Mendelssohns Oktett in der Tonhalle Zürich
Von Peter Hagmann
Auch im kleineren Format kann sich Grösseres ereignen. Sehr Grosses sogar. So geschehen vor kurzer Zeit in der Kleinen Tonhalle Zürich, in der Kammermusikreihe des Tonhalle-Orchesters, die an diesem frühen Sonntagabend helle Scharen anzog. Kein Wunder: Auf dem Programm stand das Oktett für Streicher von Felix Mendelssohn Bartholdy – der so ungemein packende und darum immer gern gehörte, freilich nicht eben häufig gespielte, weil unerhört anspruchsvolle Geniestreich. Und das nicht mit irgendwem, sondern in einer Formation mit dem Quatuor Ebène und dem Belcea-Quartett. Das hatte seinen pikanten Zug, denn die beiden Ensembles heben sich ästhetisch doch merklich voneinander ab – ja, sie nehmen geradezu gegensätzliche Positionen ein: temperamentvoll aufschäumend das Belcea-Quartett, ziseliert und nach innen horchend das Quatuor Ebène. Wie das wohl aufgehen würde?
Sensationell ist es aufgegangen. Die Aufführung gelang als ein Akt musikalisch-menschlicher Freundschaft – auf anderer als solcher Basis lässt sich diese Partitur nicht bewältigen. Sie stand auch für eine stupende Verbindung von musikalischer Individualität und Ensemblegeist. Für das Oktett Mendelssohns – beim zweiten Stück des Abends, beim Streicheroktett von Georges Enescu, war es dann umgekehrt – nahm das Quatuor Ebène die ersten Positionen ein. Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure spielten die Violinen eins und zwei, Marie Chilemme versah die Erste Viola, Raphaël Merlin das Erste Violoncello. Um die Geigen drei und vier kümmerten sich dagegen Corina Belcea und Axel Schacher, während die zweite Bratsche Krzysztof Chorzelsi und das zweite Cello Antoine Lederlin anvertraut war. Die gleichsam hinteren Positionen sind allerdings keineswegs von nachrangigem Gewicht – im Gegenteil, man muss nur an das kurze, aber wichtige Solo der Geige IV im langsamen Satz und, ganz besonders, an den Anfang des Finales denken, wo sich das Cello II einer sehr speziellen Anforderung gegenübersieht. Jedenfalls hat sich das Belcea-Quartett all dieser Aufgaben mit seiner ganzen Kompetenz und mit letztem Engagement angenommen. Und sich ohne Federlesens an die auch an diesem Abend wieder superben stilistischen Prämissen des Quatuor Ebène angeschlossen.
Dass hier zwei Ensembles zusammenkamen, welche dieselbe Spitzenqualität vertreten, zugleich aber für ganz unterschiedliche interpretatorische Zugänge stehen, das hat der Auslegung von Mendelssohns Frühwerk aus der Zeit der Sommernachtstraummusik ihre aufregende Kontur verliehen. Zu hören war nämlich, dass das Stück nicht nur als ein Oktett, sondern ebenso sehr als ein Doppelquartett in Erscheinung tritt. Ganz deutlich wurde, dass sich bisweilen zwei Blöcke herausbilden, die miteinander dialogisieren – das haben die beiden Quartette in aller Sorgfalt herausgearbeitet und so eine selten erreichte Spannung ins Geschehen gebracht. Dazu kamen Intensität und Kompromisslosigkeit, auch und gerade im Leisen. Federleicht und duftig hob der Kopfsatz an, über den Tremoli und den Synkopen zog der Primgeiger seinen aufsteigenden Verlauf mit aller Energie nach oben und liess den abschliessenden Akzent nicht aus, blieb dabei aber stets im vorgeschriebenen Piano – alles in hinreissend silberhellem Ton und so feingliedrig, dass auch das nachfolgende Crescendo nirgends grob wurde. Herrlich, wie die Bratschen die Durchführung grundierten und wie das Tutti der acht Instrumente vor dem Einsatz der Reprise zu tanzen begann.
Ein dunklerer, warmer Grundton bestimmte den zweiten Satz, der in einem flüssigen Andante genommen wurde, aber gleichwohl nichts an Emotionalität vermissen liess. Und dann das Scherzo, ein Feuerwerk an Virtuosität; hingetupft die Staccato-Töne, aber nicht maschinell, sondern lebhaft sprechend. Schliesslich das Presto, das sich attacca an das Scherzo anschloss und die Zuhörer förmlich überrumpelte. Das Problem des Satzes wurde freilich nicht gelöst – es kann nicht gelöst werden, auch nicht von so hochkarätigen Musikern wie jenen des Quatuor Ebène und des Belcea-Quartetts. Was das zweite Cello zur Eröffnung des Satzes zu spielen hat, lässt sich nicht verwirklichen; in passendem Tempo gespielt, gehen die einzelnen Töne unter, und wenn sie zu hören wären, passte das Tempo nicht. Der Satz ist vom Klavier her gedacht, wie die von Mendelssohn selbst stammende Einrichtung für Klavier zu vier Händen vorführt. Ebène und Belcea liessen sich dadurch jedoch nicht beirren und brachten die dichte Polyphonie wie die orchestralen Ausrufezeichen zu glanzvollem Effekt.
So stimmig ist Mendelssohns Oktett eigentlich nie zu hören. Auch selten zu erleben ist in der Kleinen Tonhalle Zürich ein Beifall, wie er nach den drei abschliessenden Es-Dur-Akkorden ausbrach. Bravorufe, Stehapplaus, Verbeugungen noch und noch – fast hätte es nicht weitergehen können. Die Musik, selbst die Kammermusik, sie lebt.