Jugendsturm? Altersweisheit?

Lucerne Festival:
Das BR-Symphonieorchester mit Simon Rattle,
das Orchestre de Paris mit Klaus Mäkelä

 

Von Peter Hagmann

 

Das Lucerne Festival ist zwar noch keineswegs vorbei. Dennoch lässt sich annehmen, dass das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München und sein neuer Chefdirigent Simon Rattle für den Höhepunkt in der diesjährigen Sommerausgabe gesorgt haben. Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 6 stand auf dem Programm des Münchner Gastspiels im Konzertsaal des KKL Luzern – eine Schicksalssinfonie für den Komponisten und ein Zentralwerk für den Dirigenten. Mahler hat die Partitur 1903 bis 1906 unter dem Eindruck endzeitlicher Gefühle geschaffen – in eigenartiger Vorausahnung dreier schwerer Schicksalsschläge. 1907 starb, noch nicht fünf Jahre alt, seine erste Tochter Maria Anna, im selben Jahr verlor er seine Position als Direktor der Wiener Hofoper, und zugleich empfing er die Diagnose jener unheilbaren Herzkrankheit, die 1911 zu seinem Tod führte.

Bei Simon Rattle wiederum, so berichtet es die Ankündigung im Gesamtprogramm des Festivals, habe die frühe Begegnung mit Mahlers Sechster zur Entscheidung für eine Laufbahn als Dirigent geführt. Als er 1987, 32 Jahre alt, bei den Berliner Philharmonikern debütierte, tat er es mit Mahlers Sechster, mit demselben Werk verabschiedete er sich von diesem Orchester, und nun, zum Auftakt der verheissungsvollen Partnerschaft in München: Mahlers Sechste, sie ist inzwischen auch schon auf CD erschienen. Verheissungsvoll ist die neue Partnerschaft, weil die Orchestermitglieder und ihr Chefdirigent intensiv am Aufbau einer gemeinsamen Basis arbeiten. Das war in Luzern zu sehen, vor allem aber zu hören. Mit seiner detailreichen Zeichensprache ging Rattle sehr konkret auf das Orchester zu, die Musikerinnen und Musiker antworteten ihm mit Einsatz und Spiellust. Ganz besonders jedoch mit emotionaler Resonanz. Über die langen Jahre seines Wirkens ist Simon Rattle zu einem Ausdrucksmusiker erster Güte geworden; bei den BR-Symphonikern mit ihrer ausgeprägten Orchesterkultur ist er damit bestens aufgehoben – weshalb die neue Konstellation zu einer glücklichen Ära werden könnte wie weiland jene mit Lorin Maazel oder Mariss Jansons.

Die Luzerner Aufführung von Mahlers Sechster wurde jedenfalls zu einem tief berührenden, ja aufwühlenden Ereignis. Unerhört heftig, angespannt bis zur letzten Faser, klanglich zugespitzt nahm Rattle den Anfang, das zweite, liebliche Thema kam dagegen ganz ruhig und still daher, wie die ebene Fläche eines Sees – nicht Kunst war das, sondern Leben, eins zu eins. Welche Weiterungen der Beginn nehmen würde, war in diesem Augenblick noch nicht zu ahnen, zu hören bekam man es dann im Finale. Beängstigend, wie die Spannung in einem düsteren Kontinuum anzog, bis sie sich im ersten Hammerschlag löste. Drei dieser Schläge hatte Mahler vorgesehen, nach der von ihm 1906 dirigierten Uraufführung ersetzte er den dritten durch einen Beckenschlag. Rattle reagierte auf des Komponisten Eingriff, indem er für diesen dritten Schlag nicht weniger als drei Perkussionisten aufbot: ein Effekt der Sonderklasse, aaber eben klar in des Komponisten Biographie verankert. Für die beiden Binnensätze wählte Rattle die spätere Reihenfolge mit dem Andante vor dem Scherzo. Farbenreich entwickelte sich der langsame Satz aus einem prononcierten Pianissimo heraus – nicht nur hier, hier aber ganz besonders konnte man an Leonard Bernsteins Mahlers-Bild denken. Im Scherzo frappierte vor allem das Trio mit seiner markigen Artikulation und den krass ausgestellten Farben, etwa jene der Klarinette.

Jede Spur von Wohlanständigkeit war in dieser Auslegung getilgt, Rattle ging aufs Ganze, wie es Nikolaus Harnoncourt bei Beethovens Fünfter 2011 zu seinem Abschied von Zürich getan hatte. Das öffnete Türen zum Werk, es schuf Einsichten und Empfindungen, die sich einem tief ins Gedächtnis eingruben. Genau das ist Klaus Mäkelä am Pult des von ihm als Chef geleiteten Orchestre de Paris nicht gelungen. Kein Wunder, Mäkelä ist 27 Jahre alt und noch ganz und gar mit sich, mit seiner Wirkung vor dem Orchester und dem Publikum beschäftigt – der heisse Wirbel, der von den Agenturen und den Medien um den jungen Mann veranstaltet wird, ändert nicht das Geringste daran. Gewiss, Mäkelä ist ein genuin begabter Dirigent, vielleicht sogar einer, der dem Orchester zuhört, sein Profil als Interpret kennt indes noch reichlich Luft nach oben. Zugegeben, die Gesamtaufnahme der Sinfonien von Jean Sibelius, die er mit dem Oslo Philharmonic erarbeitet hat, erlaubt jede Menge Hoffnung, sein Luzerner Auftritt mit dem Orchestre de Paris jedoch blieb definitiv im Rahmen des Ordentlichen.

Zum Beispiel im Violinkonzert von Peter Tschaikowsky, dessen Solopart Lisa Batiashvili, in die Farben der Ukraine gekleidet und auf diesem Weg ein Zeichen der Solidarität mit dem Nachbarland ihrer ebenfalls bedrohten Heimat Georgien setzend, mit aller Brillanz gemeistert wurde – fabelhaft war das. Das Orchester war jederzeit zur Stelle, was nicht wenig ist, wenn auch nicht genug. Bei der Symphonie fantastique von Hector Berlioz hatte das schwere Folgen. In Klaus Mäkeläs Auslegung zeigte das Stück seine effektvollen Seiten, Zeichen eines persönlichen Zugangs zu dem ebenso anregenden wie umstrittenen Werk liess sie jedoch vermissen. Dafür sah man Sprünge des Dirigenten auf das Orchester zu, als gälte es Schar Schlafwandler aufzuwecken – was keineswegs der Fall war, gab sich das Orchestre de Paris seine Dirigenten doch lustvoll hin. Und dreifahrende Schläge mit dem Taktstock gab es, wie wenn der Dirigent den Hammer aus Mahlers Sechster zu betätigen hätte: vielleicht ein Ausdruck des Temperaments, in der Sache aber unnötig. Nötig gewesen wäre die Arbeit an den Instrumentalfarben, etwa an der so herrlich schnarrenden Schwärze der tiefen Blechbläser im finalen «Dies irae» – sie blieb beiläufig und unterspielt. Ein wenig Nachdenken, über sich, über die Stücke, über das Verhältnis zwischen dem Werk und dem Interpreten, wäre gewiss von Vorteil.

Leidenschaft des Leisen

Lucerne Festival:
Beat Furrer, «composer in residence»

 

Von Peter Hagmann

 

Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit Beat Furrer beim Lucerne Festival zum ersten Mal als «composer in residence» in Erscheinung trat. Gab es schon damals eine reiche Auswahl an Werken zu hören, so ist das Œuvre des bald siebzigjährigen Schweizers in Wien inzwischen kräftig gewachsen. Was es an Besetzungen und Gattungen gibt, findet sich in seinem kontinuierlich aufgebauten Werkverzeichnis. Eines ist jedoch geblieben: Es ist eine klar erkennbare, wenn auch nach vielen Richtungen erkundete und erweiterte Handschrift. Ihr zentrales Kennzeichen ist das Leise, das der Komponist ähnlich wie Helmut Lachenmann oder Salvatore Sciarrino mit besonderer Zuwendung pflegt.

So erstaunt denn nicht, dass Beat Furrer seinen Kollegen Salvatore Sciarrino mit einer kleinen Assonanz grüsst. In «Begehren», einem Beitrag Furrers zum Musiktheater, der 2003 in Graz, in der damals neuen Helmut-List-Halle, szenisch aus der Taufe gehoben worden ist – in «Begehren» scheinen für einen kurzen Moment jene kleinen, absteigenden, vom Leisen aus im Nichts verschwindenden Gesten auf, die Sciarrinos Musik so unverkennbar machen. «Begehren» ist auch diesen Sommer beim Lucerne Festival erschienen, nicht szenisch, sondern konzertant, aber doch auf der Bühne des Luzerner Theaters. In jenem Haus also, in dem Furrer, übrigens in denkbar eindrucksvoller Weise, Sciarrinos Oper «Luci mie traditrici» dirigiert hat – dies im Herbst 1999, zwei Jahre vor der konzertanten Uraufführung von «Begehren» im Schauspielhaus Graz.

Das Leise, Kleinräumige und gerade darin scharf Profilierte übt eben seine ganz eigene Anziehungskraft aus. Am Beispiel von «Begehren» ist es in besonderem Mass zu erleben. Und in besonderer Plausibilität. Auf einer Collage von Texten Cesare Paveses, Günter Eichs, Vergils und Hermann Brochs geht Beat Furrers Stück dem Orpheus-Mythos nach, genauer: dem verbotenen, fatalerweise aber gleichwohl ausgeführten Blick des Sängers nach hinten zu seiner aus dem Totenreich befreiten Gattin. Alles ist hier schattenhaft, die vom Komponisten selbst geleitete Aufführung liess es eindringlich erleben. Das von Furrer selbst gegründete Klangforum Wien (warum blieben im Programmheft die Namen der Streicher neben der Konzertmeisterin ungenannt?) flüsterte, zischte, raschelte, und das von Cordula Bürgi vorbereitete Vokalensemble Cantando Admont tat es ihm gleich – alles in komplexer Rhythmik und reichster Farbgebung. Hervorragend auch die Sopranistin Sarah Aristidou und der über weite Strecken als Sprecher fungierende Bass Christoph Brunner; beide werden auch an der für März 2025 vorgesehenen Uraufführung von Beat Furrers neuer Oper «Das grosse Feuer» am Opernhaus Zürich mitwirken.

ER und SIE, so sind Orpheus und Eurydike in «Begehren» abstrahierend benannt, begegnen sich im Dunklen. Das erinnert an Furrers erste, tief beeindruckende Oper «Die Blinden» von 1989. Anders als dieses Stück trägt «Begehren» jedoch das Problem in sich, eingeschlossen zu sein in seiner Abstraktion und sich dem Publikum nicht wirklich mitzuteilen. Trotz der subtilen Klangregie von Markus Wallner blieben im Luzerner Theater die gewisperten Texte unverständlich. Das mag seinen Sinn haben; die Begegnung zwischen Orpheus und Eurydike bleibt ja unmöglich, sie endet mit dem Tod der Protagonisten. Der Klang müsse sprechen, etwas in Bewegung setzen, sagt der Komponist zu seinem Schaffen. Wenn aber die Menschen im Auditorium derart im Dunklen tappen, wie es hier zu geschehen hat, dann läuft Furrers grossartige Musik Gefahr, ins Leere zu laufen. In eine Unverbindlichkeit, die dem hochstehenden künstlerischen Entwurf nicht entspricht.

