Der ganz normale Wahnsinn

In einer denkwürdigen Autobiographie blickt der Komponist Georg Friedrich Haas auf seine Kindheit und die Jahre des Werdens.

 

Von Peter Hagmann

 

«Nazibub» nennt sich Georg Friedrich Haas im Untertitel jenes Buches, in dem er sich seiner Kindheit, seiner Jugend und seiner Adoleszenz erinnert. Die Bezeichnung trifft haargenau. Tatsächlich entstammt der demnächst siebzigjährige Komponist aus Österreich, einer der ganz Grossen seines Faches, ein Künstler mit eindeutigen gesellschaftspolitischen Positionsbezügen (und solchen, die klar links von der Mitte zu verorten sind) – tatsächlich entstammt Georg Friedrich Haas einer Familie und einem Milieu, in dem nationalsozialistisches Denken und Handeln zutiefst verankert waren. Und es blieben. Lang und reich an Schmerz war der Weg, den der «Nazibub» von seinem geistigen und seelischen Erwachen über Widerstand und Entfremdung hin zu vollständiger Emanzipation und Neuerfindung der Identität gegangen ist. In seinen 2014/15 von der Seele geschriebenen, zwischen 2018 und 2022 erweiterten und in Form gebrachten Memoiren, die Ende letzten Jahres unter dem Titel «Durch vergiftete Zeiten» bei Böhlau herausgekommen sind, schildert es Haas in allen, und man muss sagen: in allen ebenso schrecklichen wie erschreckenden Einzelheiten.

Zu Memoiren gehört, dass das erzählende Ich im Zentrum steht, das gilt auch für den Band von und mit Georg Friedrich Haas. Indessen geht es hier nicht um das goldene Licht der Erinnerung. Nichts wird da beschönigt, nur wenig verschwiegen – im Gegenteil: Haas steht sich selber in kritischer Distanz gegenüber, er thematisiert sein Schweigen, wo es vielleicht nicht die einzige Reaktion gewesen wäre, und steht zur Scham, die ihn bis heute umtreibt. Bedeutender ist jedoch die schonungslose Ausleuchtung des Umfelds, in das Haas hineingewachsen ist und von dem er sich in aller Gründlichkeit gelöst hat – und das geschieht so sorgfältig, dass das Buch Pflichtlektüre sein muss. Zumal hinter dem Autor zwei ihm freundschaftlich zugewandte Helfer stehen; der Zeithistoriker Oliver Rathkolb und der Musikwissenschaftler Daniel Ender unterlegen die Ausführungen mit Anmerkungen, welche die Faktenlage stützen, Quellen anführen und bisweilen liebevoll korrigierend eingreifen. Das schafft jene Objektivität, die aus dem Memoirenband ein Dokument zur jüngeren Geschichte Österreichs macht. Und nicht nur das. Wer in dem Buch verfolgt, wie sich eine Ideologie in einzelnen Menschen einnisten und sie von dort aus zu verabscheuungswürdigen Taten verführen kann, braucht weniger als einen Lidschlag, um die Parallelität zum Geschehen in Russland und der Ukraine zu erkennen.

Die Grosseltern und die Eltern von Georg Friedrich Haas waren bekennende Nationalsozialisten. Fritz Haas, der Grossvater väterlicherseits, überstand den Ersten Weltkrieg als Offizier, geriet 1917 in russische Gefangenschaft und verfolgte ab 1921 eine glänzende Laufbahn als Architekt. 1928, noch nicht vierzig Jahre als, wurde er als Professor an die Technische Universität Wien berufen, als deren Rektor er 1938 bis 1942 wirkte. 1934 trat er der damals noch illegalen NSDAP bei und blieb ein ferventer Nazi bis zu seinem Tod 1968. Nach Kriegsende und Umerziehungslager verlor er alle Ämter wie auch seine Wiener Wohnung, erhielt jedoch eine Rente. Was zur «Gesinnung» gehörte, lebte er und gab er weiter: unbedingter Gehorsam gegenüber den Eltern, Schweigen der Kinder am Esstisch, Körperstrafen, Führerkult, Antisemitismus. Einem jüdischen Freund, der zum Transport ins Konzentrationslager aufgeboten war, verweigerte er die Hilfestellung, dafür plünderte er danach dessen Wohnung. Eine jüdische Familie, die um ein Nachtlager bettelte, überantwortete er umstandslos der Gestapo. Nach dem Krieg sah er sich als Opfer und gab er sich wie viele Menschen aus seiner Generation aktiv als Altnazi zu erkennen. Steht Haas diesem Machtmenschen distanziert gegenüber, zeichnet er seine Grossmutter väterlicherseits liebevoll. Auch Irmgard Haas war Nationalsozialistin, auch sie war Parteimitglied, aber sie machte sich nicht schuldig. Vielmehr akzeptierte sie die ganz anderen Ansichten ihres Enkels, der fürs Studium zu ihr nach Graz gezogen war, ja sie unterstützte ihn in seinem Werdegang als Musiker.

