Francis Poulencs «Dialogues des Carmélites» im Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Wie haben wir ihn nicht geschmäht: als Traditionalisten, als Katholiken, als Boulevardisten. Das war zu Zeiten, da Darmstadt noch den Vatikan der Neuen Musik beherbergte. Sie sind längst vorbei. Heute blickt man entspannter auf die Musik von Francis Poulenc (1899-1963), auf das unangepasste Gloria etwa, auf das verschmitzte Orgelkonzert oder das frischfröhliche Konzert für zwei Klaviere und Orchester. Auch auf die «Dialogues des Carmélites», Poulencs religiöse Oper von 1956, zumal wenn sie so schlüssig dargeboten wird, wie es jetzt am Opernhaus Zürich geschieht. Die Premiere war ein einhelliger, rauschender Erfolg.
Ein grossartiges, ganz und gar eigenständiges Stück, das zeigt der Abend. Und ein Werk, das stark und selbstbewusst am Rand des Repertoires steht. Was Oper zur Oper macht, ist kaum vorhanden. Es gibt keine Arien und keine Ensembles, keine Liebesgeschichte, auch fast keine Handlung. Und: Es gibt keine Männer, die wenigen Vertreter des starken Geschlechts fungieren als dramaturgische Zudiener. Im Zentrum steht eine Gruppe von Nonnen aus dem Orden der Karmeliterinnen, die im Sommer 1794, der Terror der französischen Revolution stand auf seinem Höhepunkt, aus ihrem Kloster vertrieben, zum Ablegen ihrer Tracht gezwungen und schliesslich unter einem Vorwand guillotiniert wurden. Unter ihnen Blanche, eine junge Frau adliger Herkunft, die angesichts der heiklen familiären Verhältnisse an Angstzuständen leidet und im klösterlichen Leben Heilung sucht. Nach der Vertreibung aus dem Asyl taucht sie unter – um sich am Ende wieder ihren Schwestern anzuschliessen und ihnen gleich aufs Schafott zu steigen. Sie hat ihre Angst überwunden, wenn auch um den Preis ihres Lebens.
Die Geschichte ist von Poulenc als seinem eigenen Librettisten in eine über zwölf Bilder reichende Folge von Rede und Gegenrede gefasst, intellektuell auf höchstem Niveau und sprachlich absolut exquisit. Im eigentlichen Sinne vertont ist die Vorlage nicht, die Musik schmiegt sich vielmehr zeichnend und kommentierend unter den Text – fast wie im Melodram. In der Zürcher Produktion ist das besonders stark zu erleben, weil die (an der Premiere noch etwas verwackelte) Philharmonia Zürich unter der Leitung von Tito Ceccherini, eines Kenners der neuen Musik, die ebenso traditionsverbundene wie moderne Sinnlichkeit des Orchesterparts explizit herausstellt. Die Würzung konsonanter Akkorde durch reibende Sekunden, die Terzlage von Akkorden in Momenten besonderer Emphase und erst recht die vielgestaltige, farbenreiche Instrumentation sorgen für eine Haptik ganz eigener Art.
Und für enorme Spannung in einem szenischen Verlauf, der als solcher beinahe unmerklich bleibt. In dem strengen, hochästhetischen, mit wenigen, aber effektvollen Zeichen arbeitenden Bühnenbild von Ben Baur (die in Farbe und Form sehr aussagekräftigen Kostüme stammen von Gideon Davey) sorgt die Regisseurin Jetske Mijnssen für Konkretisierungen des szenischen Moments, die ein ums andere Mal tiefe Betroffenheit auslösen. Einen ersten Höhepunkt bildet die Begegnung von Blanche mit Madame de Croissy, der alten, von schwerer Krankheit gezeichneten Priorin jenes Klosters, in dem die junge Frau unterkommt. Zuerst der Kontrast zwischen der tiefen Lebensweisheit des Alters und der scheuen, aber dringlichen Annäherung der Jugend, dann jedoch, und vor allem, der schreckliche, weil langsame, schmerzhafte Tod der Priorin in den Armen der Novizin. Evelyn Herzlitzius gibt diese beiden Szenen als eine hinreissende Tragödin, geradezu expressionistisch, ohne Schonung der Stimme, mit letztem Einsatz der Körpersprache. Mit der Ukrainerin Olga Kulchynska als Blanche steht ihr eine Darstellerin gegenüber, welch die Eigenheiten der französischen Deklamation mit bewundernswerter Geschmeidigkeit in ihre Stimmkunst integriert hat und ihre Präsenz in der Zurückhaltung findet.
Zugespitzt und feinsinnig zugleich das Finale, in dem die Köpfe rollen. Ganz einfach, sozusagen choreographisch zeigt es Jetske Mijnssen. Eine nach der anderen tritt zu den zischenden Geräuschen des Fallbeils ihren Weg an und löscht dabei ihren mit Kohle auf die raue Wand des Gefängnisses geschriebenen Namen aus, beobachtet von Blanche, die gleichsam aussen steht, dann jedoch als Letzte folgt. Weitergehende szenische Andeutungen, gar eine Guillotine in Aktion, braucht es da nicht, das Dünnerwerden, schliesslich das unvermittelte Abbrechen des «Salve regina» und das leise, trockene Pizziccato, zu dem der Blackout eintritt, sagen genug.
Es ist ein Abend der vertrauensvollen Hingabe an das Werk, verwirklicht durch ein stimmlich charakteristisch besetztes, mit letzter Sorgfalt geführtes Ensemble. Nicolas Cavallier, etwas heftig im Forte, aber vorbildlich in der Aussprache des Französischen, steht als der Vater von Blanche, als der in seinen Gewohnheiten erstarrte Marquis, für die alte Zeit – wie es die Bühne tut, die da einen Kronleuchter und ein höfisches Ballett (Choreographie: Lillian Stillwell) sehen lässt. Man siezt sich im Hause de La Force, auch der Chevalier (mühelos bewältigt Thomas Erlank die Höhen, die zum französischen Tenor gehören) hält es so. Eine andere Welt öffnet sich mit dem Kloster. Dort wird nach dem Tod der alten Priorin mit Madame Lidoine (Inga Kalna füllt die Rolle voll aus) eine etwas einfacher gestrickte, selbstgerechte Nachfolgerin eingesetzt, die von ihrer Stellvertreterin Mère Marie (Alice Coote als eine eindrucksvolle Erscheinung) allerdings sogleich an die Wand gespielt wird. Und dort findet sich auch Sœur Constance, wie Blanche eine Novizin, die von Sandra Hamaoui mit heller, klangvoller Stimme als ein lebenslustiges, aber auch von düsteren Ahnungen erfülltes Wesen vorgestellt wird.
Schönheit verbindet sich an diesem Abend mit Schärfe. Nicht in der direkten Unmittelbarkeit, da folgt Jetske Mijnssen dem Komponisten, der in einem Brief festhält, in den «Dialogues des Carmélites» solle die Revolution eher erahnt als gesehen werden. Sehr wohl aber in den Abgründen der menschlichen Existenz.