gaben ihr Letztes. Nicht dass sich sagen liesse, das Orchester habe sich gut entwickelt, es wird ja jedes Jahr neu zusammengesetzt. Aber der Eindruck eines Ritts über den Bodensee, der frühere Aufführungen von Strawinskys Meisterwerk zum «Sacré Sacre» hatten werden lassen, stellte sich an dem heftig bejubelten Abend nicht ein. Im Gegenteil, es war auch hier zu beobachten, was Interpretation bewirken kann. Jedenfalls trat die rituelle Anlage des Stücks klar heraus, ohne dass der Brutalismus die Oberhand über die sehr wohl vorhandene Schönheit der Partitur gewonnen hätte.

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Herzstück und Rückgrat des Lucerne Festival bildet jedoch nach wie vor die dichte Folge an Gastspielen grosser Orchester und ihrer Dirigenten. Das ist auch richtig so; wo in aller Welt lässt sich das in dieser Weise haben? Dabei geht es keineswegs um einen sportlich getönten Wettkampf – um die Frage, welches Orchester nun besser als das andere sei oder gar das beste von allen. Äpfel können nicht gegen Birnen ausgespielt werden, jedes Orchester trägt seine durch vielerlei Faktoren bestimmte Individualität in sich. Hier im engen Zeitraum von vier Wochen Höhen und Tiefen zu erkunden, Entwicklungen zu verfolgen – das bietet Reize von nicht nachlassender Kraft. Jedenfalls für Menschen, die zuzuhören bereit sind.

Vielleicht, ich wiederhole mich, dürfte der Horizont in der Auswahl der gastierenden Klangkörper um ein Weniges erweitert werden. Dass von den Schweizer Orchestern nur das auf bemerkenswerten Pfaden wandelnde Luzerner Sinfonieorchester, nicht aber das ebenso gut aufgestellte Orchestre de la Suisse Romande auftritt, ist kaum nachzuvollziehen. Warum nicht wieder einmal die Tschechische Philharmonie, die mit Semyon Bychkov hervorragende Arbeit an Mahler leistet? Oder das Orchestre philharmonique de Radio France mit Mikko Franck? Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder nach Luzern kommt, wenn Simon Rattle dort sein Amt als Chefdirigent angetreten hat? Es dürfte als ausgemacht gelten.

Dass der Dirigent – über dessen Funktion wird nicht erst heute, inzwischen aber besonders kritisch nachgedacht –, dass der Dirigent die entscheidende Rolle spielt, trat in den zurückliegenden Luzerner Wochen wieder in aller Deutlichkeit heraus. Besonders beim Royal Concertgebouw Orchestra, das, seit es 2018 als Folge einer #MeToo-Affäre seinen damaligen Chefdirigenten Daniele Gatti in die Wüste geschickt hat, ohne musikalischen Leiter auszukommen hat. Ebenso geschätzt wie das Orchester aus Amsterdam ist der Dirigent Iván Fischer, zumal wenn er an der Spitze des von ihm gegründeten Budapest Festival Orchestra steht. Was das Concertgebouworkest mit Fischer am Pult diesen Sommer in Luzern bot, war freilich unter beider Seiten Niveau. Das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» geriet grob und pompös, ja pathetisch, während die Siebte Sinfonie Gustav Mahlers manche technische Schwäche im Zusammenspiel offenbarte – als ob der Dirigent das komplexe Stück aus dem Ärmel hätte schütteln wollen. Mehr Glück hatte Klaus Mäkelä, der 2027 die Position des Chefdirigenten beim Concertgebouworkest antreten wird. Allerdings nicht mit Mahler. Dessen Sinfonie Nr. 4 in G-dur, die der junge Finne mit dem von ihm seit 2020 geleiteten Oslo Philharmonic im KKL darbot, zeugte gerade im Finale mit der lieblichen Sopranistin Johanna Wallroth vom Paradies, liess aber wenig von jener Gebrochenheit erkennen, die das Werk Mahlers trägt. Aber Mäkelä ist ja erst siebenundzwanzig. Und die siebte Sinfonie von Jean Sibelius, bei der Mäkelä das rhapsodische Fortschreiten optimal im Griff behielt und das Orchester zu aller Pracht führte, sprach vom Potential dieses genuin wirkenden Dirigenten.

Die Zusammenarbeit zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erfordert einen langen Atem, das ist bekannt. Wohin die Reise im besten Fall führen kann, machte der erste der beiden traditionellen Auftritte der Berliner Philharmoniker ohrenfällig. Seit 2019 steht Kirill Petrenko an deren Spitze, und nun war zu erkennen, was hier grossartig gewachsen ist. Mit Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart boten die Berliner ein deutliches Plädoyer für einen zu Unrecht vergessenen Komponisten. Dann allerdings «Ein Heldenleben» von Richard Strauss: ein Musterbeispiel an orchestraler Kunst wie an kluger Interpretation. Die Berliner gaben sich der gerade auch in ihrer Ironie meisterlichen Tondichtung mit ihrer ganzen Klangpalette hin (und die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner liess des Komponisten Gattin munter singen), während Petrenko das dichte Geflecht der Partitur auflichtete und wie ein zartes Spinnengewebe erscheinen liess. Nichts war da aufgesetzt, nichts süsslich, es herrschten Gelassenheit und Ruhe – und so blieb der Saal auch in den nirgends verkürzten Pausen mucksmäuschenstill. Allein, das war noch nicht das Nonplusultra, dafür sorgten das Gewandhausorchester Leipzig und der inzwischen nicht weniger als 96 Jahre alte Meister Herbert Blomstedt mit einer Auslegung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, die einen sprachlos zurückliess. Selbstverständlich lag auf des Dirigenten Pult die neue Ausgabe der Sinfonie von Paul Hawkshaw, sie blieb aber geschlossen, denn Blomstedt gab das Werk ganz aus seinem Inneren, aus einer lebenslang gewachsenen und zugleich uneingeschränkt gegenwärtigen Einfühlung heraus. Und in einer Demut vor der Grösse des Kunstwerks, die zu unbeschreiblicher interpretatorischer Eindringlichkeit führte. Da stimmte einfach, was stimmen muss. Das Gewandhausorchester stellte sich ganz nah an seinen früheren Chefdirigenten heran und wuchs über sich heraus.