Nicht weniger zwiespältig die Eindrücke bei Beat Furrers Orchesterstück «Lichtung» im Konzertsaal des Luzerner KKL. Gross angelegt war die Uraufführung dieses Kompositionsauftrags von Roche; mit seinem Engagement im Bereich der neuen Musik beim Lucerne Festival führt der Basler Chemiekonzern in verdienstvoller Weise eine von Maja und Paul Sacher begründete mäzenatische Tradition weiter. Das vom Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung des Komponisten engagiert vorgestellte Stück erzählt ebenfalls keine Geschichte, kennt aber doch einen fassbaren formalen Verlauf. Er führt von einem zarten Flimmern in einen Bereich muskulöserer Klanggebung und nimmt dann den Beginn wieder auf. An langjähriger Erfahrung gereifte Imagination und meisterliches Handwerk zeigen sich da. Am Ende bleibt jedoch die Frage, ob die Partitur nicht doch Zeichen einer gewissen ästhetischen Verfestigung aufweise.

Bei dem Trompetenkonzert «Meduse» von Lisa Streich, ebenfalls «composer in residence» dieses Luzerner Sommers, kann davon keine Rede sein. Die 1985 geborene Schwedin scheint lebhaft mit dem Suchen nach ihrem Eigenen beschäftigt. Lustvoll tummelt sie sich im Garten dessen, was Spätromantik und Moderne im Bereich der Kunstmusik ausgelegt haben – alles freilich in indirekter Präsenz, beschädigt, gesehen durch ein Fenster mit Sprüngen. Immer wieder und in immer anderen Konstellationen taucht das Element der Quart auf, folgen sich Kadenzen in Moll und kommt es zu rauschhaften Steigerungen im Geiste Tschaikowskys, dazu schwingen die Schlagzeuger ihre bunten Schläuche und muss der Solist an der Trompete – es ist der gefeierte Simon Höfele, der jedoch kaum je wirklich zu hören ist – sein Instrument durch einen Wasserschlauch ersetzen. Einige Augenblick lang hat das seine erheiternden Seiten, doch bald nutzen sich die Ideen ab, beginnt das Material verbraucht zu wirken und gerät man ins Grübeln über «Elle est belle et elle rit», den Untertitel des Stücks. Medusa einmal anders als mit kullernden Augen und züngelnden Schlangen. Nun ja, vielleicht ist da nicht alles so ernst gemeint.

Im Prunksaal

Lucerne Festival:
Die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind noch immer, was sie waren: ein exzellentes Orchester, und eines der besonderen Art. Gebildet aus lauter Persönlichkeiten, in den solistischen Positionen ohnehin, aber auch in den Kollektiven, wo bis in die letzten Positionen vibrierendes Engagement herrscht, fügen sich die Herren und die nach wie vor nicht besonders zahlreichen Damen der Berliner Philharmoniker zu einem Klangkörper im besten Sinn des Wortes. Das war schon so bei Herbert von Karajan als Chefdirigenten, das blieb bei seinen Nachfolgern Claudio Abbado und Simon Rattle in je eigener Weise gültig – jetzt, mit Kirill Petrenko erreicht es ungeahnte Dimensionen. Der noch immer jungenhaft wirkende, aber doch schon 52 Jahre alte Österreicher mit russischen Wurzeln lässt das Orchester neue Seiten zeigen. Brillant beherrschen die Berliner Philharmoniker das Ultraleise wie das prachtvoll Laute. Ersteres haben sie Abbado gelernt und bei Rattle weiterentwickelt, Letzteres finden sie jetzt mit Petrenko, ihrem Chefdirigenten seit fünf Jahren. Welch herrliches Fortissimo gelingt diesem Orchester: kraftvoll ohne Gefahr der schmerzerzeugenden Grenzüberschreitung, kompakt und zugleich durchhörbar bis in die Einzelheiten.

So kam Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5 in B-Dur ganz anders daher als gewohnt. Für weihevolles Pathos war hier kein Platz, es ging um die grosse Kunst des Komponierens: um die Erfindung von Motiven und Themen und um deren Verarbeitung in übergreifenden Formen, im Finale schliesslich explizit um den Kontrapunkt – und das alles in hellstem Licht und in prononcierter Klarheit. Ein, um es plakativ auszudrücken, Deutungsansatz im Geist der Moderne offenbarte sich hier; er verwirklichte sich in straffen, wenn auch feinfühlig nuancierten Tempi und einer Farbenpracht sondergleichen. Flüssig durchgezogen, doch fern jeder Hast der Kopfsatz, das Adagio mit seinem den Beginn der Sinfonie aufnehmenden Eingang nur scheinbar langsamer, jedoch stets in grosser Ruhe durchgeatmet. Wild das Scherzo mit seinem im Tempo wunderbar getroffenen Scherzo – und dann das Finale mit seinen komplexen Verästelungen, seinen immer wieder aufs Neue ansetzenden Verläufen, seinem majestätischen Choral: spannend bis zum brausenden Schluss.

Ähnliches Erleben löste der zweite Abend aus; er galt dem «Vaterland», der sechsteiligen Sinfonischen Dichtung «Ma vlast» von Bedřich Smetana. Natürlich konnte, ja musste man sich hier seine Geschichten machen, seine bildlichen Vorstellungen entwickeln. Gleichwohl legten die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko unablässig nahe, dass es sich auch bei diesem aus tiefstem Herzen heraus geschriebenen Zyklus um Kunst handelt, um grossartige musikalische Kunst. Alles war hier an seinem Ort, jeder Übergang sorgfältigst ausgestaltet, jede Farbwirkung stimmig gesetzt. Obwohl «Vltava», «Die Moldau», auch hier den zugkräftigsten Teil darstellte, entstand doch ein äusserst plastischer Bilderbogen zwischen der ragenden Burg Vyšehrad über «Böhmens Hain und Flur», «Z českých luhů a hájů», bis zu den weniger bekannten Endteilen «Tábor» und «Blanik».

Allein, wie bei allem hienieden ist auch hier ein Preis gefordert. Die orchestrale Brillanz drohte immer wieder, sich zu verselbständigen, zur Hauptsache zu werden, wo sie doch dienend die Anliegen der Komponisten nach aussen tragen müsste. Vor allem aber bestand die Gefahr, dass die festgefügte, von Kirill Petrenko mit starker Hand kontrollierte Klanglichkeit der Berliner Philharmoniker der Musik bisweilen die Luft zu nehmen schien. So entbehrte «Ma vlast» ein wenig der Emotionalität wie der Ausgelassenheit des Volkstümlichen. Während die Sinfonie Bruckners jenes Durchscheinenlassen, das Interpretationen neueren Datums, namentlich jene von Nikolaus Harnoncourt und Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern entdecken lassen. Schliesst das eine das andere aus?

Drama aus dem Geist der Musik

Lucerne Festival:
Wagners «Walküre» historisch informiert

 

Von Peter Hagmann

 

Per Stierhorn ruft Hunding (Patrick Zielke) seinen Kontrahenten Siegmund zum Kampf / Bild Patrick Hürlimann Lucerne Festival

Bühne? Braucht es nicht, stört bloss – denn: Die Musik sagt alles. So gedacht schon bei der konzertanten Aufführung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013. Äusserst fasslich und in hinreissender Tonschönheit erzählten die Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Jonathan Nott, was es in der Tetralogie zu erzählen gibt. Und die Vokalsolisten verliehen ihren Rollen scharf gezeichnete, hochgradig energiegeladene Profile, welche die gewaltige Ausdehnung von Wagners opus summum vergessen liessen – man erinnere sich nur der ehelichen Streitgespräche zwischen Wotan und Fricka, die von Albert Dohmen und Elisabeth Kulman zu unvergesslichen Szenen einer Ehe ausgeformt wurden. Ja, «unvergesslich» ist das richtige Wort.

Doch jetzt geht das von Michael Haefliger geleitete Lucerne Festival einen Schritt weiter. Seit dem letzten Sommer wird in Zusammenarbeit mit den Dresdner Musikfestspielen, und dort mit dem Cellisten Jan Vogler als deren Intendant und dem seit je für aufsehenerregende Projekte einstehenden Dirigenten Kent Nagano, über vier Jahre hinweg Wagners «Ring» in historisch informierter Aufführungspraxis auf das Konzertpodium gehoben. «Historisch informiert» heisst nicht: so wie die Tetralogie bei ihrer Uraufführung geklungen hat; der Versuch einer Rekonstruktion wäre sinnlos, denn was sich 1876 musikalisch ereignet hat, kann niemand wissen. Möglich ist jedoch, die aufführungspraktischen Dokumente zur Bayreuther Arbeit am «Ring» zu erforschen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis der Gegenwart zu übertragen und auf dieser Basis zu einem neuen Wagner-Bild zu gelangen.

Die Idee geht auf das Barockensemble Concerto Köln zurück, mit dem Kent Nagano seit langem zusammenarbeitet und dem er als Ehrendirigent verbunden ist. Warum sie nicht einmal ein Stück aus seinem, aus des Dirigenten Repertoire erarbeiteten, soll Nagano von einem Ensemblemitglied gefragt worden sein. Gefragt, getan. Nach vier Jahren der Vorarbeit kam im November 2021 «Das Rheingold» in der Kölner Philharmonie zum ersten Mal historisch informiert zur Aufführung. Der Abend war eine Sensation (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21). Die Fortsetzung des Projekts war dringend erwünscht, überstieg jedoch die organisatorischen Kapazitäten des Concerto Köln, weshalb eine neue Partnerschaft eingerichtet wurde, nun eben mit den Dresdner Musikfestspielen, die seit 2012 über ein voll ausgebautes Originalklangorchester verfügen. Das Concerto Köln integrierte sich in diesen Klangkörper, Nagano blieb als künstlerischer Leiter im Boot, die finanzielle, organisatorische und wissenschaftliche Basis wurde verstärkt. So läuft jetzt seit 2023 dieses «Ring»-Projekt, das auch ins Luzerner KKL gekommen ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.08.23 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.08.23)) und ohne Zweifel weiterhin kommen wird.

