Schön, aber nicht mehr

Evgeny Kissin spielt Beethoven

 

Von Peter Hagmann

 

Das Beethoven-Jahr 2020 ist schon mächtig angelaufen. Die ersten Monumentalboxen mit dem Gesamtwerk Beethovens in den allerbesten der besten Aufnahmen sind angekündigt. Einzelveröffentlichungen wie die neun Sinfonien mit Andris Nelsons und den Wiener Philharmonikern oder die (freilich sehr bemerkenswerte) Deutung der 32 Klaviersonaten durch Igor Levit machen von sich reden. Und in den Programmen der Konzertveranstalter für die Saison 2019/20 manifestiert sich unübersehbar die Verlegenheit angesichts des Problems, das Alltägliche zum Aussergewöhnlichen zu machen.

Jetzt hat sich auch Evgeny Kissin den Klaviersonaten Beethovens zugewandt. Er hat sie natürlich schon lange im Programm, zu seinem Kernrepertoire gehören sie aber nicht – weshalb sein Beethoven-Abend in der Klavierwoche des Lucerne Festival besondere Neugierde erregte. Drei grosse Sonaten aus früheren Schaffenshasen standen auf dem Programm: die «Pathétique» in c-Moll op. 13, «Der Sturm» in d-Moll op. 31 Nr. 2, die «Waldstein-Sonate» in C-Dur op. 53. Der allgemeine Eindruck war der eines sehr gepflegten, nuancenreichen, klangschönen Klavierspiels, dem es nicht an Inspiration fehlte, wohl aber an Identifikation, an persönlicher Involviertheit, ja an der nun einmal auch notwendigen Unanständigkeit.

Die «Waldstein-Sonate» stand besonders im Fokus, denn mit diesem Stück hat der unaufhaltsam nach oben strebende Igor Levit beim Lucerne Festival dieses Sommers die Geister verstört. Wie schnell soll das Allegro con brio des ersten Satzes klingen, bis an welche Grenze können die Achtel der repetierten Akkorde gehen? Und was soll diesbezüglich für das Prestissimo im abschliessenden Rondo gelten? Igor Levit sagte sich: noch schneller als möglich. Für ihn scheint es keine Grenzen zu geben, für das menschliche Hörvermögen allerdings schon – jedenfalls war da mitzukommen und zu verstehen schlicht ausgeschlossen. Nur, Levit möchte Beethoven auch als Stachel im Fleisch des Zuhörers zeigen – des Zuhörers von heute, der die Exaltiertheiten der Spätromantiker kennt und mit den technischen Möglichkeiten des modernen Steinway rechnet. Bei Evgeny Kissin ist von all dem nichts zu vernehmen. Er bleibt im Mass, lässt im Kopfsatz die inneren Dialoge klar heraustreten, führt im Adagio molto gefühlvoll, aber nicht mit wirklichem Pianissimo ins attacca anschliessende Rondo über und eröffnet dort Klangräume von ganz  besonderer Atmosphäre. Die Geläufigkeit lässt nichts zu wünschen übrig – aber: Das Ich bleibt verborgen. Darum erscheint diese verrückte Musik hier etwas brav, etwas fad.

Eher auf der Höhe der Komposition wie seiner selbst war Kissin bei den Variationen mit Fuge über ein eigenes Thema in Es-Dur op. 35. Diese «Eroica-Variationen» – so  benannt, weil Beethoven das Thema später ins Finale seiner dritten Symphonie eingebaut hat – sind von einer Kunstfertigkeit sondergleichen; sie leben von stupendem Einfallsreichtum und überraschendem Witz. Allein schon die vierteilige Einleitung, in welcher der Bass des Themas zuerst einstimmig vorgestellt und danach zwei-, drei- und vierstimmig eingekleidet wird, lässt die Ohren spitzen – und wenn sie so richtig schön gespitzt sind, fahren drei Achtel ein, dass es einen vom Sitz hebt. Erst dann wird das Thema in vollständiger Form präsentiert und daraufhin fünfzehn Mal in je neuem Licht gezeigt, bis endlich eine gewaltige Fuge fürs Finale sorgt. Kissin kostete das nach seinen eigenen Massen aus: technisch auf höchstem Niveau, klanglich vielgestaltig, interpretatorisch jederzeit geschmackvoll und kontrolliert, auch durchaus mit Humor.