Wenn der Geist über den Körper triumphiert: Herbert Blomstedt vor dem Gewandhausorchester / Bild Patrick Hürlimann, Lucerne Festival

Kunst und Gunst des Alters

Bruckners Fünfte mit Herbert Blomstedt

 

Von Peter Hagmann

 

Alles hatte seine Stimmigkeit an diesem Abend des Tonhalle-Orchesters Zürich – fast alles, doch davon später. Der fünften Sinfonie Anton Bruckners mit ihren knapp eineinhalb Stunden Spieldauer etwas voranzustellen, hat seinen Sinn. Erst recht, wenn es von Johann Sebastian Bach stammt, dem Meister jener Kunst des Kontrapunkts, der sich Bruckner nicht nur im Finale seiner Fünften, dort aber mit besonderer Inständigkeit hingegeben hat. Wenn aber das Vorangestellte von Bach kommt und für Orgel geschrieben ist, dann ist ein Optimum erreicht. So war es beim Auftritt des Tonhalle-Orchesters im Rahmen der erstmals durchgeführten Internationalen Orgeltage. Zu Beginn des Abends spielte der Organist Christian Schmitt, der zusammen mit Peter Solomon am Bau der neuen Orgel in der Tonhalle wesentlich beteiligt war und die erste Saison des Orchesters im neu erstrahlenden Saal als Fokus-Künstler begleitet, Bachs Fantasie mit Fuge in g-moll (BWV 542) – und führte vor Ohren, dass das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf nicht nur eine präzis auf die Bedürfnisse der Chöre und Orchester abgestimmte Konzertsaalorgel ist, dass auf ihr vielmehr auch Werke der Barockzeit adäquat dargeboten werden können. Mit einem Ausschnitt aus dem «Livre du Saint-Sacrement» des grossen Olivier Messiaen, eines wie Bruckner tiefgläubigen Katholiken und Organisten, konnte er das Publikum ausserdem in die Welt der französischen Klanglichkeit entführen.

Im hellsten Licht, wo es ihm wohl gar nicht so behagt, stand aber Herbert Blomstedt, der amerikanische Dirigent schwedischer Herkunft, der in Kürze seinen 95. Geburtstag begehen kann – und der nach den drei Zürcher Konzerten vier weitere Auftritte in Hamburg, Bremen und Berlin im Kalender stehen hat. Raschen Schrittes, ohne jede Gehhilfe, absolvierte er seine Auftritte, aufrecht, mit etwas hochgezogener linker Schulter, aber das tat er schon in jüngeren Jahren, stand er vor dem Orchester, das ganze Werk hindurch ohne Sitzpause – es ist zum Staunen. Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin sowie auf jede Form von Liften und Rolltreppen, das soll seinen eigenen Worten gemäss das Rezept sein. Vollends unbegreiflich ist aber, wie er in diesem methusalemischen Alter in der Lage ist, ein derart ausgreifendes, derart komplexes Werk wie Bruckners Fünfte so souverän zu meistern, wie es ihm am dritten seiner drei jüngsten Zürcher Abende gelang. Es ist natürlich Frucht ausgeprägter Begabung und lebenslanger Erfahrung, vielleicht aber auch, um es mit Bruckner zu sagen, eine Gnade Gottes. Das Tonhalle-Orchester Zürich fing jedenfalls sogleich Feuer und blieb dem Dirigenten in letzter Aufmerksamkeit zugewandt. Von strahlender Kraft das Tutti, pointiert und bestens integriert die Farben der Bläser, weshalb der Tonsatz jederzeit durchhörbar blieb.

Von Feuer zu sprechen ist aber vielleicht doch verkehrt; das ist es gerade nicht, was Blomstedt im Sinn hat. Er pflegt vielmehr einen sachlichen, strukturbezogenen Bruckner. Davon zeugt der helle, etwas strenge Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt – das reine Gegenteil zu der runden, emotional durchdrungenen Wärme, die Bernard Haitinks, auch Claudio Abbados Sache war. Für einen modernen Zugang zu Bruckner stehen aber auch die vergleichsweise flüssigen Tempi und der sparsame Einsatz der agogischen Unterstreichung; sie gehören zu den Kernmerkmalen von Blomstedts Auffassung. Am deutlichsten trat es im Finale zutage, wo sich der Dirigent mit geradezu neckischer Verspieltheit den Vertracktheiten hingab, wie sie die Kunst der Fuge bietet. Mit den kleinen Handzeichen, die er, ohne Taktstock schlagend, seit langem pflegt, wies er auf die jeweils erklingenden Hauptsachen hin, auf die Vergrösserungen, auf die Umkehrungen – und es war zu hören, was er sehen liess. Doch schon im Eröffnungssatz war deutlich geworden, aus welcher Übersicht heraus er die Bögen zu spannen und dennoch das Ganze zusammenzuhalten weiss. Sehr getragen, doch ohne jeden Bombast das Adagio des zweiten Satzes, entspannt, ja keck das Scherzo mit seinem Trio. Welche Erleuchtung.

