Reiz und Gewinn der Unvernunft

Das Quatuor Ebène bei der Kammermusik Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Ein voller Saal, das Publikum durchmischt mit Alt und Jung, Beifall von geradezu stürmischer Intensität, und das nach György Ligetis Streichquartett Nr. 1 aus den Jahren 1953/54 – sieht so das Ende des Konzerts, der Kammermusik, der «klassischen» Musik überhaupt aus? Dieses Ende wird gern herbeigeredet, zumal von jenen, die nichts mit Musik als Kunst am Hut haben; es steht aber keineswegs vor der Tür, der jüngste Abend bei der Kammermusik Basel führte es vor. Angesagt war ein alles andere als einfaches, gar eingängiges Programm, allerdings mit einem der allerersten Streichquartette dieser Tage. Nur hatte das Quatuor Ebène ein Problem, hatte sich Raphaël Merlin, der Cellist des Ensembles, doch vor kurzer Zeit den Ellbogen gebrochen. Er konnte ersetzt werden durch Simon Dechambre, den Cellisten des Quatuor Hanson – und dieses Ensemble hat nicht nur beim Quatuor Ebène seinen Feinschliff erhalten, sondern hat das frühe Streichquartett Ligetis auf CD aufgenommen. Ein Glücksfall, wie er nicht jeden Tag eintritt.

Ungewöhnlich schon die Eröffnung des Abends mit sechs Streicherfantasien von Henry Purcell aus dem Jahre 1680. Nicht einfach zu hören, diese Musik; sie gibt sich tonal, steht aber noch ausserhalb der harmonischen Tonalität, wie sie sich damals auszubilden begann, bis nach dem Ersten Weltkrieg dominierte und bis heute unser Hören prägt. Auch spielen lassen sich diese Stücke nicht mit links; sie warten mit manch überraschendem Harmoniewechsel auf, sie enden nicht selten auf der Dominante, an einem Punkt also, an dem für heutige Ohren noch ein Ende folgen sollte, und sie fordern die vier Interpreten mit teilweise höchst anspruchsvollem Laufwerk. Besondere Anforderungen stellt hier jedoch die Reinheit der Intonation, und das bei einem Spiel, das in der Regel ohne Vibrato auskommt. Grossartig, mit welcher Präzision das Quatuor Ebène mit seinem temporären Cellisten diese Anforderungen meisterte. Und klar, warum das Ensemble seinen Auftritt mit diesen Stücken anheben liess: Sie bringen die Vier auf eine Linie und schweissen sie zusammen.

Das war auch dringend geboten, denn das Streichquartett Nr. 1 von György Ligeti, noch vor seiner Emigration in den Westen nach dem Volksaufstand 1956 erfunden, verlangt alles, was von einem Streichquartett verlangt werden kann – wenn nicht noch mehr. In zwölf Schritten führt das verrückte Stück durch ein irres Spiegelkabinett. Seine dynamische Bandbreite reicht vom fast unhörbaren Wispern zum explosiven Aufschrei inklusive Bartók-Pizzicato, von gleichförmig liegenden Flächen zu rasenden Läufen – und das alles in denkbar komplexer Verbindung zwischen den vier Stimmen. In der Begegnung mit diesem Stück blieben nur das Staunen ob der Phantasie eines Komponisten, der in seiner durch die Kommunisten beherrschten Heimat von den Strömungen der Avantgarde weitgehend abgeschnitten war, und die Bewunderung der geradezu zirzensischen Agilität, mit der das Quatuor Ebène das Dickicht dieses Urwalds durchstreifte. Klar führend war dabei der Primarius Pierre Colombet, als zentrale Figur, kommunikativ wie musikalisch, wirkte aber Gabriel Le Magadure an der Zweiten Geige, während Marie Chilemme an der Bratsche ungewöhnliche, begeisternde Präsenz zeigte.

Nachdem es durch Purcell zusammengefunden und bei Ligeti die Extremregionen erkundet hatte, war das Quatuor Ebène in seiner ganz eigenen Art bereit für das Streichquartett Nr. 1 in a-moll aus dem Opus 41 von Robert Schumann. Auch hier: ein besonderer Moment. Schon allein deshalb, weil von Schumann der Liederfrühling, die «Davidsbündlertänze» oder die Sinfonien geliebt werden, seine Streichquartette jedoch so gut wie nie auf die Programme kommen. Dabei bietet das a-moll-Quartett enorm viel Anregung – durch den kreativen Umgang mit dem Zusammenfügen von vier Einzelstimmen zu einem Ganzen, vor allem aber auch durch die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Mendelssohn. In mancher Wendung scheint dessen Handschrift durch, handgreiflich am Schluss des Werks, wo der Dudelsack an die Schottland-Reise des um ein Jahr älteren Kollegen und ihre musikalischen Echos erinnert.  Das Quatuor Ebène stellte die Komposition in helles Licht, indem es, was das Ausdrucksspektrum betrifft, keinerlei Kompromisse zuliess, die Verläufe vielmehr nach Massen ausleuchtete und in mutiger Zuspitzung zur Geltung brachte. Dass das Streichquartett nicht nur ein Gespräch unter vier vernünftigen Leuten vorführt, sondern auch recht unvernünftig werden kann und gerade darum ganz nah an die musikalische Substanz führt – hier war es zu erleben.

Das Quatuor Ebène tritt am 4. Dezember in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters Zürich auf. Es spielt dort dasselbe Programm mit Werken von Purcell, Ligeti und Schumann.

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