Jetzt also «Die Walküre». Der erste Aufzug: grandios in jeder Hinsicht. Das Orchester liess eine gegenüber dem «Rheingold» merklich erhöhte Qualität des Zusammenwirkens erkennen; der Gewittersturm des Beginns tobte heftig, wenn auch ohne jene Mängel in der Balance, welche die orchestrale Seite des neuen Zürcher «Rings» so sehr störten, und versiegte dann in vibrierendem Pianissimo. Sarah Wegener, die überragende Sieglinde, konnte mit «Ein fremder Mann» flüsternd ins Geschehen eintreten. Wie sie dem Fremden das Trinkhorn mit Wasser reicht und dazu, ganz nach der Art Wagners, das Geschwisterliebe-Motiv erklingt, treten die hier tragenden Celli ohne jedes Vibrato in den Vordergrund. Rasch erholt sich Siegmund, und wie Maximilian Schmitt, derzeit einer der führenden Vertreter dieser Partie, der sich aber ohne Vorbehalt ins Konzept eingefügt hat, von der ihm neu lachenden Sonne singt, tut er das in einem Ton offener Werbung.

Doch bald erklingt das Hunding-Motiv, hier erstmals durch trockene Holzschläge unterstrichen – und schon erscheint er: Patrick Zielke, ein Felsbrocken von Mann und einer mit Donnerstimme. «Du labtest ihn?» fragt der düstere Kerl drohend die von ihm unterworfene Frau, und er meistert den dort geforderten Quintsprung ohne jeden Schleifer, dafür blickt er schon gleich zwischen der «Gattin» und dem Gast hin und her, die Ähnlichkeit der Gesichter erkennend. Es sind die kleinen Zeichen der Körpersprache, die diese konzertante Aufführung mit zu einer veritablen Oper machen – auch zum Beispiel die Art, in der Sarah Wegener den Kopf in den Nacken legt, wenn das Liebes-Motiv erklingt. Verlangt Hunding, dass des Gastes Name genannt werde, so formt Patrick Zielke die beiden «a» ganz offen, in jener Offenheit, die er von seinem Gast einfordert; das entfaltet ungeheure Wirkung, ähnlich wie immer wieder das spitze «i» von «Liebe» – sinnvoll, hat doch Wagner auf Diktion und Textverständlichkeit besonderen Wert gelegt.

Hinreissend grausig, wie Hunding seine «Gemahlin» in die Küche und später ins «eheliche» Schlafgemach kommandiert, wo er selbst alsbald in schweren Schlaf sinkt. Und zum Weinen schön das Liebe- und Lenz-Lied, das Maximilian Schmitt mit Emphase und zugleich frei von Kitsch anstimmt. Rasch erkennt Sieglinde, Sarah Wegener erklimmt hier einen Höhepunkt an vokaler Durchdringung, ihren Bruder und zieht der das Schwert Nothung aus dem Stamm, worauf die Schwester einen markdurchdringenden Schrei ausstösst. Sogleich brausender Beifall; begeisterter als hier ist wohl nie ein Inzest gefeiert worden.

Genau daran, am Inzest, hängt im zweiten Aufzug Fricka den Göttervater auf. Ohne mit der Miene zu zucken, exponiert Claude Eichenberger ihre Argumente, gegenüber denen Simon Bailey als Wotan mit Augenbinde rasch zusammensackt. Auch wenn Fricka aufbraust, bleibt die Sängerin bei ausnehmend schönem Ton und dem verächtlichen Blick von oben herab. In kürzester Zeit – das will bei Wagner etwas heissen – ist der Oberste der Götterwelt gefällt, schwört er den verlangten Eid, worauf sich zum Vertrags-Motiv das Unmuts-Motiv gesellt. Dass solches so klar wahrzunehmen ist, gehört zu den entscheidenden Vorteilen der Aufführung. Oft genug wird das Erkennen der Leitmotive als Ausdruck bildungsbürgerlicher Haltung verachtet, dabei liegt in Wagners Arbeit mit den Motiven das musikalisch Zukunftsträchtige der Tetralogie. Im lichten Klang der Kölner und Dresdner Kräfte, der von Kent Nagano dynamisch sehr im Zaum und gleichzeitig farblich zugespitzt wird, ist das auf das Herrlichste zu erleben.

Es gilt auch für die Begegnung Wotans mit Brünnhilde. «Götternoth» ruft er aus – da fällt Simon Bailey so plötzlich zu Boden, dass man einen Schlaganfall befürchtet. Eindrucksvoll, wie Bayley aus dem Monolog ins Flüstern und dann, wenn die Rede auf Wotans Vertragswerk kommt, ins Sprechen übergeht – eine Art des Ausdrucks, die Wagner explizit wünschte, die aber in Vergessenheit geraten ist. Auch Åsa Jäger, die als Brünnhilde vielversprechendes Profil erkennen lässt, geht in den Sprechgesang über, etwa dort, wo sie Siegmund den baldigen Tod voraussagt. Schon darf man das auf der Empore erscheinende Stierhorn bewundern und den edlen Speer Wotans; die beiden ebenfalls in der Höhe postierten Kontrahenten neigen zum Zeichen ihres Ablebens aber schlicht den Kopf, mehr braucht es nicht. Später, im dritten Aufzug, gab es noch Flüstertüten zu sehen, doch der Beginn mit den acht Walküren geriet konventionell laut. Bewegend dagegen Wotans Abschied von Brünnhilde – und zum Schluss konnte das Orchester noch einmal zeigen, was ein Fortissimo in historisch informierter Aufführungspraxis sein kann. Schade nur, dass die Namen der Orchestermitglieder im Programmheft ebenso wenig aufgeführt sind wie jener des doch gewiss vorhandenen Regisseurs.

Der innovative Ansatz der Dresdner Tetralogie ist von höchstem Interesse; dass er seine Kreise ziehen wird, lässt sich leicht voraussagen. Für das Lucerne Festival öffnet sich zudem eine weitere, wichtige Tür. Eine Bühne für grosse Oper wie in Salzburg gibt es in Luzern nun einmal nicht. Die Möglichkeit, der Gattung paradigmatisch neue Wege aufzuzeigen, kann jedoch, wie dieses Projekt erweist, sehr wohl fruchtbringend weiterverfolgt werden.

Höhenflüge mit Überraschung

Abschluss des Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Drei Klima-Aktivisten / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Es geschah nicht am helllichten Tag, das nicht. Aber doch mitten in der allerschönsten Musik, mitten im Scherzo der vierten Sinfonie Anton Bruckners. Zwei junge Leute, beide in weissen T-Shirts, schreiten entschlossen den rechten Seitengang im Parket hinunter. Warum die Studentin und der Student gerade jetzt so dringend nach Hause wollen? Wollen sie nicht, sie biegen nämlich nicht nach rechts zur Eingangstür ab, sondern nach links, streben an der ersten Sitzreihe vorbei zur Mitte des Orchesterpodiums. Dort schwingen sie sich mit einem Satz hinauf zu den Füssen des Dirigenten, kleben je eine Hand an dessen Podest und beginnen in die Musik hineinzusprechen. Es tue ihr leid, dass sie stören müsse, erklärt die junge Frau, sie liebe klassische Musik. Indessen stünden wir bekanntlich mitten in einer scharfen Klimakrise, sofortiges Handeln sei dringend geboten – «act now» steht gut lesbar auf ihren T-Shirts. Dessen ungeachtet und trotz der wütenden Zurufe aus den Sitzreihen bringt das Bayerische Staatsorchester aus München das angefangene Scherzo zu Ende.

Danach aber dreht sich der Dirigent Vladimir Jurowski um, geht in die Hocke, nähert sich den beiden Jungen und spricht mit ihnen. Sie hätten eine Abmachung getroffen, und er habe sein Ehrenwort für deren Einhaltung gegeben, ruft er ins Auditorium. Die beiden jungen Leute sollten, so die Vereinbarung, ihr Anliegen in wenigen Worten vortragen dürfen, man möge bitte ruhig zuhören; danach würden sie den Saal wieder verlassen, und Bruckners Vierte werde zu Ende gespielt. Er ersuche um Unterstützung für die Einhaltung des Ehrenworts. Die gehässigen Reaktionen aus dem Publikum halten freilich an, weshalb sich Jurowski im Schneidersitz auf seinem Dirigentenpodest niederlässt. Derweil lösen die beiden Aktivisten der Bewegung Renovate Switzerland umstandslos ihre Hände von dem Möbel, sprechen einige Sätze und verlassen dann ohne weiteres den Konzertsaal im KKL.

Der Zwischenruf war gewiss störend, angesichts der klimatischen Umstände und der allgemeinen Gleichgültigkeit im Umgang damit aber sehr wohl am Platz. Dass der Dirigent ihn zugelassen und gleichzeitig gezielt auf Deeskalation gesetzt hat, war ein Meisterstück. Die Besondere des Moments lag jedoch weniger bei dem Auftritt der beiden Aktivisten vor den Gästen der Zurich Versicherung als vielmehr bei der Fortsetzung des Konzerts. Jurowski ging das Finale von Bruckners «Romantischer» nämlich in einer Wildheit sondergleichen an, er peitschte es richtiggehend auf; der Satz, von Bruckner als «bewegt, doch nicht zu schnell» gedacht, fand zu bestürzender Eindringlichkeit und liess einen fassungslos zurück. Was heisst das?

Man mag des Dirigenten Ansatz als Akt der Interpretation verstehen, nur bleibt dabei die Frage offen, warum sich das Finale interpretationsstilistisch, etwa im Dynamischen und in der Artikulation, so krass vom Vorangehenden abhob. Näher liegt die Annahme, dass Jurowski in seiner Weise auf jenes Paradies zu sprechen kommen wollte, welches das Lucerne Festival diesen Sommer zum Motto gemacht hat. Oder um einen Schritt weitergedacht: Dass sich der Dirigent kurzerhand auf die Seite der beiden Klima-Aktivisten geschlagen hat. Tatsache ist jedenfalls, dass Jurowski, 1972 in Moskau geboren, schon seit geraumer Zeit unseren Umgang mit dem Planeten als fahrlässig geisselt, dass er die Zahl seiner berufsbedingten Flüge zu reduzieren sucht und angeblich darum 2019 sein Engagement als Chefdirigent des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters in Moskau aufgegeben hat. Dem entspricht, dass er so drastisch wie kein anderer Musiker seines Renommees den Krieg Putins gegen die Ukraine verurteilt. So politisch kann es im Paradies plötzlich werden.

Und das erstaunlicherweise mit einem Dirigenten, der sich einer altmodisch herrscherlichen Schlagtechnik bedient und vom Pauker verlangt, dass er jeden längeren Wirbel, und zwar auch im Piano, mit einem Akzent auf dem letzten Schlag markiert. Von ausgesuchter Konventionalität zudem das Programm: Vor der Vierten Bruckners gab es das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners «Tristan und Isolde», einige Tage zuvor schon vom Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä vorgetragen, sowie das Klavierkonzert Robert Schumanns, diesen Sommer ebenfalls schon auf dem Luzerner Programm, nämlich mit dem Solisten Daniil Trifonov. Für das Gastspiel aus München wäre eine Spur mehr Phantasie, ein My mehr Koordination denkbar gewesen, denn ins KKL kam das Orchester der Bayerischen Staatsoper München, das Staatsorchester, das dieses Jahr das Jubiläum seines nicht weniger als fünfhundertjährigen Bestehens feiern kann. Als Opernorchester besitzt es seit langem einen ausgezeichneten Ruf, auf dem Konzertpodium ist es weniger bekannt; beim Lucerne Festival gastierte es erst zum zweiten Mal.