Alles schön, alles gut, wäre nicht der Beginn vor dem Beginn gewesen. Der herrliche Frühsommerabend lud dazu ein, die neue Terrasse vor dem Foyer, die bei der Eröffnung der Tonhalle mit Nachdruck als deren neues Highlight bezeichnet wurde, zu erkunden und einen Blick über den See in die Glarner Alpen zu werfen. Allein, justament dort, wo die Aussicht am schönsten wird, stand wieder einer jener schwarzgewandten Aufseher, der die herandrängenden Konzertbesucher in barschem Ton darauf hinwies, dass hier weiterzugehen untersagt sei; wer es dennoch wage, werde nicht mehr in den Konzertsaal kommen. Wir salutierten und wandten uns um zurück ins Foyer, wo die unsäglichen Kordeln, die das Publikum in Zugelassene und Ausgeschlossene teilten, verschwunden waren, aber deshalb nicht viel bessere Atmosphäre herrschte. Was waren das für Zeiten im Maag-Areal, ohne Aussicht zwar, dafür aber mit Gastfreundlichkeit und ausgesuchter Höflichkeit. Vielleicht wäre es doch endlich an der Zeit, das Kongresshaus von Aufgaben zu entbinden, die es offenkundig nicht zu bewältigen in der Lage ist.

PS., erfreulicher: Am kommenden Sonntag, 12. Juni 2022, um 11.15 kommt die neue Orgel in der Grossen Tonhalle nochmals zu Wort. Anlässlich einer Matinee im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik» spielt Christian Schmitt zusammen mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters Zürich Werke von Johann Sebastian Bach, Frank Martin und Petr Eben. Dazwischen liest Stefan Kurt Gedichte von Rainer Maria Rilke.

Vom Orchesterfest zum Zukunftslabor?

Glanzlichter und Gefahren am Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Während die Salzburger Festspiele explizit den Willen zur Bewahrung ihrer künstlerischen Leitlinien verkünden (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 18.08.21) und damit auch in diesen schwierigen Zeiten auf hohe Resonanz stiessen, scheinen beim Lucerne Festival die Zeichen auf Wandel zu stehen. Hauptsache waren bisher die Auftritte berühmter Orchester mit bedeutenden Dirigenten, was dem Luzerner Sommerfestival sein spezifisches Profil als weltweit wichtigster Marktplatz orchestraler Kunst verlieh. Rund um diese Hauptsache ist in den gut zwanzig Jahren der Intendanz von Michael Haefliger jedoch ein reich bestückter Garten von Nebensachen entstanden. Neue Musik und die Förderung des musikalischen Nachwuchses stehen da im Vordergrund – zwei Spezialgebiete, die Michael Haefliger seit seinen Anfängen als Intendant beim Davos Festival mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Ein Jahr nach der auf eine Anregung Claudio Abbados zurückgehenden Gründung des Lucerne Festival Orchestra wurde im Sommer 2004 die Lucerne Festival Academy eröffnet, die ehedem von Pierre Boulez, heute von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitete Meisterschule für neue Musik, deren Angebot sich an junge Musikerinnen und Musiker richtet. Parallel dazu – und neben der von Mark Sattler kompetent und phantasievoll betreuten Reihe «Moderne» mit dem «Composer in Residence» – wurden neue Konzertformate erprobt; die prominentesten unter ihnen sind die kommentierten Kurzkonzerte, die unter dem Titel «40Min» ein grosses Publikum anziehen.

Dieses Jahr nun hat dieser Garten merklich an Aufmerksamkeit gewonnen. Mit der Bestellung von Felix Heri als neuem Manager der Academy wurde auch eine neue Strukturierung des Angebots vorgenommen (und die offizielle Festivalsprache durchgehend aufs Englische umgestellt…). Neben den Orchesterkonzerten, die inzwischen «Symphony» heissen, gibt es den grossen Bereich «Contemporary» und einen Sektor «Music for Future», welch letzterer auch alle Aktivitäten der Publikumsbildung und -bindung umfasst – von den Auftritten der Jugendorchester vor dem eigentlichen Beginn des Festivals über die mittägliche Reihe «Debut» und die verschiedenen Förderpreise bis hin zu den Sitzkissenkonzerten. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass es das Lucerne Festival Academy Orchestra, das sich aus den jeweils an der Akademie eingeschriebenen Mitgliedern zusammengesetzt hat, nicht mehr gibt. An seine Stelle ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra getreten, das sich aus dem globalen, inzwischen auf über zwölfhundert Absolventen der Akademie angewachsenen Netzwerk nährt. Netzwerkdenken führt aber auch weiter in die Programmgestaltung. Statt dem liquidierten, flugs vom Luzerner Sinfonieorchester übernommenen Klavierfestival im Herbst soll es im kommenden November eine neue, kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lucerne Festival Forward» geben, das verschiedene innovative Ansätze verfolgt. Unter anderem soll dort keine durch eine einzelne Person verkörperte künstlerische Leitung mehr wirksam werden; stattdessen sollen die Programme aus dem Contemporary-Netzwerk heraus, in einer partizipativen, auf digitaler Kommunikation beruhenden Art entwickelt werden. Mal sehen, was daraus wird.

Im Vergleich zu diesem Energieschub sehen die Orchesterkonzerte alt aus. Und leider war es, zumindest teilweise, auch zu hören – selbst bei den Berliner Philharmonikern. Auch diesen Sommer präsentierten sie sich als ein technisch höchststehendes, klanglich unverkennbares, auch sehr selbstbewusstes Orchester. Das trat schon in Carl Maria von Webers «Oberon»-Ouvertüre heraus, nur blieb hier der gestalterische Zugriff des Chefdirigenten Kirill Petrenko noch unbestimmt, zögerlich. Schön war das, aber nicht mehr. Anders die darauffolgende Wiedergabe von Franz Schuberts «Grosser» C-Dur-Sinfonie D 944, die durchaus kontroverse Reaktionen auszulösen vermochte. Petrenko hatte sich dazu entschieden, die Wiederholungen, die gerade im dritten Satz zu den berühmten «himmlischen Längen» führen, anders als viele Dirigenten durchgehend zu berücksichtigen. Er konnte es sich erlauben, basierte seine Interpretation doch auf frischen Tempi. Schon die langsame Einleitung deutete es an, das vom Komponisten vorgegebene Alla breve war jedenfalls klar zu spüren. In subtilen Schritten erreichte Petrenko dann das Allegro des Hauptteils – und da manifestierte sich des Dirigenten Sinn für Arbeit an den Zeitmassen. Immer wieder stattete er einzelne Gesten mit kleinen Beschleunigungen oder Verzögerungen aus, so wie es zu Schuberts Zeit und noch bis hin zu den Interpreten der Spätromantik üblich war. Indes blieb es in diesem Bemühen bei Ansätzen, die nicht konstitutiv wirkten.

