Eindrücke von der Biennale Musica in Venedig
Von Peter Hagmann
Zerfressen vom Salzwasser in der Lagune und erstickt in den Massen an Touristen steuere Venedig unaufhaltsam auf den Untergang zu – so wird nicht selten prophezeit. Wer Augen hat zu sehen, kann dieser frühherbstlicher Tage feststellen, dass hier wieder einmal eines der üblichen Klischees Urständ feiert. Gewiss ist nicht wenigen Gebäuden die Baufälligkeit anzusehen. Gleichzeitig verkehren auf den Kanälen aber auch Vaporettoni mit dicken Baumstämmen und abenteuerlichen Maschinen – irgendwo werden sie ja gebraucht werden; geschähe ihr Einsatz ohne jede Aussicht auf Erfolg, käme es nicht dazu. Und was die Horden auf der Seufzerbrücke und andernorts betrifft: Sie sind da, aber in weitaus moderaterem Ausmass als je. Die riesigen Kreuzfahrtschiffe scheinen sich nun doch von der Lagune fernzuhalten, so dass der Gang durch die engen Gässchen ohne jede Kollision gelingt.
Was besonders auffällt, ist die natürlich nur subjektiv wahrnehmbare, im Augenblick aber ausgesprochen kräftig wirkende Lebendigkeit in der Stadt. Wer sich ein wenig auskennt, kann nach wie vor erlesene Gastronomie erleben. Und klar, viele der prächtigen Paläste, nicht nur am Canal Grande, zeigen mit ihren geschlossenen Fensterläden an, dass sie nicht bewohnt sind. Ebenso wenig ist aber zu übersehen, wie offensiv sich Venedig als Kulturstadt zeigt. Dafür stehen nicht so sehr die offenkundig gut besuchten Konzerte mit Musik des Stadtheiligen Antonio Vivaldi, die in manchen Kirchen angeboten werden, als die zahlreichen Kunstausstellungen. In der Peggy Guggenheim Collection lässt sich auf allerhöchstem Qualitätsniveau in das Thema «Surrealismus und Magie» eintauchen. Und der Stadtpalais der auf der Insel San Giorgio domizilierten Fondazione Cini mit ihrer enormen Bibliothek und ihren zahllosen Forschungsinstituten lädt zur Besichtigung der hauseigenen Sammlung wie einer Ausstellung zu Joseph Beuys ein.
Beuys pflegte die Grenzüberschreitung in eigener Art – und genau das tut derzeit die heuer zum zweiten Mal von der italienischen Komponisten Lucia Ronchetti kuratierte Biennale Musica. Das anders, als es sein Titel suggeriert, alljährlich im Herbst durchgeführte Festival für neue Musik sucht dieses Jahr den Begriff dessen, was unter Musiktheater verstanden werden kann, neu zu beleuchten. «Out of stage» lautet das Motto. Weg vom Guckkasten der Bühne und seinen Prämissen, hinaus ins Offene, und zwar sowohl der Spielorte, der Thematik wie der gesellschaftlichen Konstellation – so könnte man es sehen. Dabei wird, anders als bei den Donaueschinger Musiktagen, die sich als Uraufführungsfestival verstehen, durchaus auch historischer Kontext geschaffen, wird mit Stücken wie «Dressur» (1977) von Mauricio Kagel, «Graffitis» (1981) von Georges Aperghis oder «Hirn & Ei» (2010) von Carola Bauckholt in Erinnerung gerufen, dass die Versuche, die Beziehung zwischen Musik und Theater neu zu definieren, durchaus ihre eigene Geschichte haben.
Die wichtigen Akzente werden jedoch durch Uraufführungen gesetzt – Uraufführungen von Werken, die von der Biennale in Auftrag gegeben wurden und die sich explizit auf die Stadt mit ihrem musikalischen Dasein in Geschichte und Gegenwart beziehen sollten. Fabelhaft eingelöst hat das der 46-jährige, in Bern lehrende Däne Simon Steen-Andersen mit seinem rund einstündigen Stück «The Return», das den ebenso komplizierten wie vielsagenden Untertitel «a.k.a. Run Time Error@Venice feat. Monteverdi» trägt. Steen-Andersen versteht das Komponieren nicht allein als das Niederschreiben von Musik, er blickt vielmehr radikal über den Gartenzaun hinaus und sieht den schöpferischen Akt als ein Raum- wie Zeitgefühl ergreifendes Tun. In seinem 2014 in Donaueschingen aus der Taufe gehobenen Klavierkonzert verbindet sich die Musik mit dem Bild und lebt aus ihm. Der Solist betätigt hier sowohl einen intakten Flügel als auch eine Midi-Tastatur, die erschreckend zerbrochene Klänge von sich gibt; und am Ende zeigt der neben dem Solisten aufgestellte Bildschirm, wie ein Konzertflügel aus der Höhe auf den Boden kracht und zerbirst.