Das war’s. Das Lucerne Festival am Piano, wie es bis vor kurzem noch hiess, ist Geschichte. Warum das so sein soll, weiss niemand wirklich plausibel zu machen. Es hat sein Richtiges wie sein weniger Gutes. Tatsache ist, dass das Luzerner Klavierfestival in mancher Hinsicht merklich an Ort getreten ist – ein Energieschub wäre gewiss sinnvoll, ohne Zweifel auch möglich gewesen. Auf der anderen Seite kann der Wegfall der herbstlichen Konzertreihe – die, was den Publikumszuspruch wie die Kasse betrifft, bekanntlich nicht wesentlich schlechter lief als das Hauptfestival im Sommer – nicht laut genug beklagt werden. Der grosse Klavierabend, einstmals eherner Bestandteil des Musiklebens, ist am Verschwinden, heute gibt es nur mehr Spurenelemente davon. Vor einem halben Jahrhundert gaben sich in den Schweizer Musikstädten Grössen wie Arrau, Benedetti Michelangeli, Rubinstein die Klinke in die Hand; wo gibt es das noch?

Dafür wartet das Lucerne Festival Anfang April 2020 mit einer Novität auf – mit einer Personale, die sich «Teodor» nennt und während einer halben Woche Licht auf den von allen Seiten begehrten Dirigenten Teodor Currentzis und seine Formation «musicAeterna» wirft. Mit einem Programm, das den Bogen von Hildegard von Bingen bis zu György Ligeti spannt, beginnt der Reigen. Er führt weiter über die selten gegebene Choroper «Tristia» des Franzosen Philippe Hersant und über einen Tag der Begegnung mit dem Musiker hin zu einer Aufführung von Beethovens Neunter. Ein Interpret, der wie zurzeit kein Zweiter Publikum anzieht, der aber auch bereit ist, Vertrautes mit Unbekanntem zu würzen, Gewohnheiten zu hinterfragen und so frische Luft ins Zimmer zu lassen – als Denkansatz verspricht das nicht wenig.

Beethovens Neunte mit Antonini

 

Peter Hagmann

Utopie, trotzige Behauptung, skeptische Frage

Das Kammerorchester Basel mit Beethovens Neunter in La Chaux-de-Fonds

 

Schritt für Schritt, praktisch Jahr um Jahr, haben sich das Kammerorchester Basel und sein Erster Gastdirigent Giovanni Antonini ab 2004 die neun Sinfonien Ludwig van Beethovens erobert. Ausser der Neunten liegen sie alle auf CD vor, bei Sony – und in Interpretationen, die Wegmarken in der überaus reichen Rezeptionsgeschichte dieser Werke bilden. Nun hat sich dieses aussergewöhnliche Orchester, für zwei Aufführungen in der Salle de musique von La Chaux-de-Fonds und in der Tonhalle Zürich, der Neunten zugewandt. Und die Perspektiven der Interpretation, die bei diesem Werk besonders weit ausgreifen, durch bemerkenswerte Facetten erweitert.

In erster Linie geht das zurück auf die Hinwendung des Orchesters zur historisch informierten Aufführungspraxis. Die Streicher verwenden Bögen, wie sie zur Zeit Beethovens üblich waren; das ruft nach anderen Spielweisen als heute üblich. Grundlage und Ausgangspunkt bildet das Non-Vibrato anstelle des durchgehenden Vibratos, das Orchestern unserer Tage eigen ist. Vibriert wird nur dort, wo Töne speziell beleuchtet werden sollen. Das ergibt einen herberen Ton, was darin seinen Ausgleich findet, dass die Musik auf manchem Weg zum Sprechen gebracht wird, und das mit einem Aplomb sondergleichen. Die Bläser wiederum können, weil die Streicher nicht so zahlreich auftreten wie im herkömmlich besetzten Orchester, ihren Farbenreichtum aktiver einbringen. Sie tun das zum Teil mit Instrumenten ohne Ventile, was zum Beispiel das Horn, bei dem einzelne Töne durch Stopfung des Schalltrichters erzeugt werden müssen, in auffälliger Weise hervortreten lässt.