Vor allen Dingen aber trieb Petrenko das Finale in einen förmlichen Geschwindigkeitsrausch hinein, was zur Folge hatte, dass die kleinen Tonbewegungen des Satzes nicht mehr wahrzunehmen waren. Hier wurde auch der Klang so kompakt und massiv, dass das spezifische Kolorit Schuberts auf der Strecke blieb. Vielleicht ist die bisweilen melancholische, auch fragile Klangwelt Schuberts nicht das, was Kirill Petrenko naheliegt. So gedacht am zweiten Abend, der mit einem Feuerwerk anhob: mit dem frechen, wild himmelstürmerischen Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur von Sergej Prokofjew. Was Anna Vinnitskaya da an Fingerfertigkeit und metallener Kraft, auch an Klangsinnlichkeit aufbot, war stupend – und die Berliner gingen mit, hellwach und ohne je mit der Wimper zu zucken. Er recht bei sich war Kirill Petrenko in der Sinfonischen Dichtung «Ein Sommermärchen» von Josef Suk. Beredt, schwerblütig schildert der Komponist einen Tag in seinem traurigen Leben nach dem Tod des Schwiegervaters Antonín Dvořák und jenem seiner Gattin. Er tut das in Geist und Ton der Spätromantik, wenn auch mit gelegentlichen Anklängen an modernere Strömungen, etwa den Impressionismus. Leicht zu hören ist das Werk nicht, es fügt sich nicht von selbst ins Ohr. Allein, die fabelhafte Auslegung durch die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko verhalf dem Werk zu pulsierendem Leben. Die Farben in enormer Pracht entfaltet, die Bögen von weitem Atem getragen, die Verlaufskurven so griffig geformt, dass Suks Schöpfung förmlich zu erzählen begann.

Ganz und gar konkret wurden auch die Bamberger Symphoniker mit ihrem Chefdirigenten Jakub Hrůša – und das bei Musik aus den letzten sechs Jahren, nämlich im «Räsonanz»-Konzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Auch dieses Orchester ist hervorragend aufgestellt, seit langem übrigens: Hrůša hat ja das erstklassige Erbe von Jonathan Nott angetreten und steht im Begriff, es in einer sehr persönlichen Weise weiterzuentwickeln. Wie wörtlich das zu verstehen ist, erwies der Abend im KKL Luzern. Wo andere Dirigenten bei neuer Musik, weil sie eben neue Musik ist, die Emphase scheuen, bringt sich Hrůša als Interpret ebenso kraftvoll ein wie bei Werken von Dvořák oder Smetana. Das in Uraufführung erklingende «Offertorium» von Iris Szeghi, Teil eines gross besetzten Requiems, offenbarte seine feinnervige Faktur in aller Subtilität – auch dank der Mitwirkung der Sopranistin Juliane Banse. Im Violinkonzert von Beat Furrer, in dem Ilja Gringolts den Solopart versah, waren die klanglichen Reize und der klare Bogen von einem leisen Beginn über einen eruptiven Mittelteil zurück zum Leisen packend herausgearbeitet. Von besonderer Haptik war jedoch das Orchesterwerk «Move 01-04» von Miroslav Srnka. Der vielbeachtete Komponist aus Prag arbeitet mit Tonschwärmen, die zeichnerisch entworfenen Modellen folgen, und bringt auf dieser Basis das in grosser Besetzung angetretene Orchester zu betörend üppigem, gleichzeitig unerhört beweglichen Klang. Die Bamberger und Hrůša waren mit vollem Einsatz bei der Sache und erspielten sich einen rauschenden Grosserfolg.

Dasselbe gilt für den ersten der beiden Auftritte der Wiener Philharmoniker. Am Pult stand diesmal Herbert Blomstedt – unverwüstlich mit seinen 94 Jahren. Und angesagt war die vierte Sinfonie Anton Bruckners. Was für ein Fest. Da stimmte einfach alles. Das Orchester schenkte dem Dirigenten, was es zu schenken vermag: den kräftigen, aber doch offenen Ton, Glanz und Strahlkraft im Lauten wie flüsternde Zartheit im Leisen, restlos stimmige Übergänge, ja überhaupt ein orchestrales Zusammenwirken vom Feinsten. In einem einzigen, unglaublich geschlossenen Bogen zogen die vier Sätze von Bruckners «Romantischer» durch Raum und Zeit, und zugleich gab es in jedem Moment zu hören, was die Partitur nahelegt. Dass die Interpretation einen Zug ins Altväterische trug, dass Herbert Blomstedt bei Bruckner nicht die Schritte tut, die er bei Beethoven wagt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 19.08.20), wer wollte es ihm verdenken? Im späten 20. Jahrhundert wurden neue Zugänge zu Bruckners Musik entwickelt, wurde das Geschmeidige neben dem Parataktischen, das Fragile neben dem Festgefügten entdeckt. Mit Herbert Blomstedt kehrte ein Bruckner-Bild früherer Zeiten zurück: die Sinfonie als ein in die Weite der klanglichen Flexibilität geführtes Orgelwerk, die Musik im Zeichen gründerzeitlicher Selbstgewissheit. Das geschah allerdings in einem Geist, der in seiner Konsequenz, seiner Achtsamkeit und seiner Präzision das Signum des Einzigartigen trug. Jubel und Stehapplaus.

