Ein Haus mit vielen Räumen

Jost Meier und Franz Schubert
an einem Abend der Kammermusik Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Den hochstehenden Quartettabend im Geviert von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert gibt es allemal, und zwar mit Spitzenensembles wie mit Newcomern. Was bei der Kammermusik Basel jedoch ebenso sehr zu den Konstanten gehört, ist die Pflege der neuen Musik. Der allererste Abend der Gesellschaft für Kammermusik, ein Versuch mit der Nummer 0 in der offiziellen Zählung der Konzerte, galt den damals aktuellen Basler Komponisten Walther Geiser, Hans Münch und Hans Haug. Das erste offizielle Konzert wiederum, die Nummer 1 vom 12. Oktober 1926, stand ganz im Zeichen des soeben in Basel verstorbenen Komponisten und Chorleiters Hermann Suter. Ein Streichquartett, eine Reihe von Liedern sowie ein Streichsextett schritten, dargeboten vom Basler Streichquartett und der Solistin Ilona Durigo, einen guten Teil von Suters Repertoire aus. Was hier begann, wurde in gewisser Weise zur Tradition – bis hin zum jüngsten Konzert der Kammermusik im ausgezeichnet besetzten Hans Huber-Saal des Basler Stadtcasinos.

Einen Schwerpunkt des Abends bildete das Schaffen von Jost Meier, des genau vor einem Jahr, am 5. Dezember 2022 verstorbenen Wahlbaslers. Ein Urgestein aus der erweiterten Nordwestschweiz wie der Schriftsteller Peter Bichsel, studierte der 1939 geborene Solothurner Komposition und, bei Rolf Looser, Violoncello am Konservatorium Biel. Nach dem Erwerb des Solistendiploms wirkte er einige Zeit als Cellist im Tonhalle-Orchester Zürich, bevor er in den 1970-er Jahren als Mitgründer und Chefdirigent dem Sinfonieorchester Biel-Solothurn vorstand. Später zog es ihn nach Basel, wo er an der Seite von Armin Jordan als Kapellmeister tätig war. Ab 1983 lebte er als freischaffender Komponist in Basel, wo er zwischen 1985 und 2004 auch an der Musikhochschule unterrichtete. Unvergessen sind seine sehr speziellen Beiträge zum Musiktheater, etwa «Sennetuntschi» (1983) auf den umstrittenen Text von Hansjörg Schneider, das scharfe Märchen «Der Drache» (1985) nach Jewegny Schwarz oder zuletzt «Marie und Robert» (2017) nach dem sozialkritischen Stück Paul Hallers von 1917 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.11.17).

Weniger bekannt ist Jost Meiers Schaffen für das Konzertpodium. Just darauf machte Franziska Hirzel aufmerksam, die Künstlerische Leiterin der Kammermusik Basel und dem Komponisten in langjähriger Freundschaft verbunden. Für die neuerliche Aufführung des Streichquartetts 2015, das die Kammermusik bei Meier in Auftrag gegeben hatte und das in der damaligen Ausweichspielstätte uraufgeführt wurde, lud sie Gil Sisquella und Jaume Angelès (Violinen), Bernat Santacana (Viola) und Iago Dominguez ein; sie bilden das Atenea-Quartett, eine junge, ambitionierte Formation, die sich an der Basler Musikhochschule noch perfektioniert, im vergangenen Jahr jedoch schon den Prix Credit Suisse Jeunes Solistes gewonnen hat. Mit Feuereifer und allem Erfolg stürzten sich die vier Spanier in die Abenteuer, welche die zerklüftete, von den Grund- und den Obertönen der leeren Saiten auf den vier Instrumenten ausgehende Partitur bietet.

In durchaus vergleichbarem Geist erklangen drei der insgesamt sechzehn Lorca-Lieder für Sopran und Streichquartett ebenfalls von 2015. Jost Meier hat sie für Franziska Hirzel geschrieben, die bekanntlich nicht nur die Kammermusik Basel steuert, sondern auch, nein: vor allem, Sängerin ist. Und was für eine Sängerin. Geheimnisvoll die Texte, reich an unterschiedlichen Ausdrucksfeldern die Kompositionen – in ihrer Interpretation der drei Lieder hat das Franziska Hirzel ausgezeichnet getroffen: mit einer Ausstrahlung ins Publikum, die von der Bühnenerfahrung der Sängerin zeugte, mit tadellos sitzender und souverän kontrollierter Linienführung, auch mit dem souveränen Wechsel zwischen Singen und Sprechen, nicht zuletzt aber mit allem Sinn für die Zwischentöne in Jost Meiers Musik.

