«Le Grand Macabre» von György Ligeti im Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Wenn die Lichter im Saal erloschen sind, platzen sie aus dem Nichts in die Ohren: die Autohupen, die krass klingen, aber in Rede und Gegenrede ein artiges Ensemble bilden. Der fulminante Einstieg mitsamt seiner Fortsetzung, mit dem Röhren der tiefen Blechbläser und des Kontrafagotts, mit dem knarzenden Brummen der Kontrabässe, schliesslich mit dem Auftritt des dauerbesoffenen Piet vom Fass (Alexander Kaimbacher) und mit der vor nichts zurückschreckenden Fäkalsprache – es ist immer wieder eine Gaudi. Seinen Pfeffer hat das Ding allerdings verloren. Die zwei amüsante Stunden lang ausgelebte Unanständigkeit von György Ligetis Oper «Le Grand Macabre» aus den Jahren 1974 bis 1977 hat längst Züge hoher Kunst angenommen – und wenn das Stück an einem respektablen Ort wie dem Opernhaus Zürich zur Aufführung kommt, wird die Domestizierung erst recht spürbar. «Le Grand Macabre» scheint da ganz in der Oper angekommen.
Das muss nicht unbedingt so sein. Vor knapp zwei Jahren wurde «Le Grand Macabre» vom Luzerner Theater in einer Weise realisiert, die durchaus etwas von der ursprünglichen Sprengkraft des Werks lebendig werden liess. Ligetis Oper ist damals über alles hinausgeschwappt: aus dem Orchestergraben in die Proszeniumslogen und auf die Bühne, von der Bühne in den Zuschauerraum. Der engen Verhältnisse im Stadttheater Luzern wegen bildete das enorme Arsenal an Schlaginstrumenten, unter ihnen die vier Autohupen, den einheitlichen Spielort. Und als sein eigener Ausstatter hatte der Regisseur Herbert Fritsch so grelle Farben (der Kostüme) und so wirbelnde Aktion (der Darsteller) entworfen, dass die Frechheiten, die sich Ligeti in ungebremster Lust ausgedacht hat, in aller Schärfe wirksam wurden. Übrigens auch musikalisch, was nicht zuletzt auf den Dirigenten Clemens Heil zurückging.
Im Vergleich dazu ist in Zürich alles eine Spur grösser, alles ein Grad distanzierter. Die Philharmonia, das Orchester der Oper Zürich, sitzt tief unten im Graben und bringt dort eine weit grössere Streicherbesetzung ins Spiel, als es in Luzern möglich ist. Das bindet den Klang und mildert ihn – auch wenn sich hie und da Instrumentalisten aus den Logen heraus vernehmen lassen. Dazu kommen die vergleichsweise langsamen Tempi, die der fabelhafte, an die Stelle des ursprünglich angekündigten Generalmusikdirektors Fabio Luisi getretene Dirigent Tito Ceccherini wählt. Sie fördern die Textverständlichkeit, die bei diesem Werk von besonderer Bedeutung ist. Und mehr noch: Die ruhigen Zeitmasse schaffen den Raum für das genaue Zuhören und für das Entdecken der hochgetriebenen Kunstfertigkeit, die Ligetis scheinbar so vordergründigen Klamauk trägt. Es ist schon so: Jedes Mal, wenn man dem «Grand Macabre» begegnet, glaubt man sich in nur zu vertrauten Gefilden – und kann man dennoch immer wieder Neues entdecken. Jedenfalls macht die Zürcher Produktion nachhaltig bewusst, dass «Le Grand Macabre» nicht nur scharfsinniger Grand Guignol ist, sondern vor allem als ein Meisterwerk erster Kategorie gelten darf.
Auch die Regisseurin Tatjana Gürbaca scheint es so zu sehen. Gewiss sorgt sie dafür, dass sich die Figuren einen Abend lang voll ausleben können. Zugleich versucht sie aber, sie ernst zu nehmen und hinter ihre Fassaden zu blicken. Mescalina zum Beispiel ist hier nicht die keifende Domina, die den hilflosen Hofastrologen Astradamors (Jens Larsen) nach Massen drangsaliert; sie wird vielmehr als eine zutiefst liebende Frau gezeigt, die mit gewiss etwas eigenwilligen Mitteln ihrem ermatteten Gatten auf neue Sprünge zu helfen sucht. Die Spinne beispielsweise, vor der es Astradamors so offenkundig graust, ist nicht Mescalinas Haustier, sondern ihr Schamhaar, zu dem sie die Hand des schaudernden Gatten führt. Am Premierenabend erhielt das seine besonders pikante Note, weil Judith Schmid, die diese Partie einstudiert hatte, mit einer Grippe ins Bett gesunken war und Tatjana Gürbaca höchstselbst an ihre Stelle trat. Blendend, wie das die Regisseurin mit ihren tänzerischen Fähigkeiten tat. Das Singen allerdings, das überliess sie Sarah Alexandra Hudarew, die als Mescalina schon in der Luzerner Produktion mitgewirkt hatte; äusserst kurzfristig aus der Karibik nach Zürich gekommen, bewährte sie sich dort ohne Fehl und Tadel.
Dennoch fehlt es auch in dieser Produktion nicht am prallen Effekt. Wenn der bedrohliche, sich jedoch im Alkohol vergessende Nekrotzar auf der Erde erscheint, entsteigt er einem niedlichen, von zwei Propellern gesteuerten Zeppelin, wie ihn der Bühnenbildner Henrik Ahr ersonnen hat. Der Boden der Zürcher Bühne gerät bei seinem Auftritt zwar heftig ins Schwanken, doch Leigh Melrose hält sich tapfer und schleudert die Frohbotschaft vom unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang klangvoll in den Raum. Als Fürst Gogo ist der famose Countertenor David Hansen der Nachbar von nebenan (die Kostüme stammen von Barbara Drosihn); in seiner kindischen Veranlagung hätte er auch der Präsident einer Grossmacht sein können, doch genau das hat sich Tatjana Gürbaca dankenswerterweise versagt. Seine beiden Minister (Oliver Widmer und Martin Zysset) indessen wirken trotz ihrem Alphabet der Schimpfwörter etwas brav. Phantastisch dafür die Norwegerin Eir Inderhaug, welche die halsbrecherische Partie des Gepopo virtuos bewältigt. Wenn sich mitten in den herausgeschleuderten Warnrufen des Geheimdienstchefs das Volk zu Wort meldet, erheben sich adrett gekleidete Damen und Herren im Parkett und auf den Rängen. Es ist der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor, der hier für den vielleicht überraschendsten Einfall des Abends sorgt.