Gefeiert wurde auch Mirga Gražinytė-Tyla – sehr zu Recht. Im Zyklus der Sinfonien Robert Schumanns, den das Luzerner Sinfonieorchester und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet hatten (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.09.21), dirigierte sie die Nr. 1 in B-Dur, die «Frühlingssinfonie», und die Nr. 2 in C-Dur. Sie tat das mit einer derartigen Energie, mit einem solchen Schwung, dass man ein Mal übers andere ins Staunen geriet. Das doch sehr unterschiedliche Klima in den beiden Sinfonien traf sie überzeugend, und die vom Klavier her gedachte, aber orchestral meisterlich ausgefächerte Faktur liess sie von innen her prachtvoll leuchten. Gewiss, nicht alles gelang. In der C-Dur-Sinfonie blieb das wunderschöne Adagio espressivo des dritten Satzes seltsam unbeteiligt. Obwohl die Dirigentin meist die Achtel schlug, wurde der Zwei-Viertel-Takt doch spürbar, nur kamen die geteilten Bratschen, die sich synkopisch zwischen die Ober- und die Unterstimme legen, nicht wirklich zur Geltung. Und die beiden grossartigen Aufschwünge in der Mitte dieses Satzes entbehrten der Spannkraft. Mag sein, dass das auch auf das Mozarteum-Orchester Salzburg zurückging, eine in jeder Hinsicht mittelmässige, schläfrig wirkende Formation, die sich auch durch den unerhörten Körpereinsatz der zierlichen Frau am Pult nicht aufrütteln liess. Warum ein solches Orchester beim Lucerne Festival auftritt, ist ein Rätsel; es dient weder der charismatischen jungen Dirigentin noch dem Festival und seinem Publikum.

Nicht nur das, es ist auch Symptom: Das Herzstück des Lucerne Festival schwächelt. Es hat an Bedeutung wie an Ausstrahlung eingebüsst; unter den «Essentials» des Festivals wird es im Generalprogramm nicht einmal erwähnt. Keine Frage, in diesen Zeiten der Pandemie mit ihren Einschränkungen und Planungsunsicherheiten ein Orchesterfest durchzuführen, ist alles andere als einfach. Das Lucerne Festival liess sich nicht unterkriegen und hat Erstaunliches zustande gebracht. Die Zeichen der Ermüdung, die merklich kontrastieren mit dem Aufbruch in anderen Bereichen des Programms, sind freilich nicht auf die Pandemie zurückzuführen, sie haben ästhetische, wenn nicht systemische Gründe. Neben den Höhepunkten, von denen hier die Rede war, gibt es einen Überhang an Immergleichem und leider auch an Gewöhnlichem. Dreimal Barenboim, zweimal mit dem Diwan-Orchester, einmal mit der Staatskapelle Berlin, das ist entschieden zu viel. Und am Pult kommen Dirigenten zu Wort, die den Betrieb aufrechterhalten, aber wenig zu sagen haben, während künstlerisch aufsehenerregende Vertreter, zumal solche jüngerer Generation, ausgeschlossen bleiben. Wo ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wo die Dresdener Staatskapelle oder das Gewandhausorchester? Und wo ist ein Dirigent wie François-Xavier Roth, der im Kölner Gürzenich hervorragende Arbeit leistet und ausserdem mit Les Siècles ein aufregendes Orchester mit Instrumenten aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen betreut? Das SWR-Sinfonieorchester Stuttgart mit seinem Chefdirigenten Teodor Currentzis kommt zwar ins KKL, aber nicht im Rahmen des Lucerne Festival – warum? Und warum tritt das Concertgebouworkest nicht einmal mit Krzysztof Urbánski oder Santtu-Matias Rouvali statt mit einem der Entbehrlichen auf? Erneuerung tut not. Auf dass das Orchesterfest das bleibe, was es für das Lucerne Festival sein soll: «Das Gipfeltreffen der Besten».

Ganz in der Gegenwart – Herbert Blomstedt beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Es geht wieder. Es gibt wieder Konzerte. Nicht am Bildschirm, sondern in der Realität. Nicht Haus-, Hof- oder Altersheim-Konzerte, sondern vollgültige Auftritte professioneller Orchester. «Life is live» ruft das Lucerne Festival, das sein für diesen Sommer angekündigtes Programm am Mittwoch, den 29. April, um 15 Uhr 59 voll und ganz abgesagt hat, es abzusagen und der Pandemie zu opfern gezwungen war, das nun aber, da die einschneidenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens nach und nach gelockert werden, eine gut einwöchige Ersatz- und Kurzausgabe aus dem Hut gezaubert hat. Immerhin – nein: wunderbar.

Gewiss, anders als gewöhnlich dauerte das Konzert bloss eineinhalb Stunden, es enthielt auch keine Pause – das Virus verlangt seinen Tribut. Schon am Eingang wurden Masken abgegeben und wurde zur Desinfektion der Hände eingeladen, im Konzertsaal selbst waren nur die Hälfte der Sitze besetzt, nur knapp 1000 der gut 1800 Plätze hatten verkauft werden dürfen, dazu kam eine Menge fremdartiger Begrüssungsrituale. Alle hatten den ganzen Abend über ihren Mund- und Nasenschutz aufgesetzt – oder fast alle: die drei älteren Grazien in meiner Nachbarschaft mochten der vor Konzertbeginn unablässig aus dem Lautsprecher verkündeten Aufforderung nicht Folge leisten, sie trugen die Maske fröhlich unter der Nase oder am Kinn. Life is live.