Es tat es mit Aplomb – das kann sagen, wer die von Vladimir Jurowski gesetzten Prämissen akzeptiert. Schon im Kopfsatz von Bruckners Vierter – die Jurowski, wie es vor ihm Herbert Blomstedt bei der Siebten getan hat, aus der neuen Gesamtausgabe dirigierte – war ein ungemein kraftvolles, strahlendes Fortissimo zu hören. Eine Kraft allerdings, in der die Blechbläser so massiv in Erscheinung traten, dass alles andere unterging; weder die Holzbläser noch die Streicher waren in diesen Momenten zu hören, sie bildeten nicht mehr als vage wahrnehmbaren harmonischen Untergrund. Das entspricht einem althergebrachten, inzwischen ausser Kraft gesetzten Bruckner-Ton, wie ihn zum Beispiel Eugen Jochum pflegte. Dem Statischen, das mit dem blechgepanzerten Tutti einhergeht, suchte Jurowski durch die bewusste Gliederung der Sätze und flexibel ausgeformte Übergänge entgegenzuwirken. Immer wieder tauchten auch Inseln schönster farblicher Abmischung auf, etwa zwischen Flöte und Klarinette im Kopfsatz. Und der Solohornist, er hatte einen formidablen Auftritt.

Nicht weniger retrospektiv ausgerichtet wirkte am Abend darauf die Sächsische Staatskapelle Dresden mit ihrem seit 2012 und noch bis 2024 tätigen Chefdirigenten Christian Thielemann (der einen exquisiten Frack trug, wie es derzeit nur noch wenige Vertreter seiner Profession tun). Das stimmt allerdings nur zur Hälfte, denn immerhin eröffnete Thielemann das Luzerner Gastspiel des Orchesters aus der Semperoper mit dem «Schwanendreher», einem (freilich etwas etwas verkrampften) Bratschenkonzert Paul Hindemiths von 1935, dessen Solopart von Antoine Tamestit superb gemeistert wurde. Danach aber gab es «Eine Alpensinfonie» von Richard Strauss, ein Leib- und Magenstück Thielemanns, mit dem er schon 2015, beim letzten Auftritt der Dresdener, das Publikum im KKL hingerissen hatte und es jetzt noch einmal und vielleicht noch deutlicher tat. Thielemann ist nicht nur ein mit allen Wassern gewaschener Kapellmeister alter Schule, sondern auch ein Taktstockvirtuose im besten Wortsinn. Mit wenig Aufhebens, aber den genau richtigen Zeichen hält er das Geschehen in Gang, souverän steht er über den Verästelungen der äusserst reichhaltigen Partitur und weiss doch immer wieder auf Einzelheiten einzugehen. Und unter seiner entspannten Hand klang Wagners «Wunderharfe» ganz vorzüglich: in kompakter Lautstärke, wo das gross besetzte Orchester laut sein soll, mit zart schimmernden Farben, wo der imaginäre Wanderer seinen Fernblick geniessen kann. Ob es ein Non plus ultra gibt?

Das gibt es. Dann nämlich, wenn die Münchner Philharmoniker das Podium einnehmen – das Stadtorchester aus der Kapitale des Freistaates und somit die Nummer drei neben der Staatskapelle und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, bei dem bald Simon Rattle die Leitung antreten wird. Unvergessen die siebzehn Jahre ab 1979 mit Sergiu Celibidache am Dirigentenpult und den ebenso umstrittenen wie aussergewöhnlichen Einspielungen der Sinfonien Bruckners. Seit Celibidaches Tod 1996 gab es bessere und weniger gute Zeiten, 2026 soll Lahav Shani die Position des Chefdirigenten übernehmen. Jetzt aber, beim Schlusskonzert des Lucerne Festival in diesem Sommer, war die Konstellation eine ganz besondere, denn an die Spitze der Münchner Philharmoniker gerufen war Mirga Gražinytė-Tyla, die 2016, im Luzerner Sommer mit dem Thema «PrimaDonna», so viel Aufmerksamkeit erzielt hat und seither eine steile Karriere verfolgt. Und auf den Pulten lag nicht weniger als die zweite Sinfonie Gustav Mahlers, die «Auferstehungssinfonie», mithin das Gegenstück zu Mahlers Dritter, mit der das Festival eröffnet worden ist.

Dass eine Frau vor einem meist vornehmlich mit Männern besetzen Orchester steht, gehört inzwischen zum Alltag – die Zeiten haben sich geändert, und «PrimaDonna» von 2016 hat hier zweifellos entscheidende Weichen gestellt. Im Fall von Mahlers Zweiter liegt der Fall anders. Das Stück ist ein veritabler Felsbrocken; ihn dirigentisch zu stemmen, kann verbreiteter Vorstellung gemäss nur mit gehörig ausgebautem Bizeps gelingen. Mirga Gražinytė-Tyla verkörpert geradewegs das Gegenteil. Klein gewachsen und von zarter Statur, gibt sie nicht die Dirigentin, die bitte sehr genau so gut sein kann wie ein männlicher Kollege, sie ist vielmehr ganz sich selbst. Unauffällig huscht sie zu ihrem Podest, das sie nur zur Ausübung ihrer Tätigkeit betritt; in den Momenten des Beifalls steht sie unauffällig unter den Orchestermitgliedern. Ihre Zeichengebung ist von ausserordentlicher Sparsamkeit, dies jedoch nicht zum Zeichen ihrer Virtuosität, vielleicht eher als Ausdruck eines kooperativen Selbstverständnisses. Die Auslegung der riesenhaften Partitur Mahlers zeugte freilich von hochentwickeltem Vorstellungsvermögen und der Fähigkeit, den Weg der Interpretation mit einem Blick, einem Lächeln den in aller Konzentration agierenden Musikerinnen und Musikern in aller Klarheit zu vermitteln.

In der Auslegung durch Mirga Gražinytė-Tyla erstand Mahlers Zweite unter einem einzigen, über neunzig Minuten gespannten Bogen. Gewiss setzten die Kontrabässe zu beginn gleich ihre Ausrufezeichen. In der Folge entfaltete sich der Kopfsatz jedoch sorgsam tastend, in sehr ruhigen Zeitmassen, fesselnder rhythmischer Präzision und einer farblichen Vielfalt sondergleichen. Sehr leise und leicht das Andante moderato des zweiten Satzes, in dem ein kleines Detail wie die Verbindung zwischen dem Pizzicato der Harfen und dem Klang der Harfen grossen Effekt machte. Dann der zweite Teil mit dem in ruhigem Alla breve durchgezogenen Scherzo, mit dem «Urlicht», in dem die Altistin Okka von der Damerau gern etwas zu tief blieb, später mit der etwas stark vibrierenden Sopranistin Talise Trevigne, den überraschenden Fernorchestern und dem prachtvollen Münchner Philharmonischen Chor (Einstudierung: Andreas Herrmann), der erst sitzend sang und sich schliesslich der kontrapunktischen Ordnung gemäss erhob. So klein die Zeichen der Dirigentin blieben – wenn es zur Sache ging und sie die Arme in die Höhe reckte, hatte das durchaus seine Folgen. Besonders hoch darf Mirga Gražinytė-Tyla freilich angerechnet werden, dass im Finale die Massen jederzeit gezügelt blieben.

Einen würdigen Abschluss bildeten diese drei letzten Abende in der Sommerausgabe des Lucerne Festival. Sie gaben zu erkennen, dass die Perlenkette der Luzerner Orchestergastspiele lebt – auch wenn es in der einen oder anderen Hinsicht durchaus etwas mehr Bewegung geben dürfte. Dass das Konzert neu erfunden werden muss, stellt als Aussage eine an der Wirklichkeit vorbeigehende Banalität dar, die oft genug abgeschrieben und wiederholt wird, deswegen jedoch nicht mehr Sinn erhält. Die 84 Prozent Auslastung, die das Festival für dieses Jahr ausweist, kommen zwar noch in keiner Weise an die Zahlen der Jahre vor der Pandemie heran, zeugen aber doch von Erholung. Und mit den 98 Prozent Auslastung der Salzburger Festspiele brauchen sie nicht verglichen zu werden, weil ein reines Konzertfestival und Festspiele mit der Oper als Hauptsache zwei Paar Schuhe darstellen. Was am Ende zählt, ist der Blick auf die Sache selbst.

Der Geist lebt – und wie

Ertragreiche Wochen beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Diesen Sommer hat es das Lucerne Festival nicht nur mit dem Paradies und seinen Äpfeln, sondern auch mit den alten Instrumenten. Genauer: mit dem Instrumentarium, wie es den Komponisten zur Zeit der Niederschrift ihrer Werke vertraut war wie mit jenen Spielweisen, die sich den überlieferten Quellen entnehmen lassen. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis also. Beim Lucerne Festival erhielt diese Spielart der musikalischen Interpretation, heute weit verbreitet und durch einen eigenen, bedeutenden Markt vertreten, bisher vergleichsweise wenig Raum. Sie wurde vielleicht auch nicht ihrer Bedeutung gemäss geschätzt. Nach einem Auftritt des Dirigenten Philippe Herreweghe mit einem seiner Orchester habe er, so verriet der Luzerner Intendant Michael Haefliger, aus dem Publikum eine Reihe deutlich ablehnender Zuschriften erhalten.

Nun also das: gleich drei Abende im Zeichen der historischen Praxis. Und Abende, die nicht nur von der Vielfalt in dieser Art des Musizierens zeugten, sondern auch kapital neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Werke eröffneten. So war es bei der konzertanten Aufführung von «Rheingold», dem Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», von der vor Wochenfrist an dieser Stelle die Rede war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.23). Und so war es vor wenigen Tagen bei der Begegnung mit Joseph Haydns «Jahreszeiten», einem für seine Natürlichkeit, seine Eingängigkeit, ja seine Volkstümlichkeit geschätzten Oratorium. So berührend, so erschütternd, jedenfalls so aufregend habe ich diesen Gang vom Frühling über Sommer und Herbst in den Winter nie gehört. Ermöglicht hat es Giovanni Antonini, der Haydn-Spezialist dieser Tage, der die Erfahrungen, die er im Rahmen der Gesamtaufnahme der Sinfonien Haydns sammelte und weiterhin sammelt, auf das grossangelegte, vierteilige Vokalwerk angewandt hat.