So ist es auch bei der Aufführung von Beethovens Neunter der an der historisch informierten Aufführungspraxis orientierte Klang, der das Geschehen bestimmt. Dazu gehören nicht zuletzt die nuancierte Artikulation, das Wechselspiel zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, und die kleinteilige, weniger auf den grossen Bogen als auf die Takteinheit ausgerichtete Phrasierung. Bestimmend sind aber vor allem die Tempi, die Beethoven selbst, unter Verwendung des zu seiner Zeit neu eingeführten Metronoms, für seine Sinfonien (und eine Reihe anderer Werke) vorgegeben hat. Lange als Zeit als unausführbar verrufen, sind sie inzwischen längst zum Massstab geworden – und Antonini führte hier vor, wie selbstverständlich sie vielleicht nicht zu spielen, aber doch anzuhören sind.

Dass diese Tempi als Intention zu sehen sind, nicht als wörtliche Vorschrift, versteht sich. Auch Antonini macht Kompromisse, wie sie durch die Gegebenheiten gefordert sind – etwa durch die Dimensionen der sorgfältigst renovierten, nach wie vor einzigartige klingenden Salle de musique in La Chaux-de-Fonds mit ihren tausend Sitzplätzen. Im Kopfsatz nahm er die Viertel nicht mit 88 Schlägen pro Minute, wie es Beethoven notiert hat, sondern mit deren 73. Der Satz wirkte aber immer noch ungeheuer frisch – was zeigt, dass Klang und Attacke genauso wichtig sind wie das Zeitmass. Die Einleitung mit ihren liegenden Tremoli erhielt etwas fast drohend Abwartendes, worauf der erste Fortissimo-Schlag wie eine Explosion wirkte, zumal die Pauke da beinah so scharf wie eine Trommel einfuhr. Sogleich stand er im Raum, der aufklärerische, durch die französische Revolution konkretisierte Impetus, der Beethoven umgetrieben hat.

Überraschend das Adagio molto e cantabile des dritten Satzes. Obwohl Antonini die Viertel mit 50 Schlägen pro Minute nahm, also etwas langsamer blieb als die von Beethoven festgelegten 60, ergab sich der Eindruck einer sehr flüssigen Kantabilität – allerdings eines ganz natürlichen, gleichsam selbstverständlichen, in keinem Augenblick getriebenen Fliessens. Heute ist man an dieses neue, noch immer ausreichend langsame Tempo gewöhnt; gleichzeitig war zu spüren, wie viel Zeit verstrichen ist seit jener Zürcher Aufführung von Beethovens Neunter, für die Georg Solti im September 1990 ans Pult des Tonhalle-Orchesters getreten war. Damals ging es nämlich noch durchaus um die Frage, ob es der Dirigent tatsächlich wagen würde, den Satz in vier Vierteln zu schlagen, wie er notiert ist, oder ob er, der damals noch geltenden Praxis gemäss, die Achtel anzeigen müsse.

Besonderes Profil erhielt die Aufführung von Beethovens Neunter in La Chaux-de-Fonds im Finale. Die Zürcher Singakademie, in den Sopranen zu Recht etwas stärker besetzt als in den anderen Stimmen, bewältigte ihre Aufgaben mit Anstand, während Rachel Harnisch (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Daniel Behle (Tenor) und Thomas E. Bauer (Bass) ein ausgewogenes Solistenquartett bildeten. Weder klassizistische Erhabenheit noch jubelnde Feierlichkeit stellte sich ein, die äusserst heftig durchpulste Wiedergabe liess vielmehr das utopische Moment in Schillers «Ode an die Freude» aufscheinen – und auch ihren Skeptizismus. «Überm Sternenzelt / Muss ein lieber Vater wohnen»: das wurde fast trotzig behauptet, wie wenn die Frage, ob es denn wirklich so sei, keineswegs sichere Antwort finden könnte.

Einen weiten Weg hat das auch hier wieder in mitreissender Präsenz agierende Kammerorchester Basel seit den energiegeladenen, aber elegant beherrschten Aufnahmen der Sinfonien Nr. 1 und 2 im Jahre 2004 zurückgelegt. Er spiegelt die Entwicklung, die der Komponist von seinen Anfängen im Zeichen der (allerdings sogleich in Frage gestellten) Tradition zu diesem weit in die Zukunft weisenden Werk genommen hat.