Eigenartig auch der Anblick des Podiums. Dort sass das Lucerne Festival Orchestra in Kammerformation, aber auf einer Fläche, die sonst von Klangkörpern in Normalbesetzung beansprucht wird – zwischen den einzelnen Orchestermitgliedern gab es eben die als Folge der Pandemie vorgeschriebenen Abstände. Mit 35 Musikerinnen und Musikern wurde an diesem Abend die «Eroica» gespielt – in jener Besetzung, in der Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 3 in Es-dur an ihrer ersten Aufführung 1804 beim Fürsten Lobkowitz in Wien erklungen ist. Der Musiksaal in dessen Palais ist von repräsentativer Dimension, aber natürlich weitaus kleiner als der Konzertsaal im KKL Luzern. Umso überraschender, dass die Darbietung des auf drei Dutzend Mitglieder zusammengezogenen Lucerne Festival Orchestra in keinem Augenblick schmalbrüstig wirkte, auch in oberen Rängen fehlte es nicht an Lautstärke und auch nicht Kraft.

Kräftig heisst eben nicht laut. Als ein aus Solisten bestehender Klangkörper vermag das Lucerne Festival Orchestra auch in kleiner Besetzung den Eindruck musikalischer Wucht zu erzeugen – ja, dort gelingt es besonders gut. Nicht nur erhalten im aufgelichteten Klangbild die einzelnen Stimmen scharfes Profil, bildet das Gesamtgeschehen also eine ganz eigene Vitalität aus, die veränderte Balance lässt die Bläser auch hörbarer hervortreten, was nicht nur Deutlichkeit schafft, sondern auch eine grössere dynamische Bandbreite. Dazu kamen in dieser Luzerner «Eroica» Spielweisen, wie sie im 18. Jahrhundert verbreitet waren, zum Beispiel die deutliche Unterscheidung zwischen gebundenen und gestossenen Noten oder ein Atmen, das sich an den Gepflogenheiten des Sprechens orientiert. Nicht alle Streicher sahen sich in der Lage, das Vibrato zu reduzieren, aber vielen gelang es. Entstanden sind so Klänge von ganz unerhörter Farbgebung.

Aus dem Orchester herausgelockt hat das nicht ein Spezialist der historisch informierten Aufführungspraxis, sondern Herbert Blomstedt, mit seinen 93 Jahren der wohl älteste aktive Dirigent überhaupt – aufrecht stand er da, ohne einen Sitz zu benutzen bewältigte er das Konzert.  Reich an Erfahrung, auch an Lebenserfahrung, und fest verankert in der philharmonischen Orchestertradition, in jungen Jahren aber auch an der Schola Cantorum Basiliensis ausgebildet, gab er zu erkennen, dass seine Neugierde nicht erloschen ist, dass er vielmehr lebendig Anteil nimmt an den geistigen und musikalischen Bewegungen der Gegenwart – in gleicher Weise wie sein Altersgenosse Bernard Haitink, in der Sache aber doch noch eine Spur entschlossener. Davon zeugte schon die 2017 mit dem Gewandhausorchester Leipzig erarbeitete Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethoven, die mit ihrem klanglich leichten, agilen Duktus für sensationelles Aufsehen erregt hat. Die Luzerner Aufführung der «Eroica» unterstrich das – allerdings in besonderer Weise, denn an den Live-Eindruck kommt eine Aufnahme, sei sie technisch noch so perfekt, niemals heran.

Die kristallklare, zugleich aber auch opulente Akustik im KKL schuf den Raum für federnde Akzentsetzung. Elegant markierten die Akkordschläge den Beginn des Kopfsatzes; sie gaben zu verstehen, dass hier ein Komponist zu einem Statement ansetzte, dass er das aber mit den Mitteln autonomer Kunst tat. Die Leichtigkeit, die aber keineswegs beiläufig wirkte, fand sich wieder im Scherzo des dritten Satzes; besonders deutlich wurde hier, zu welcher Wirkung Akzente kommen können, wenn sie auf der Basis des leisen Tons aufbauen – und wie dann das Finale anschloss, war von ungeheurer Spannkraft. Zum Höhepunkt geriet aber der Trauermarsch, der nicht wie in der bis heute von Dirigenten wie Daniel Barenboim oder Christian Thielemann gepflegten spätromantischen Tradition in schwerem Schritt daherkam, der seine Abgründe vielmehr in einer Vielfalt an dunklen Farben öffnete – und das in einem Tempo, das nahe an den Forderungen des Komponisten stand. Überwältigend, wie das Lucerne Festival Orchestra, das hier sozusagen in seiner Stammbesetzung auftrat, das alles Wirklichkeit werden liess.

Zu Beginn, wie es die ursprünglichen Planungen vorgesehen hatten, das Klavierkonzert Nr. 1 in C-dur Ludwig van Beethovens – mit Martha Argerich als Solistin. Die Pianistin, wie Herbert Blomstedt in der Schweiz ansässig, geht auch schon auf die achtzig zu; wie agil sie das Podium betritt und wie perlend ihre Finger über die Tasten gleiten, ist ein Wunder. Im eröffnenden Allegro con brio drängte sie nicht wenig, versuchte sie ihr Recht gegenüber dem Dirigenten durchzusetzen – ohne das geht es bei Martha Argerich nicht. Bewusst und deutlich artikulierte sie, die Rhythmen schärfte sie pointiert und am Ende der Durchführung genoss sie hörbar die Begleitung durch die wunderschön geraden Töne der Bratschen. Der langsame Mittelsatz wirkte vielleicht etwas zelebriert. Dennoch gab es hier manches zu bewundern. Ein hauchzartes Pianissimo etwa, ein herrlich freier Umgang mit den Tempi und Ansätze asynchronen Spiels – beides ganz im Geiste Beethovens.