Mit einem schockierenden Schlag hob der Übergang vom Winter zum Frühling in der orchestralen Einleitung an; der Pauker benützte dafür die Griffseite seiner Schlägel und hieb mit aller Kraft aufs Fell. Deutlicher hätte nicht markiert werden können, dass es in den nun folgenden gut zwei Stunden ernsthaft zur Sache gehen würde. Antonini setzt durchwegs auf explizites, ja zugespitztes Musizieren – im Dynamischen, in der Akzentuierung, in der Ausformung des Rhythmischen, auch in der Gestaltung der teilweise atemberaubenden Tempi; nichts gerät hier beiläufig, jeder Ton, jede Geste wird beim Wort genommen. Möglich wird das, weil das in Mailand domizilierte Orchester Il Giardino Armonico, Antoninis Gründung 1985 und seither sein Erfolgsmodell, mit Instrumenten arbeitet, die den Klang der Jahre um 1800 evozieren. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die duftige Beweglichkeit ermöglichen, die Bläser mit ihren Instrumenten nach der Bauart jener Zeit steuern äusserst pointierte Farben bei – zumal die hochvirtuosen Naturhörner, die in der herbstlichen Jagdszene durch schallende Jagdhörner ersetzt wurden. Krass klingt das bisweilen und dann wieder flüsterzart, jederzeit aber ausdrucksvoll und packend. Dabei kommt alles aus einem einzigen Guss, die Musik scheint den Fingern des ungeheuer temperamentvoll agierenden Dirigenten zu entspringen.

Dazu kamen der aus dem polnischen Wroclaw angereiste, dort von Lionel Sow betreute NFM-Chor, der Transparenz mit Homogenität verbindet und überwältigende Klangpracht entfaltet, sowie ein hochstehendes Solistenterzett. Florian Boesch (Simon) hielt seinen opulenten Bass perfekt im Zaum; mit natürlicher Frische versah er den Landmann, der in der Frühlingssonne über sein Feld schreitet, mit Augenzwinkern berichtete er im Herbst von den auf der Lauer liegenden Jägern. Der Tenor Maximilian Schmitt (Lukas) liess anfangs noch etwas viel Vibrato hören, fand in seiner sommerlichen Cavatine, in der sich sehr konkret die Hitzewelle 2023 spiegelte, eindrucksvoll zu schaurig ermattetem Ton – spätestens da konnte jedermann bewusst werden, was uns Haydns «Jahreszeiten» bedeuten könnten. Verschmitzt und mit sorgsam eingesetztem Vibrato trug danach die Sopranistin Annett Fritsch (Hanne) die Geschichte von der jungen Bauerntochter vor, die dem Edelmann, der sie mit Geld und Schmuck um den Finger zu wickeln sucht, ein Schnippchen schlägt. Was Interpretation vermag, wie die Kunst der Verlebendigung die Gestalt eines Werks prägen kann, hier war es zu erleben.

Ähnliches gilt für den Auftritt des 1979 eingerichteten, bis heute von seinem Gründer William Christie geleiteten Ensemble Les Arts Florissants. Auch hier gelten die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis – dies aber doch in der ganz persönlichen Handschrift Christies. Der ursprünglich aus Amerika stammende, heute hochdekorierte Franzose strahlt eine auf Anhieb erkennbare Fröhlichkeit aus, er steht auch für eine elegante, geschmeidige Helligkeit des Klangs. Ausgezeichnet zu hören war das bei «The Fairy Queen», der von 1692 stammenden Semi-Opera Henry Purcells, die auf dem Konzertpodium des KKL in halbszenischer Wiedergabe dargeboten wurde. Die vielen Passacaglien, Variationen über einen gleichbleibenden Bass, die in Halbtönen absteigenden Klagelaute, der reich besetzte Basso continuo, das diskret, aber effektvoll eingesetzte Schlagwerk – all das zeugte auch an diesem Abend von der ungebrochenen Vitalität der jahrhundertealten Musik.

Zu erleben war zudem, wie im Kreis rund um William Christie nicht nur instrumental, sondern auch vokal der stilistisch adäquate Zugang gepflegt – und weitergegeben wird. Le Jardin des voix nennt sich die von Les Arts Florissants betriebene Werkstatt, in der junge Sängerinnen und Sänger ihr Handwerk in Sachen alter Musik perfektionieren können. Das ist darum sinnvoll, weil sich bei manchen Aufführungen mit alten Instrumenten die vokale Seite an der heute üblichen Ausprägung des Belcanto orientiert; Willliam Christie hielt das schon in früher Zeit anders. Bei «The Fairy Queen» war ein Ensemble von vier Sängerinnen und vier Sängern mit von der Partie – auf durchwegs respektablem Niveau. Nur war es leider nicht in ausreichendem Masse wahrzunehmen. Denn vor den Instrumentalisten im Hintergrund mischte sich unter die Vokalisten im Vordergrund eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die das musikalische Geschehen sehr heftig und sehr lautstark begleiteten. Der Versuch zu zeigen, dass in der Semi-Opera die Musik nicht die Hauptsache, sondern Teil eines vielfältigen Ganzen darstellte, und das mit heutigen Formen der Körpersprache zu tun, mag zu ehren sein. Im Endeffekt ging er jedoch daneben, denn die von Mourad Merzouki organisierte Körperarbeit hat die zarte Musik Purcells regelrecht zertrampelt.

***

Neben der alten gehört auch diesen Sommer die neue Musik zur DNA des Lucerne Festival, und das in Verbindung mit der Förderung nachrückender Generationen. Das war und ist die Aufgabe der von Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez begründeten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy. Jahr für Jahr wird seit 2004 eine gute Hundertschaft an jungen Leuten, Komponistinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen, nach Luzern eingeladen, um dort unter kundiger Anleitung die Welt der neuen und neusten Musik zu erkunden. Den Höhepunkt des Unternehmens bildet jeweils der Auftritt des Lucerne Festival Contemporary Orchestra auf dem Podium des KKL: mit einem Programm, das es in sich hat, und mit einem Dirigenten, der auch bei neuster Musik seiner Sache sicher ist. Dieses Jahr war die Finnin Susanna Mälkki dafür auserkoren – das war die denkbar beste Wahl.

Gewiss, «Fett» für Orchester (2018/19) des Deutschen Enno Poppe, seines Zeichens «composer in residence» dieses Sommers, ist ein gewiss leicht zu durchschauendes, wenn auch vielleicht nicht leicht zu spielendes Stück. Es operiert mit klanglichen Blöcken, die sich, nun ja, bekämpfen, wie es in Gesellschaft und Politik unserer Tage die Regel geworden ist. In den Vordergrund tritt dabei eine fein austarierte Mikrotonalität, Augenblicke des Gleitens, des Rutschen, des Jaulens, was beim Zuhören nicht ungerührt lässt. Allein, in dieser Hinsicht gibt es von Poppe bessere Stücke, zum Beispiel «Salz» für Ensemble von 2005. Auch nicht gerade vom Sessel geworfen hat mich «Šu», ein einsätziges Konzert für die chinesische Mundorgel Sheng und Orchester von Unsuk Chin. Unvergessen die 2010 in Genf uraufgeführte Oper «Alice in Wonderland», mit der die Koreanerin einen unerfüllt gebliebenen Wunsch ihres Lehrers György Ligeti in die Tat umgesetzt hat. Im Vergleich dazu wirkte das Mundorgelkonzert etwas trivial – aber vielleicht war diese Wahrnehmung auch die Folge des Auftritts von Wu Wei, des Virtuosen an der Sheng. Amüsant war der, aber nicht mehr.

Mit reinem Sachbezug, untadelig ausgebildetem Handwerk und einer formidablen Präsenz auf dem Podium – damit punktete dagegen Susanna Mälkki. Die von ihr geleitete Wiedergabe von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» geriet zu einem grossen Moment des Festivals. Mit energischer, klarer Zeichengebung, souverän in der Bewältigung der komplexen Taktwechsel, aus spürbarer Übersicht über den musikalischen Verlauf heraus führte sie das Lucerne Festival Contemporary Orchestra durch die Klippen der Partitur, und die jungen Leute gaben ihr Letztes. Nicht dass sich sagen liesse, das Orchester habe sich gut entwickelt, es wird ja jedes Jahr neu zusammengesetzt. Aber der Eindruck eines Ritts über den Bodensee, der frühere Aufführungen von Strawinskys Meisterwerk zum «Sacré Sacre» hatten werden lassen, stellte sich an dem heftig bejubelten Abend nicht ein. Im Gegenteil, es war auch hier zu beobachten, was Interpretation bewirken kann. Jedenfalls trat die rituelle Anlage des Stücks klar heraus, ohne dass der Brutalismus die Oberhand über die sehr wohl vorhandene Schönheit der Partitur gewonnen hätte.

***

Herzstück und Rückgrat des Lucerne Festival bildet jedoch nach wie vor die dichte Folge an Gastspielen grosser Orchester und ihrer Dirigenten. Das ist auch richtig so; wo in aller Welt lässt sich das in dieser Weise haben? Dabei geht es keineswegs um einen sportlich getönten Wettkampf – um die Frage, welches Orchester nun besser als das andere sei oder gar das beste von allen. Äpfel können nicht gegen Birnen ausgespielt werden, jedes Orchester trägt seine durch vielerlei Faktoren bestimmte Individualität in sich. Hier im engen Zeitraum von vier Wochen Höhen und Tiefen zu erkunden, Entwicklungen zu verfolgen – das bietet Reize von nicht nachlassender Kraft. Jedenfalls für Menschen, die zuzuhören bereit sind.

Vielleicht, ich wiederhole mich, dürfte der Horizont in der Auswahl der gastierenden Klangkörper um ein Weniges erweitert werden. Dass von den Schweizer Orchestern nur das auf bemerkenswerten Pfaden wandelnde Luzerner Sinfonieorchester, nicht aber das ebenso gut aufgestellte Orchestre de la Suisse Romande auftritt, ist kaum nachzuvollziehen. Warum nicht wieder einmal die Tschechische Philharmonie, die mit Semyon Bychkov hervorragende Arbeit an Mahler leistet? Oder das Orchestre philharmonique de Radio France mit Mikko Franck? Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder nach Luzern kommt, wenn Simon Rattle dort sein Amt als Chefdirigent angetreten hat? Es dürfte als ausgemacht gelten.