In «The Return» geht Steen-Andersen einige Schritte weiter in jene Richtung, die von Künstlern wie dem an der Biennale ebenfalls präsenten Niederländer Michel van der Aa vertreten wird. Ausgangspunkt von «The Return» bildet «Il Ritorno di Ulisse in Patria», die 1640 in Venedig uraufgeführte Oper Claudio Monteverdis. In einem ungemein packenden Bilderbogen geht Steen-Andersen der Frage nach, was das heissen könnte: Monteverdi, «Ulisse», Venedig. Und er tut das auf den verschiedensten Ausdrucksebenen: mit Sprache und Musik, mit szenischer und filmischer Aktion. Multimedial eben. Monteverdis Oper kommt vor, bisweilen gar im Original – und hochstehend aufgeführt durch Giulia Bolcato (Sopran), Anicio Zorzi Giustiniani (Tenor) und Davide Giangregorio (Bass) sowie das solistisch besetzte Instrumentalensemble VenEthos. Ebenso oft erklingt Monteverdis Musik aber auch verzerrt, als ob sie unter dem Wasser der Lagune gesungen würde oder über einen unendlich langen Plastikschlauch aus der Vergangenheit zu uns herüberkäme. Dabei zeugt der Umgang mit der Vorlage von tiefem Respekt und liebevoller Hinwendung. Etwa dann, wenn sich Steen-Andersen zusammen mit seinem Team auf die Suche macht nach jener Gasse, in der das nicht mehr existierende Opernhaus der Uraufführung stand, dabei sogar fündig wird und genau an jener Stelle eine Arie anstimmen lässt.
Das alles wird im grossformatig gezeigten Video eingebracht – als eine parallel zum Stück ablaufende Dokumentation der Entstehung der vor vollen Rängen im Teatro Piccolo gezeigten Produktion. Angesiedelt ist ihr Geschehen in den Gassen und auf den Kanälen Venedigs, in erster Linie aber auf dem ausladenden Gelände des Arsenals – in Kavernen, in Höfen, auf Turmesspitzen, jedenfalls an Orten, die der Besucher der Biennale bestenfalls kennt, meist aber bloss erahnt. Witzig überschneiden sich dabei die Ebenen: die vorgespiegelte Realität des Videos und die gespielte Wirklichkeit auf der Bühne, darüber hinaus auch die zeitlichen Abläufe. Virtuos wird dabei auf Zuspitzung hingearbeitet – bis dorthin, wo zwei Darsteller ihre Weingläser aneinanderschlagen, der eine auf der Bühne, der andere im Video, beide unterstützt durch den Klang eines Triangels. Faustdick hat es Steen-Andersen hinter den Ohren, lustvoll, ja echt lustig spielt er mit den Ideen und den Situationen – etwa mit jener leitmotivisch eingesetzten Installation aus dem Geiste Jean Tinguelys, in der eine zufällig von oben herabrollende Kugel die verschiedensten Aktionen auslöst. Das alles in technisch blendender Perfektion.
Eine ähnlich verspielte, nur sozusagen rein analoge Haltung nimmt Giorgio Battistelli ein, das Urgestein der italienischen Avantgarde. An der diesjährigen Biennale wurde der 69-jährige Römer für sein Lebenswerk mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet, während seine Freunde vom Ensemble Ars Ludi, als da sind Antonio Caggiano, Rodolfo Rossi und Gianlucca Ruggeri, wenige Tage später den silbernen Löwen entgegennehmen durften. Battistelli bestritt die Eröffnung des Festivals im Teatro La Fenice. Auf dessen immenser Bühne gaben die drei Herren von Ars Ludi «Jules Verne», eine einstündige Harlekinade rund um drei Figuren des Autors. Das Stück stammt von 1987, in Venedig wurde es in einer neuen, italienischen Version dargeboten. Zwischen einem mehr als gut bestückten Arsenal an Klangerzeugungsmitteln spazieren da Professor Lidenbrock, Doktor Ferguson und Kapitän Nemo vom einen Ort zum anderen, betätigen hier dieses, dort jenes Gerät, singen, sprechen, rufen, gehen baden, schiessen um sich – am Ende weiss man bei diesem an Kagel erinnernden, gleichwohl sehr persönlichen, amüsant überdrehten Spektakel nicht, wo einem der Kopf steht. Auch der Schluss der diesjährigen Biennale gehört Giogio Battistelli. In wenigen Tagen gibt es im Teatro alle Tese auf dem Gelände des Arsenals «Experimentum mundi», die von 1981 stammende Oper für Schauspieler, vier Frauenstimmen, eine Gruppe Handwerker und einen Schlagzeuger, alle vom Komponisten am Dirigentenpult angeleitet.
Alles anregend, alles bereichernd – nicht zuletzt dank der intellektuellen Einbettung durch eine Fülle an Vorträgen, Workshops, Runden Tischen und einen über vierhundert Seiten starken Katalog. Wie dann das Gewitter mit Sturm und Starkregen ausbrach und sich die Menschen unter den Arkaden in Schutz brachten, wie etwas später am Automaten aber doch eine Fahrkarte fürs Vaporetto gelöst werden konnte, aber kein Schiff auftauchte, weil der angekündigte Streik im öffentlichen Nahverkehr ohne Ankündigung in den Abend hinein verschoben worden war, weshalb ein durchnässender Fussmarsch durch die menschenleere Stadt angesagt war – spätestens dann waren wir wieder glücklich zuhause bei den Klischees, die so untrennbar mit der zauberhaften Stadt Venedig verbunden sind.