Ein exemplarisches Konzert. Das Lucerne Festival hat damit einen Markstein gesetzt in eine gesellschaftspolitische Landschaft, die, obwohl die Schweiz durch eine der klassischen Musik eng verbundene Bundespräsidentin repräsentiert wird, von bedenklicher Gleichgültigkeit gegenüber der Kunst beherrscht wird – der Gleichgültigkeit insbesondere gegenüber den aufführenden Künsten, die das Hier und jetzt des Moments und den Dialog mit dem Gegenüber des Publikums in einer besonderen Weise benötigen. Das war wohl die wichtigste Botschaft dieses Abends.

Lucerne Festival (5) – Orchester und Dirigenten

 

Peter Hagmann

Was zählt, ist noch immer die Qualität

Erkundungen in Sachen Orchesterkultur

 

Ist das nun der befürchtete Scherbenhaufen? Nach der Abstimmung im Luzerner Kantonsparlament, das am 12. September, am Montag nach Abschluss der erfolgreichen Sommerausgabe des Lucerne Festival, den von der Kantonsregierung begehrten Projektierungskredit für die Salle Modulable in der Höhe von 7 Millionen Franken mit 62 gegen 51 Stimmen (bei 2 Enthaltungen und 5 Abwesenden) verworfen hat, steht diese Frage absolut im Raum. Wie wird sich die Stadt, deren Parlament sich demnächst ebenfalls zu dem Projekt äussern soll, jetzt verhalten? Was werden die Initianten dem fatalen Votum entgegensetzen? Ist das Projekt, das für die Entwicklung der darstellenden Kunst und die Ausstrahlung der Kulturstadt Luzern so einzigartige Perspektiven böte, definitiv beerdigt? Noch ist nicht aller Tage Abend, in der Politik gilt das ganz besonders. Aber der Rückschlag ist bitter.

Zumal die diesjährige Sommerausgabe des Lucerne Festival über ein ganz besonderes Profil verfügte. «PrimaDonna», das Thema dieses Jahres, das die Rolle der Frau in der klassischen Musik, insbesondere in der führenden Position am Dirigentenpult in den Blick nahm, hat Fragen aufgeworfen, die nah an den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit stehen. Gleichzeitig, und Besseres hätte wohl nicht geschehen können, hat sich das Thema selber ausser Kraft gesetzt. Durch den bewussten Einbezug von Frauen ins sommerliche Geschehen – ein thematisch zentrierter «Erlebnistag» öffnete Dirigentinnen den Weg ans Pult, Olga Neuwirth trat als «composer in residence» in Erscheinung – wurde offenkundig, dass die klassische Musik weiter ist, als es den Anschein hat; jedenfalls betreten Frauen heute die Bühnen ohne lauten Ton, aber unmissverständlich. Bei einem ausserordentlichen Talent wie Mirga Gražinytė-Tyla, der 30jährigen Dirigentin aus Litauen, die soeben die Leitung des City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hat, wurde deutlich, dass es in der Tonkunst zuallererst noch immer um die Qualität, keineswegs aber um das Geschlecht geht. Die Frau, die etwas bietet, setzt sich nicht weniger durch als der entsprechende Mann.

Der Blick zurück

Dass sich die Qualität keineswegs von selbst versteht, das war bei den 28 Orchesterkonzerten, die nach wie vor das Rückgrat des Lucerne Festival bilden, mit Händen zu greifen. Als vielversprechend darf der Einstand von Riccardo Chailly an der Spitze des Lucerne Festival Orchestra gelten. Die achte Sinfonie von Gustav Mahler wurde – mit allen Einschränkungen, die das Ende des ersten Teils betreffen – zu einem Ereignis der besonderen ersten Art. Genauso die Sinfonie Nr. 8 von Anton Bruckner, die der 87jährige Bernard Haitink im zweiten Auftritt des Festivalorchesters magistral auslegte. Es geht doch nichts über alte Meister – das bestätigte Herbert Blomstedt am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters. Knapp zwei Jahre älter als Haitink, eilte er behende zum Podium; dort stand er seine neunzig Minuten aufrecht durch – denn Blomstedt dirigierte, auswendig notabene, Bruckners Fünfte. Dabei schöpfte er aus der Fülle seiner Erfahrung, was ihm erlaubte, die Energien effizient zu bündeln und die klanglichen Gewichte optimal in Balance zu halten. Zugleich zeigte er sich ganz auf der Höhe der Zeit: stand er für eine aktuelle Sicht auf Bruckner ein – logischerweise, hat er sie doch selbst mitgestaltet hat. Schlank und durchhörbar blieb darum der Klang, zügig waren die Tempi angelegt, für Pathos blieb keine Zeit. Umzog mehr Aufmerksamkeit galt den Strukturen; trennscharf und bis weit ins Innere des Geschehens hinein erkennbar erklang etwa das Finale mit seinen ausgedehnten fugierten Teilen.

Bei Daniele Gatti, den sich das Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam als Chefdirigenten ans Pult geholt hat, war es gerade umgekehrt. Fast 35 Jahre jünger als Blomstedt, wirkte er als Interpret um Jahrzehnte älter als sein Kollege. Er hatte sich Bruckners Vierte vorgenommen, die lyrisch singende «Romantische», die bei ihm dick und fett, klanglich massiv und mit schwerer Emotion beladen daherkam. Unglaublich gedrosselt die Tempi. Gewiss, das Orchester wusste diese Verläufe zu tragen, da Mariss Jansons seinem Nachfolger einen Klangkörper in ausgezeichneter Verfassung hinterlassen hat, und der Dirigent verstand sie mit Spannung zu erfüllen. Dennoch wirkte Gattis Ansatz im Ganzen unangenehm mystifizierend, bisweilen führte er gar zu Anflügen von Kitsch. Dass Bruckners Musik nicht reines Gefühl verströmt, vielmehr hochgradig strukturiert ist und lebendig atmet, das haben in der jüngeren Vergangenheit Dirigenten wie Günter Wand oder Nikolaus Harnoncourt vorgeführt; Daniele Gatti scheint davon nichts zu Kenntnis nehmen zu wollen. So war nicht weiter verwunderlich, dass auch die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers leichtfüssiger Zauberoper «Oberon» ausgesprochen zähflüssig geriet. Dem wunderbaren Concertgebouworkest könnten schwierige Jahre bevorstehen.