Dass der Dirigent – über dessen Funktion wird nicht erst heute, inzwischen aber besonders kritisch nachgedacht –, dass der Dirigent die entscheidende Rolle spielt, trat in den zurückliegenden Luzerner Wochen wieder in aller Deutlichkeit heraus. Besonders beim Royal Concertgebouw Orchestra, das, seit es 2018 als Folge einer #MeToo-Affäre seinen damaligen Chefdirigenten Daniele Gatti in die Wüste geschickt hat, ohne musikalischen Leiter auszukommen hat. Ebenso geschätzt wie das Orchester aus Amsterdam ist der Dirigent Iván Fischer, zumal wenn er an der Spitze des von ihm gegründeten Budapest Festival Orchestra steht. Was das Concertgebouworkest mit Fischer am Pult diesen Sommer in Luzern bot, war freilich unter beider Seiten Niveau. Das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» geriet grob und pompös, ja pathetisch, während die Siebte Sinfonie Gustav Mahlers manche technische Schwäche im Zusammenspiel offenbarte – als ob der Dirigent das komplexe Stück aus dem Ärmel hätte schütteln wollen. Mehr Glück hatte Klaus Mäkelä, der 2027 die Position des Chefdirigenten beim Concertgebouworkest antreten wird. Allerdings nicht mit Mahler. Dessen Sinfonie Nr. 4 in G-dur, die der junge Finne mit dem von ihm seit 2020 geleiteten Oslo Philharmonic im KKL darbot, zeugte gerade im Finale mit der lieblichen Sopranistin Johanna Wallroth vom Paradies, liess aber wenig von jener Gebrochenheit erkennen, die das Werk Mahlers trägt. Aber Mäkelä ist ja erst siebenundzwanzig. Und die siebte Sinfonie von Jean Sibelius, bei der Mäkelä das rhapsodische Fortschreiten optimal im Griff behielt und das Orchester zu aller Pracht führte, sprach vom Potential dieses genuin wirkenden Dirigenten.

Die Zusammenarbeit zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erfordert einen langen Atem, das ist bekannt. Wohin die Reise im besten Fall führen kann, machte der erste der beiden traditionellen Auftritte der Berliner Philharmoniker ohrenfällig. Seit 2019 steht Kirill Petrenko an deren Spitze, und nun war zu erkennen, was hier grossartig gewachsen ist. Mit Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart boten die Berliner ein deutliches Plädoyer für einen zu Unrecht vergessenen Komponisten. Dann allerdings «Ein Heldenleben» von Richard Strauss: ein Musterbeispiel an orchestraler Kunst wie an kluger Interpretation. Die Berliner gaben sich der gerade auch in ihrer Ironie meisterlichen Tondichtung mit ihrer ganzen Klangpalette hin (und die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner liess des Komponisten Gattin munter singen), während Petrenko das dichte Geflecht der Partitur auflichtete und wie ein zartes Spinnengewebe erscheinen liess. Nichts war da aufgesetzt, nichts süsslich, es herrschten Gelassenheit und Ruhe – und so blieb der Saal auch in den nirgends verkürzten Pausen mucksmäuschenstill. Allein, das war noch nicht das Nonplusultra, dafür sorgten das Gewandhausorchester Leipzig und der inzwischen nicht weniger als 96 Jahre alte Meister Herbert Blomstedt mit einer Auslegung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, die einen sprachlos zurückliess. Selbstverständlich lag auf des Dirigenten Pult die neue Ausgabe der Sinfonie von Paul Hawkshaw, sie blieb aber geschlossen, denn Blomstedt gab das Werk ganz aus seinem Inneren, aus einer lebenslang gewachsenen und zugleich uneingeschränkt gegenwärtigen Einfühlung heraus. Und in einer Demut vor der Grösse des Kunstwerks, die zu unbeschreiblicher interpretatorischer Eindringlichkeit führte. Da stimmte einfach, was stimmen muss. Das Gewandhausorchester stellte sich ganz nah an seinen früheren Chefdirigenten heran und wuchs über sich heraus.

Wenn der Geist über den Körper triumphiert: Herbert Blomstedt vor dem Gewandhausorchester / Bild Patrick Hürlimann, Lucerne Festival

Ein Blick zurück – mit Gewinn

Wagners «Rheingold» in historischer Praxis,
nun beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Fricka (Annika Schlicht), Wotan (Simon Balley), Freia (Nadja Mchantaf), dazwischen der Dirigent Kent Nagano / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Knapp zwei Jahre sind vergangen seit jenem aufregenden Abend in der Kölner Philharmonie, der «Das Rheingold», den Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», in ungewohntem Gewand vorstellte. In jenem Gewand nämlich, das dem Komponisten zur Verfügung stand – ja mehr noch: das er sich zum Teil selbst erschaffen hatte. Nicht ein Orchester heute üblicher Art war da am Tun, sondern das Concerto Köln, ein auf Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie auf die historisch informierte Aufführungspraxis spezialisiertes Ensemble, das sich um ein Mehrfaches seiner achtzehn Mitglieder umfassenden Stammbesetzung erweitert hatte. Mit von der Partie war ein anderer Novize, denn der Dirigent Kent Nagano war bisher als pointierter Vertreter der neuen Musik und als luzider Interpret des klassisch-romantischen Repertoires bekannt, nicht aber als Leuchtturm im Bereich der historischen Praxis. Ein Wagnis erster Güte war das. Geworden ist daraus ein Coup, dessen Folgen sich noch in keiner Weise absehen lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21).

Mir nichts, dir nichts wird ein solches Projekt nicht möglich. So sehr sich die historisch informierte Aufführungspraxis entwickelt hat, so gut es auch schon erste Annäherungen, etwa mit Roger Norrington und Simon Rattle im Konzert, mit Hartmut Haenchen und Thomas Hengelbrock in Bayreuth, gegeben hat – grundsätzlich und umfassend hat sich an Wagner bisher niemand aus dem Bereich der historischen Praxis herangewagt. Vier Jahre der Vorbereitung gingen der konzertanten Aufführung von «Rheingold» in Köln voraus; «Wagner-Lesarten» nannte sich die Forschungseinrichtung, in deren Rahmen Aspekte des Instrumentenbaus im späten 19. Jahrhundert, Fragen der Spielweise und des Gesangsstils, auch solche der Gestik erörtert wurden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden breit diskutiert und mit Hilfe spezialisierter Workshops in die Praxis übergeführt.

Das alles war mit enormem Aufwand verbunden und führte zu einem Katalog an Aufgaben, der die Möglichkeiten des Concerto Köln bei weitem überstieg. Um den «Ring» als Ganzes in dieser Form zu bewältigen, bedurfte es eines leistungsstarken Partners; gefunden wurde er in den Dresdner Musikfestspielen. Dort gibt es die notwendige Infrastruktur, dort steht mit dem Dresdner Festspielorchester sogar ein historisch informiert arbeitender Klangkörper bereit, und von dort aus konnten auch die erforderlichen finanziellen Mittel beschafft werden. So kam es zu einem Neustart auf erweiterter Basis. Ab 2023 soll jedes Jahr ein Teil der Tetralogie im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis erarbeitet werden. Das Resultat soll jeweils zuerst bei den Dresdner Musikfestspielen vorgestellt werden und danach auf Tournee gehen. So ist dieses buchstäblich unerhörte «Rheingold» diesen Sommer zum Lucerne Festival gekommen – mit überwältigendem Erfolg. Und natürlich besteht die Hoffnung, dass die Luzerner Begegnungen mit diesem einzigartigen Unternehmen in den kommenden Jahren (und auch über den Luzerner Direktionswechsel hinaus) weitergeführt werden. Dies auch gleichsam als Fortsetzung der unvergesslichen Luzerner «Ring»-Abende mit Jonathan Nott und den Bamberger Symphonikern im Wagner-Jahr 2013.

Wer in Köln dabei war, dem bot die Begegnung mit der nun aus Dresden hergekommenen Luzerner Wiederaufnahme von «Rheingold» Erfahrungen ganz eigener Art. Der Ansatz war derselbe, die Konkretisierung unterschied sich aber doch merklich. Schon allein darum, weil neben dem Concerto Köln mit dem von Ivor Bolton betreuten Dresdner Festspielorchester ein zwar schon vor gut zehn Jahren gegründeter, jedoch noch weitgehend unbekannter Klangkörper mit dabei war. Die Farbigkeit des Orchesters, der mit Darmsaiten bezogenen Streicher, der zum Teil eigens rekonstruierten Blasinstrumente, sie schuf auch in Luzern ungeheure Wirksamkeit, zumal im Bereich der Bläser, die ein Spektrum zwischen abgrundtiefer Schwärze und leuchtender Helligkeit ausbreiteten. Als Preis dafür war – besonders ausgeprägt in jenem Moment am Ende, da die von Wotan angeführte Götterschar die Brücke überquert und Walhall in Besitz nimmt – eine befremdende Heterogenität im starken Gesamtklang des Orchesters in Kauf zu nehmen. Scharf, ja grell klang dieses Tutti, und das in stärkerem Ausmass als in Köln. Vielleicht muss es so sein; Instrumente von starker Individualität bilden gerne einen attraktiv wirkenden Spaltklang, fügen sich aber weniger leicht in einen Mischklang. Das kann auch andernorts, etwa bei Les Siècles mit François-Xavier Roth oder beim Orchestre Révolutionnaire et Romantique von John Eliot Gardiner, zu hören sein.

Auch was die klangliche Transparenz betrifft, blieben in Luzern, anders als in Köln, einige Wünsche offen – übrigens auch für Kent Nagano, der gestisch Schwerarbeit leistete, der da dämpfte und dort ermunterte. Mag sein, dass das nicht nur auf die Saalakustik und die Tücke des Moments, sondern auch auf die veränderte Aufstellung des Orchesters zurückzuführen ist. In Köln nämlich waren auch die Streicher doppelchörig aufgestellt – wobei zwei Geigen- und zwei Bratschengruppen durch einen in einem Halbkreis von links nach rechts durchs Orchester reichenden Halbkreis von Celli verbunden waren. Das schuf eigenartig und auffallend viel Raum für die Mittelstimmen und die dort versteckten Bereicherungen, die in gewöhnlichen Aufführungen kaum je so deutlich wahrzunehmen sind. In Luzern dagegen war das Orchester nach der Art der traditionellen deutschen Aufstellung konfiguriert; hier sassen nur die Geigen einander gegenüber, während die Bratschen und die Celli die üblichen Blöcke in der Mitte formten. Das wird gewiss seine Gründe haben, muss aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Von all dem abgesehen bot der Abend Reiz und Anregung in Hülle und Fülle. Kent Nagano sorgte für meist frisch, vielfältig abgestufte und logisch aufeinander bezogene Tempi, die sich nicht an der Schönheit des vokalen Lauts, sondern vielmehr am Duktus der gesprochenen Sprache orientierten – so wie es sich Wagner gewünscht hat. Und Kraft gab es reichlich, wenn auch frei von Bombast und ohne Druck auf die Singstimmen; geprägt durch seine jahrzehntelangen Erfahrungen in den Orchestergräben weiss Nagano ganz genau, wie er das Orchester einen Akzent setzen und dann sogleich wieder zurücktreten lassen kann. Das gegenüber Köln weitgehend veränderte Ensemble der Sängerinnen und Sängern dankte es ihm ebenso wie das Publikum, das die ungewohnte, eben nicht auf dem Schrei basierende Singkunst bei Wagner entdecken konnte. Ania Vegry (Woglinde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Eva Vogel (Flosshilde), die drei schon in Köln beteiligten Rheintöchter, gaben es gleich am Anfang zu erkennen: mit nuanciertem Vibrato und, vor allem, mit dem Einsatz der Sprechstimme, wie ihn Wagner bei der von ihm verehrten Wilhelmine Schröder-Devrient gehört haben soll.