Dann freilich, nach kurzem, effizient vollzogenem Umbau, schlug die Stunde des Merel-Quartetts. Im Vergleich zu der knorrigen Klanglichkeit bei Jost Meier wirkte das erste Streichquartett von Sándor Veress lieblich, eingängig, jugendfrisch. Mary Ellen Woodside und Edouard Mätzener (Geigen), Alessandro D’Amico (Bratsche) und Rafael Rosenfeld (Cello) brachten die drei hörbar von der ungarischen Folklore geprägten Sätze, die Veress im Alter von erst 24 Jahren niederschrieb, zu packender Wirkung. Schliesslich, als Höhepunkt eines langen, allerdings ebenso anregenden wie vergnüglichen Abends, Franz Schuberts Oktett für Streichquintett, Klarinette, Fagott und Horn in F-Dur, D 803. Ein sagenhaft mitreissendes Stück, erst recht, wenn es derart lebensprall dargeboten wird, wie es hier geschah. Neben dem Merel-Quartett stehend wirkte Christian Sutter als primus inter pares; unaufdringlich fruktifizierte er die Erfahrung als ehemaliger Stimmführer des Sinfonieorchesters Basel, setzte er die Akzente und brachte er seinen Kontrabass förmlich zum Tanzen. Zuverlässig der Fagottist Benedikt Schobel und der Hornist Antonio Lagares. Besonders schön geriet das sensible Aushorchen der Klarinettenstimme durch Heinrich Mätzener, etwa sein Ausformen der Übergänge und sein Dialogisieren mit der Primgeigerin. Ein Ensemble ad hoc, das blendend aufeinander hörte und dem sinfonischen Anspruch der Komposition in jedem Moment gerecht wurde.

Intimität der Stille, Glanz der Virtuosität

Schuberts Oktett mit Isabelle Faust und ihren Freunden

 

Von Peter Hagmann

 

Eine CD wie diese macht echt glücklich. Das Oktett Franz Schuberts in F-dur für Streichquintett und drei Bläser zu erarbeiten war der Wunsch der Geigerin Isabelle Faust. Und erfüllen wollte sie sich ihn im neuen Geist der alten Musik: mit Instrumenten grosso modo aus der Entstehungszeit der Komposition, mit den ihnen angemessenen Spieltechniken und den dazu gehörigen interpretationsästhetischen Maximen. Auf dieser Basis gelang der Musikerin gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Dunstkreis des Freiburger Barockorchesters eine künstlerisch wie atmosphärisch unerhört treffende Auslegung dieses grossen, grossartigen Stücks von 1824 – eines Werks, das nicht mehr nur Kammermusik und noch nicht ganz Orchestermusik ist.

Isabelle Faust selbst spielt ihre Stradivari «Sleeping Beauty» von 1704, auf der sie ein wunderbar zartes Pianissimo zu erzielen vermag. Sie eröffnet damit eine Welt des Leisen, des intimen Gesprächs, an welcher der Klarinettist Lorenzo Coppola mit seinen gehauchten Passagen hochstehend Anteil nimmt. Sehr präsent sind die Mittelstimmen, die Anne Katharina Schreiber an der Zweiten Geige, der Bratscherin Danusha Waskiewicz und dem oft in brillanter solistischer Fügung heraustretenden Cello von Kristin von der Goltz, aber auch dem agilen Fagottisten Javier Zafra anvertraut sind, während James Munro am Kontrabass mit seinem federnden Ton für elegante Fundamentbildung sorgt. Aufsehen erregt auch der Hornist, der an seinem ventillosen Instrument von 1802 eine ganz erstaunliche klangliche Konstanz erreicht – hochgradig virtuos ist das.

Ja, bei aller Intimität des musikalischen Dialogs, welche die Schönheiten dieses Stücks atemberaubend zur Geltung bringt, kommt es immer wieder zu Momenten des spritzigen Zugriffs und des gewagten Drahtseilstanzes. Das Scherzo des dritten Satzes wird spitz und leicht genommen, das Horn schmettert dazu frisch-fröhlich ins Geschehen. Und wenn im Finale die Primgeigerin und der Klarinettist mit ihren halsbrecherischen Triolen wetteifern, hält man für Augenblicke den Atem an. Besonders auffallend ist jedoch der Umgang mit den Tempi, die immer wieder gleichsam aus dem Moment heraus nuanciert werden – um einzelne Gesten auszuzeichnen, den Bogen zu sichern oder eine dynamische Steigerung zu unterstützen.

Dies alles jederzeit im Dienst am Werk – an einer Partitur, die in der Charakteristik ihrer Gesten und der Inspiration ihrer Ausformung zum Allerbesten in Schuberts Schaffen gehört. Sehr langsam hebt bei Isabelle Faust und ihren Freunden der Kopfsatz an, in unendlicher Sorgfalt wird dieses Adagio ausgelegt – bis hin zum Triller der Klarinette, der nicht einfach klingelt, sondern sich subtil beschleunigt. Und dann das Allegro, das in der Tempobeziehung logisch herbeigeführt, durch die Energie im Inneren getragen und durch die explizite Genauigkeit in der Phrasierung geprägt wird. Im zweiten Satz lässt sich der Reichtum an Klangfarben bewundern, den die alten Instrumente hervorzaubern – besonders dann, wenn die Primgeigerin mit den schönsten geraden Tönen dazu tritt, das Vibrato also sehr sorgfältig und sparsam einsetzt. Der Besonderheiten sind kein Ende, zumal im vierten Satz mit seinen Variationen, in denen die einzelnen Instrumente zu Personen mit sehr eigenen Physiognomien werden.

Nur ein Wunsch muss naturgemäss offenbleiben. Der nämlich, dieses Wunderstück in dieser Wunderinterpretation im Konzert hören zu können.

Franz Schubert: Oktett in F-dur, D 803. Isabelle Faust (Violine), Anne Katharina Schreiber (Violine), Danusha Waskiewicz (Viola), Kristin von der Goltz (Violoncello), James Munro (Kontrabass), Lorenzo Coppola (Klarinette), Teunis van der Zwart (Horn), Javier Zafra (Fagott). Harmonia mundi 902263 (Aufnahme 2018).