Das dürfte auch für die Münchner Philharmoniker gelten, die sich für Valery Gergiev als neuen Chefdirigenten entschieden und sich damit im Vorfeld des Amtsantritts erhebliche Turbulenzen eingehandelt haben. Sie sind – das ist nun mal so Sitte und macht eine der Besonderheiten des Luzerner Festivals aus – in dieser neuen Konstellation gleich ins KKL gekommen und haben dort denkbar unglückliche Figur gemacht. Das Orchester erschien als mau und klang unidentifiziert, ohne Persönlichkeit und Ausstrahlung – in der Luzerner Konkurrenzsituation nicht gerade von Vorteil. Allerdings war das auch kein Wunder angesichts eines Programms, das mit Auszügen aus «Romeo und Julia» von Sergej Prokofjew, mit der Fantasie über «Die Frau ohne Schatten» und der Tondichtung «Don Juan» von Richard Strauss sowie dem «Poème de l’extase» von Alexander Skrjabin lauter Reisser enthielt. Valery Gergiev, der wieder mit seinem Zahnstocher in der Hand agierte und genialisch in die Musik hineinbrüllte, gelang es nicht, den vier Werken je eigenes interpretatorisches Profil zu schaffen, es klang alles ähnlich laut und schwarzweiss. Wenn im «Poème de l’extase» die Wellenbewegungen den Zuhörer nicht mitreissen, wenn im «Don Juan» kein jugendfrischer Enthusiasmus aufschiesst, dann stimmt etwas nicht. Auffallend mässiger Beifall und betretene Gesichter.

Auch nicht gerade prickelnd geriet der Auftritt des Cleveland Orchestra, mit dem es in den nächsten vielleicht einmal eine Pause geben könnte. Seinem langjährigen Chefdirigenten Franz Welser-Möst ist es gelungen, die «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» trotz korrekter Aufstellung des Orchesters mit dem Klavier in der Mitte (und einer fulminanten Pianistin) so spannungsarm und farblos erscheinen zu lassen, dass die Köpfe bald nach vorne fielen. Beethovens «Eroica» lud er dafür derart auf, dass die Wände wackelten, denn das Orchester war stark besetzt und klanglich auf  mächtige Kompaktheit getrimmt. Das erlaubte dem Dirigenten, in der Wahl der Tempi den Wünschen des Komponisten zu folgen, was neueren Erkenntnissen entspricht; die Wiederholung der Exposition liess er nach alter Väter Sitte dann aber wieder aus. Laut, aber unerhört klangschön fuhren auch die Berliner Philharmoniker ein; fast hatte es den Anschein, als habe sich Simon Rattle mehr von der Pracht des Orchesters verführen zu lassen, als dass er sie gestaltet hätte. Bei den acht Slawischen Tänzen von Antonín Dvořák wurde das zum Problem. So verdienstvoll die Idee war, sie einmal nicht als Zugaben zu verwenden, sondern sie als Sammlung in ihrer Gesamtheit erklingen zu lassen, so rasch verflog der Reiz, weil sich die einzelnen Stücke – auch und gerade in der orchestralen Ausführung – zu ähnlich waren. Und die Sinfonie Nr. 2 von Johannes Brahms, das lichte, sommerliche Werk in D-dur, fand an diesem Abend der Berliner einen Ton, dessen unerhörte Kompaktheit der Partitur doch merklich widersprach.

Ein Debüt

Unter dem Strich sorgten diesen Sommer die etablierten Grössen weder für An- noch für Aufregung. Besorgniserregend ist das noch nicht, es bildet eher den courant normal ab, der beim Lucerne Festival (und nur dort in dieser Breite wie dieser Dichte) sehr genau beobachtet und bemessen werden kann. Für Aufsehen ausserhalb des Gewohnten sorgte ein Newcomer. Es war der Russe Kirill Petrenko, der in absehbarer Zukunft als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nach Luzern kommen wird. Sein Luzerner Debüt absolvierte er aber noch mit dem Bayerischen Staatsorchester München, dem Orchester der Bayerischen Staatsoper, bei der er als Generalmusikdirektor zum Rechten schaut – und er schuf eine Sensation, wie sie vor zwei Jahren dem Schweizer Philippe Jordan und dem von ihm geleiteten Orchester der Oper Paris gelungen ist. Welch glühende Verbindung zwischen Orchester und Dirigent, welch feuriges Musizieren auf der Stuhlkante – und was für ein Effekt beim jubelnden Publikum. Das Vorspiel zum ersten Aufzug von Wagners «Meistersingern» feingliedrig und äusserst ziseliert, die Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Diana Damrau in einer Innigkeit sondergleichen – und zum Abschluss doch tatsächlich dessen «Sinfonia domestica», das nicht gerade von ironischer Distanz lebende Selbstporträt des jungen Komponisten als Hausvater mit zickiger Gattin und süssem Kleinkind. Nur wer diese überladene Partitur bis ins Innerste zu zügeln vermag und sie dennoch wie ein Feuerwerk explodieren lassen kann, darf es wagen, sie aufs Programm zu setzen. Kirill Petrenko ist es gelungen – ein Sieg der Qualität.