Mit Daniel Schmutzhard, ebenfalls aus Köln übernommen, stand den Rheintöchtern ein ungeheuer energiegeladener Alberich gegenüber. Simon Bailey gab demgegenüber einen ganz und gar gelassenen Wotan, an dem sich die argwöhnische Fricka von Annika Schlicht, ebenfalls mit sorgfältigem Einsatz des Vibratos, nach Massen abarbeiten durfte. Als Luzerner stand Mauro Peter am richtigen Platz, für die Partie des Loge ist er aber alles andere als der Richtige; sein warmer, fülliger Tenor erreicht keineswegs jene Agilität im Parlando, die dem einer Flamme gleichenden Halbgott auf den Leib geschrieben ist. Da ging es Gerhild Romberger, die wie schon in Köln die Erda sang, wesentlich besser, konnte sie doch ihrem dunklen Mezzosopran freien Lauf lassen. Kleinere Aufgaben übernahmen Dominik Köninger und Tansel Akzeybek als Donner und Froh, Nadja Mchantaf als Freia und Thomas Ebenstein als Mime sowie Christian Immler und Tilmann Rönnebeck als die Riesen Fasolt und Fafner. Bewundernswert, in wie hohem Mass und mit welcher Zielsicherheit das gesamte Ensemble aus Musik und Sprache heraus agierte, den Text verständlich werden liess und den Klang mit einer neuen Art Emphase versah. Szenisches wurde nur angedeutet, mehr braucht es nicht. Liegt im historisch informierten Ansatz die Zukunft? Als eine gewinnbringende Alternative in jedem Fall – erst recht vielleicht dann, wenn das Modell im verdeckten Graben des Bayreuther Festspielhauses ausprobiert wird.

Das Licht der Aufklärung, in Musik gebracht

Mendelssohns «Lobgesang»
beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Das nennt man Künstlerpech. Angesagt beim Lucerne Festival war der Abschluss des thematischen Schwerpunkts rund um Felix Mendelssohn Bartholdy, der vor Jahresfrist das neue Frühlings-Festival mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chefdirigenten eröffnet hatte. Doch exakt jetzt musste sich Riccardo Chailly als erkrankt melden und seine beiden Auftritte absagen. Als Glück im Unglück kann wiederum gesehen werden, dass für das grosse Finale mit Mendelssohns zweiter Sinfonie, dem «Lobgesang», Andrés Orozco-Estrada gewonnen werden konnte.

Ein Glück – und das trotz der Turbulenzen der letzten Jahre rund um den 45-jährigen Kolumbianer. Von Wien aus, wo er von 1997 bis 2003 studiert hat und wo er 2004 beim Tonkünstler-Orchester Niederösterreich mit nachhaltigem Erfolg eingesprungen ist, hat er blendend Karriere gemacht. Als Nachfolger von Paavo Järvi war er 2014 bis 2021 Chefdirigent beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt, ab 2020 wirkte er als Chefdirigent der Wiener Symphonikern. Mitte 2021 wurde dann allerdings berichtet, dass er für das Jahr zuvor eine sehr stattliche Summe aus dem Topf der Corona-Hilfen beantragt und erhalten habe. Das ist ihm übelgenommen worden. Als er im Frühjahr 2022 völlig überraschend und fristlos von seiner Aufgabe bei den Wiener Symphonikern zurücktrat, wurde jedoch weniger vom umstrittenen Verhalten des Dirigenten während der Pandemie gesprochen als von Differenzen mit dem Intendanten und dem Wunsch des Orchesters, den bis 2025 laufenden Vertrag nicht zu verlängern. Diesem Wunsch war von den Wiener Behörden stattgegeben worden.

So weit, so heikel. Inzwischen hat Orozco-Estrada ein neues Dach gefunden: 2025 wird er als Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor das Erbe von François-Xavier Roth antreten, der seinerseits als Chefdirigent zum SWR-Sinfonieorchester Stuttgart zurückkehrt. Und an den künstlerischen Fähigkeiten Orozcos kann nicht der geringste Zweifel herrschen, das hat sein Auftritt in Luzern in aller Deutlichkeit gezeigt. Mendelssohns «Lobgesang» kam zu einer stimmigen, musikalisch erfüllten Aufführung, die vom Publikum mit Stehapplaus quittiert wurde. Keine Spur von den Tempoexzessen und den dynamischen Ausreissern, die vor einigen Wochen Paavo Järvi beim Tonhalle-Orchester Zürich hat hören lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.02.23). Frisch, aber ohne Druck, dafür übers Ganze der Partitur aufeinander bezogen die Tempi. Der Klang körperhaft, in seinen Extremwerten jederzeit kontrolliert – will sagen: die Posaunen deutlich auftragend, doch nicht mit geballter Faust, die Trompeten weniger als Klangkrone denn als Verlängerung des Farbspektrums nach oben, die Hörner rund und kompakt, das Holz in ausgezeichneter Feinabstimmung und lebendig sprechend. Mit ihrem energischen Zugriff und ihrer griffigen Artikulation trugen die Streicher das Geschehen. Nur die Orgel, die hätte etwas besser hörbar sein können.

So kam es in der Sinfonia, der dreisätzigen instrumentalen Einleitung, mehr als einmal zu besonderen Momenten, etwa dank der Holzbläser, deren individuelle Klangfarben sich ganz wunderbar mischten. So ist es eben beim Lucerne Festival Orchestra, und so kann es sein, wenn ein Dirigent das Potential dieser noch immer aussergewöhnlichen Formation zu nutzen versteht. Dann aber, nach dem ruhig fliessend genommenen Adagio religioso, schlug die Stunde des von Howard Arman vorbereiteten MDR-Rundfunkchors aus Leipzig, einer grossen, mit strahlenden Stimmen in allen Registern versehenen Körperschaft. In den Chorklang mischte sich die Sopranistin Regula Mühlemann in ihrer Natürlichkeit und mit ihrem obertonreichen Timbre; ihr zur Seite stand, in der undankbaren Partie des zweiten Soprans, aber nicht minder eindrucksvoll, Simona Šaturová. Bleibenden Eindruck hinterliess auch der Tenor Allan Clayton – nicht zuletzt deshalb, weil er subtil mit jenen piano-Wirkungen arbeitete, welche die Partitur verlangt.

Überhaupt wurde raffiniert leise, aber auch gepflegt kraftvoll agiert. Und zudem durchaus mit Effekt. «Die Nacht ist vergangen»: Für den entscheidenden Satz stieg Regula Mühlemann ganz in die Höhe und sang  ihn von einem der oberen Balkone aus in den Saal – frappant war das. Es offenbarte, dass im «Lobgesang» von 1840 der 400 Jahre zuvor erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern gepriesen wird, aber mehr noch dessen Weiterungen in der Reformation, in der Aufklärung, in der Entwicklung hin zu einer sinnvoll lebbaren Gleichheit aller Menschen. Dies in den Klängen eines in eine jüdische Familie geborenen, jedoch im bürgerlichen Protestantismus der Universitätsstadt Leipzig aufgewachsenen Komponisten.

Der anregenden, in jeder Hinsicht hochstehenden Auslegung von Mendelssohns «Lobgesang» ging voran das glückliche Cellokonzert seines Freundes Robert Schumann. Leicht und luftig liess Andrés Orozco-Estrada das Lucerne Festival Orchestra klingen, was vortrefflich passte zu dem feingliedrigen Ausdruck, den Pablo Ferrández anschlug. Grossartig der Reiz der klanglichen Abschattierungen, die der junge Spanier verwirklichte, berührend die Ruhe, die er in den drei ineinander übergehenden Sätzen fand. Etwas eintönig wirkte allein das durchgehende, immer gleiche Vibrato und das bisweilen manierierte Pianissimo; beides erinnert an Anne-Sophie Mutter, die dem aufstrebenden Musiker Förderung zuteilwerden lässt. Dass er seinen eigenen Weg finden wird, ist freilich nur eine Frage der Zeit.

Ohne Live kein Life

Lucerne Festival (3):
Die Wiener Philharmoniker
als Verkörperung neuer Diversität

 

Von Peter Hagmann

 

Die Saxophonistin Valentine Michaud und der Dirigent Esa-Pekka Salonen am Werk / Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Keine Frage: Als das Lucerne Festival 2016 den Sommer der Frau, nicht zuletzt der Frau am Dirigentenpult, ausrief, ergab sich ein Wellenschlag von nachhaltiger Wirkung. Nicht dass das damals lebhaft verfolgte Festival-Motto der eigentliche Katalysator gewesen wäre, dafür lag das Thema zu sehr in der Luft. Doch ist ebenso wenig zu übersehen, dass die Frau in leitenden musikalischen Funktionen inzwischen eine viel weiter verbreitete, auch selbstverständlicher akzeptierte Erscheinung darstellt als noch vor fünf, sechs Jahren. Dass Joana Mallwitz, ab 2023 Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin, bei den Salzburger Festspielen Mozarts «Così fan tutte» leitet, notabene mit den Wiener Philharmonikern, dass bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth Oksana Lyniv aus Lemberg, Generalmusikdirektorin am Teatro Comunale in Bologna, den «Fliegenden Holländer» dirigiert und ihr im kommenden Jahr Nathalie Stutzmann mit «Tannhäuser» folgt, dass die Sopranistin Barbara Hannigan nicht nur singt, sondern auch das sie begleitende Orchester anführt – all das gehört heute zum courant normal. Dass das Gleichgewicht hier wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen noch keineswegs erreicht ist, steht auf einem anderen Blatt.

Diesen Sommer lautet das Schlagwort nun «Diversity» – englisch, wie es beim Lucerne Festival üblich ist und wie es in diesem Fall sogar angebracht sein mag. Diversität wurde hier nämlich nicht etwa ästhetisch verstanden als Vielfalt in der Einheit der Kunstmusik, wie sie etwa in den Sinfonien Gustav Mahlers erscheint. Das Motto verstand sich vielmehr in rein gesellschaftlicher Sicht als Aufruf zu vermehrter Inklusion vermeintlicher Minderheiten in den Bereich der musikalischen Kunst – ja als Forderung, zum Beispiel Menschen mit farbiger Haut mehr Teilhabe an dieser Kunst zu ermöglichen. Die Reaktionen auf das Motto fielen äusserst kontrovers aus. Auf der einen Seite wurde in gewissen Medien geradezu hyperventiliert, wurde ultimativ das Aufbrechen der sogenannt elitären, also ausschliessenden Kunst verlangt, wurde die Rolle des schöpferischen oder leitenden Individuums in Frage gestellt, das Luzerner Intendantenmodell als veraltet bezeichnet und Michael Haefliger, der das Festival seit 1999 leitet, als Sesselkleber verurteilt. Die Gegenseite wiederum hat das Thema als imageschädigende Anbiederung an den Zeitgeist und als peinliche, ausserdem wenig geglückte Kopie eines vom Davos Festival im letzten Sommer entwickelten Denkansatzes gegeisselt.