Ein vielschichtiges Bild entsteht in dieser Erzählung – eines in grausig bunten, schneidend grellen Farben. Dass manche Nazis nach Kriegsende ihrer «Gesinnung» mehr oder weniger offen treu blieben, einfach das Mäntelchen wechselten, es ist bekannt. Zum Beispiel von Erich Schenk, dem langjährigen Wiener Ordinarius für Musikwissenschaft, der seiner antisemitischen Haltung zum Trotz nach Kriegsende nicht nur in seiner Position verblieb, sondern von der Republik Österreich dekoriert wurde. Georg Friedrich Haas berichtet aus eigener Anschauung, wie Altnazis von den wiederauferstandenen Parteien als Wähler umworben wurden und als Preis für einen Parteieintritt ihre Stellungen zurückbekamen. Und er zeichnet nach, wie an einer Einrichtung wie der von ihm als Student wie als Dozent betretenen Grazer Musikhochschule noch bis in die achtziger Jahre, bis hin zu den epochalen Rektoraten von Otto Kolleritsch, Positionen aufgrund einschlägig gefärbter Netzwerkverbindungen vergeben wurden. Haas hat selbst sehr konkrete Erfahrungen gemacht. Nachdem er um die Jahrtausendwende eine Petition unterschrieben hatte, welche die Einladung der damals heiss diskutierten Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» nach Graz verlangte, wurde mehrfach in sein einsam gelegenes Wohnhaus eingebrochen und ihm am Ende ein toter Hase vor die Eingangstür gelegt.

Damit war das Fass voll. Den rechtsgerichteten «Verein deutscher Studenten», in den er alter Familientradition gemäss eintrat, in dem er sich erst (wider besseres Wissen) anpasste, um später (vergeblich) Widerstand zu leisten, verliess Georg Friedrich Haas. Mit den Eltern brach er. Ein schwerer Schritt, denn trotz ihrer strammen «Gesinnung» war ihnen innig verbunden; überhaupt macht die Diskrepanz zwischen der Liebe zur Familie und der wütenden Scham im Angesicht ihrer Denk- und Lebensweise die Lektüre der Memoiren zu einer beklemmenden Erfahrung. Und er zog weg – weit weg nach Westen, erst nach Basel, wo er eine Professur an der dortigen Musikhochschule annahm, schliesslich nach New York, wo er als Professor für Komposition an der Columbia University und in einer vierten Ehe seinen Frieden gefunden zu haben scheint. Auch seinen musikalischen Stil habe er modifiziert, schreibt er; in Zukunft, so habe er beschlossen, wolle er nicht mehr irgendwelchen Gesetzmässigkeiten gehorchen, sondern ausschliesslich seinen ganz ureigenen Gefühlen folgen. Dazu, überhaupt zum Niederschlag des Biographischen im Musikalischen, ist vergleichsweise wenig zu erfahren. Als Co-Herausgeber steuert Daniel Ender in seinem Vorwort einiges dazu bei. Das Ensemblestück «in vain» etwa entstand im Jahre 2000 als Reaktion auf den Einzug der FPÖ in die Regierung des damaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel; das Statement des Komponisten bestehe darin, dass das Stück, so Ender, eine explizite Reprise enthalte, was für neue Musik aussergewöhnlich sei.

In der gnadenlosen Präzision der Schilderungen und in seiner schockierenden Offenheit dürfte das Buch niemanden kalt lassen. Auch jene nicht, die der Meinung sind, das sei alles vergangen und überwunden. Vergangenheit ist es, von Überwindung kann jedoch keine Rede sein, wie der Blick auf die Entwicklungen in Österreich und genauso gut anderswo zeigt. «Ich habe noch viel zu tun.» Mit diesem Satz enden die Memoiren von Georg Friedrich Haas. Dem kann man sich nur anschliessen.

Georg Friedrich Haas: Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben. Herausgegeben von Daniel Ender und Oliver Rathkolb. Böhlau, Wien und Köln 2022. 293 S., Fr. 56.90.

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