So geriet «Diversity» unter dem Strich zu einem Schuss in den Ofen. Das Motto führte zu einer Verschiebung des Fokus vom Künstlerischen auf das Gesellschaftliche, wo es beim Lucerne Festival doch in erster Linie um Musik ginge. Über das am Eröffnungsabend von Anne-Sophie Mutter gespielte Geigenkonzert von Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, wurde weniger unter musikalischen Gesichtspunkten diskutiert als unter dem Aspekt der Hautfarbe: dass dem sogenannten schwarzen Mozart nun endlich Gerechtigkeit widerfahren sei. Übersehen wird dabei, dass Diversität längst gelebt wird, etwa beim Philadelphia Orchestra, beim London Symphony Orchester, selbst bei den Wiener Philharmonikern. Und nicht zuletzt präsentierte die Kasse die Quittung. Die vergleichsweise schwache Auslastung der Sinfoniekonzerte von 74 Prozent mag auf Angst vor Ansteckung durch schniefende Sitznachbarn, auf Entwöhnung in den bisher gut zwei Jahren der Pandemie, auf die Sorgen rund um Krieg, Inflation und Klimawandel zurückgehen; keineswegs auszuschliessen ist aber auch, dass das Motto, das so eng mit den heiklen Fragen der Migration verbunden ist, in stärkerem Mass abschreckend gewirkt hat als gedacht.

***

Diversität, nun aber im ästhetischen Sinn, führten die Wiener Philharmoniker vor. Ihr wie stets zweiteiliges Gastspiel absolvierten sie unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen, dem das Orchester mit auffallender Wertschätzung begegnete – mit seiner jugendlichen Ausstrahlung, seiner mitreissenden Bühnenpräsenz und seiner Kompetenz war der 64-jährige Finne für die beiden Programme genau der Richtige. Wer am zweiten Abend den Saal im KKL Luzern betrat, sah sich empfangen von Schwaden an Bühnennebel, aus denen dann der Festivalintendant Michael Haefliger und die Saxophonistin Valentine Michaud erschienen. Die noch nicht 30-jährige Französin, die seit über zwanzig Jahren in der Westschweiz lebt, wurde von Haefliger vorgestellt als die Trägerin des Credit Suisse Young Artist Award von 2020, die ihren Preis und damit ihr Debüt mit den Wiener Philharmonikern in Luzern aus bekannten Gründen mit einer Verspätung von zwei Jahren erhielt. Mit wenigen, sehr sympathischen Worten stellte sie vor, was sie danach zu bieten gedachte. Danach heisst: nach «Le Tombeau de Couperin» von Maurice Ravel, einem Herzensstück Salonens, schon 2010 hat er es in Luzern vorgestellt, damals mit dem Philharmonia Orchestra. Sehr verinnerlicht, geradezu still liess er diese Musik vorbeiziehen, wenn auch alles andere als unbeteiligt, das gab seine Körpersprache bei aller Sparsamkeit zu erkennen. Die Wiener Philharmoniker wiederum glänzten mit ihrem transparenten, leuchtenden Ton.

Bild Peter Fischli, Lucerne Festival

Dann schlug die Stunde von Valentine Michaud – und ging es zur Sache. Aber wie. Für ihr Début mit den Wienern hatte sie sich die «Peacock Tales» des 68-jährigen Schweden Anders Hillborg ausgesucht, ein unkonventionelles, in unendlich vielen Farben des Pfauenrads schillerndes, auch aberwitzig virtuoses Stück. Ursprünglich als Klarinettenkonzert für Martin Fröst geschrieben, hat Hillborg das Werk auf Anregung und Wunsch der Solistin in eine verkürzte Fassung für Sopran-Saxophon und Orchester gegossen. Da gibt es ebenso zu sehen wie zu hören, vor allem aber zu staunen. Denn hier herrscht nicht nur ein freier, verspielter Tonfall, die Anweisungen für die Aufführung lehnen sich auch ungeniert an die Praktiken im Bereich der Popularmusik an: Diversität der anderen Art. In völliger Dunkelheit tastete sich Valentine Michaud auf das Podium; wie die gezielt eingesetzte, durch besagte Rauchschwaden unterstützte Erhellung eintrat, war eine Musikerin in ausladender, wohl gewiss wieder selbst entworfener Robe zu sehen, deren wehende Teile an einen Vogel denken liessen – und tatsächlich hatte sich Valentine Michaud, so will es der Komponist, auch eine Tiermaske aufzusetzen. Sie tanzte, spielte um ihr Leben und liess sich von den Wienern einen wunderschön gesummten Dreiklang servieren. Was Anders Hillborg, ein talentierter Eklektiker, der von der «Sadomoderne» zu sprechen liebt, von der Solistin verlangt, es ist nicht zu fassen. Ebenso wenig, wie souverän, gleichsam selbstverständlich sie mit den Anforderungen umging.

Darauf die zweite Sinfonie von Jean Sibelius, welche die Wiener Philharmoniker auf der Höhe ihres Vermögens darboten. Esa-Pekka Salonen wandte das Stück, in dem eine eigenartig kreisende Lebenskraft gegen die Melancholie anzukämpfen und sich am Ende durchzusetzen scheint, ohne Scheu, doch jederzeit kontrolliert ins Grosse – hinreissend war das. Ähnliches gilt für den ersten Abend, an dem die «Turangalîla-Sinfonie» Olivier Messiaens angesagt war, ein zehnteiliges Riesenwerk von knapp eineinhalb Stunden Dauer, in dem sich kompromisslose Nachkriegs-Modernität mit der Sinnlichkeit der französischen Spätromantik verbindet. Anstelle der am Handgelenk verletzten Yuja Wang zog der Franzose Bertrand Chamayou, dem bekanntlich nichts zu schwer ist, in bewundernswerter Weise durch die Multiplikation der Töne, während sich an den Ondes Martenot, dem frühen elektronischen Instrument, Cécile Lartigaut bewährte – hie und da vielleicht etwas zu leise. Wer glaubte, die Wiener Philharmoniker könnten nicht laut und schön zugleich klingen, durfte sich durch die üppigen Akkorde in Quintlage mit Sixte ajoutée eines Besseren belehren lassen – Esa-Pekka Salonen machte es möglich. Und klar: Eine derartige Farben- und Formenwelt ist in ihrer Eindringlichkeit nur live im Konzertsaal zu erleben.

***

Während Wien sich gerne, und nicht immer zu Recht, als Welthauptstadt der Musik, natürlich der Kunstmusik, versteht, darf sich Luzern, das hat sich in diesem Sommer wieder eindrücklich bestätigt, als Welthauptstadt der Orchesterkultur sehen. In den 33 Sinfoniekonzerten dieses Sommers gab es wieder eine Vielzahl an Überraschungen (vgl. dazu «Mittwochs um zwölf» vom 26.08.22 und vom  02.09.22). Zum Beispiel beim Luzerner Sinfonieorchester, das mit seinem Chefdirigenten Michael Sanderling einen enormen Qualitätssprung hingelegt hat. Die Sinfonie Nr. 6 in h-moll von Peter Tschaikowsky, die «Pathétique», geriet jedenfalls überaus eindrücklich: in vollem, gerundetem Klang der grossen Besetzung und in berührender, nie überschiessender Emotionalität. Zuvor hatten die «Vier letzten Lieder» von Richard Strauss erwiesen, dass Diversität noch keine Qualität garantiert: Die Sopranistin Joyce El-Khoudry stammt zwar aus dem Libanon und zeigte dunklere Hautfarbe, blieb in ihrem vokalen Vortrag jedoch bestenfalls gepflegt. Mitreissend wenig später auch die «Scheherazade» von Nikolai Rimsky-Korsakow, die Antonio Pappano mit dem hochstehenden Orchestra Nazionale di Santa Cecilia aus Rom in einen schwungvoll durchgezogenen musikalischen Erzählfluss band. Und das so geschickt tat, dass die Redseligkeit von Rimskys Handschrift für einmal gar nicht auffiel.

Einen ganz eigenen Glanzpunkt an orchestraler Kultur brachte das London Symphony Orchestra mit seinem Noch-Chefdirigenten Simon Rattle ein. Die Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 in E-dur litt unter einem erschreckenden Beginn, fiel doch ein Hornist dort im Kopfsatz, wo das Hauptthema zum zweiten Mal aufscheint, einem Schwächeanfall zum Opfer und musste vom Podium geführt werden. Ersetzt wurde er sur place von der assistierenden fünften Hornistin, was der jungen Musikerin beim Schlussbeifall einen von Rattle mit der Hand über ihrem Kopf gezeichneten Heiligenschein einbrachte. Der zweite Anlauf führte dann ins Glück. Die Orchestermitglieder hören einander zu und bilden eine unverbrüchliche Einheit mit ihrem Dirigenten. So klang Bruckner trotz grosser Besetzung, übrigens mit auffallendem Frauenanteil, kammermusikalisch leicht und hell, sogar in den Momenten gesteigerter Lautstärke. Und so traten die Instrumentalfarben deutlich heraus, jene der Trompeten bisweilen zu scharf, jene der beiden Flöten hochgradig sinnlich. Mit vorbildlicher Sorgfalt wurde abphrasiert, im raschen Dreivierteltakt des Scherzo waren die Gewichte innerhalb des Taktes klar gegliedert – beides versteht sich keineswegs von selbst, führt aber mit zu jener Lebendigkeit, welche die Wiedergabe auszeichnete.

Lebendigkeit und Intensität brachen auch im Auftritt des Philhadelphia Orchestra aus. Yannick Nézet-Séguin, sein Chefdirigent seit zehn Jahren, weiss sich und das Orchester effektvoll zu inszenieren. Die Damen und Herren ganz in Schwarz. Rot dagegen die Unterlagen auf den Notenpulten, rot der Teppich auf dem eigens aus den USA herbeigeschafften Podest für den Dirigenten, und rot die Sohlen unter dessen Lackschuhen. Das hat seine amüsante, weil ironisch verspielte Seite, steht ihm aber vielleicht etwas im Weg – wo Nézet-Séguin doch ein genuin begabter, ausgezeichnet informierter Musiker ist, wie auch seine vor kurzem bei der Deutschen Grammophon erschienene Gesamtaufnahme der Sinfonien Ludwig van Beethovens hören lässt. Mit aller Feinfühligkeit begleitete er Lisa Batiashvili im ersten Violinkonzert von Karol Szymanowski wie im Poème für Geige und Orchester von Ernest Chausson – und dann setzte er sich ans Orchesterklavier, um der Geigerin bei einer Zugabe zu assistieren. Nach der Pause schliesslich eine feurige Wiedergabe von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 in d-moll. An Effekt fehlte es nicht, und doch verkam das Werk nicht zur Showpiece. Wie kaum je liess es vielmehr die Urkraft spüren, die in dieser Musik steckt.

Grossartig. Wo, wenn nicht am Lucerne Festival, lässt sich solches erleben?