Beethovens Neunte mit Antonini

 

Peter Hagmann

Utopie, trotzige Behauptung, skeptische Frage

Das Kammerorchester Basel mit Beethovens Neunter in La Chaux-de-Fonds

 

Schritt für Schritt, praktisch Jahr um Jahr, haben sich das Kammerorchester Basel und sein Erster Gastdirigent Giovanni Antonini ab 2004 die neun Sinfonien Ludwig van Beethovens erobert. Ausser der Neunten liegen sie alle auf CD vor, bei Sony – und in Interpretationen, die Wegmarken in der überaus reichen Rezeptionsgeschichte dieser Werke bilden. Nun hat sich dieses aussergewöhnliche Orchester, für zwei Aufführungen in der Salle de musique von La Chaux-de-Fonds und in der Tonhalle Zürich, der Neunten zugewandt. Und die Perspektiven der Interpretation, die bei diesem Werk besonders weit ausgreifen, durch bemerkenswerte Facetten erweitert.

In erster Linie geht das zurück auf die Hinwendung des Orchesters zur historisch informierten Aufführungspraxis. Die Streicher verwenden Bögen, wie sie zur Zeit Beethovens üblich waren; das ruft nach anderen Spielweisen als heute üblich. Grundlage und Ausgangspunkt bildet das Non-Vibrato anstelle des durchgehenden Vibratos, das Orchestern unserer Tage eigen ist. Vibriert wird nur dort, wo Töne speziell beleuchtet werden sollen. Das ergibt einen herberen Ton, was darin seinen Ausgleich findet, dass die Musik auf manchem Weg zum Sprechen gebracht wird, und das mit einem Aplomb sondergleichen. Die Bläser wiederum können, weil die Streicher nicht so zahlreich auftreten wie im herkömmlich besetzten Orchester, ihren Farbenreichtum aktiver einbringen. Sie tun das zum Teil mit Instrumenten ohne Ventile, was zum Beispiel das Horn, bei dem einzelne Töne durch Stopfung des Schalltrichters erzeugt werden müssen, in auffälliger Weise hervortreten lässt.

So ist es auch bei der Aufführung von Beethovens Neunter der an der historisch informierten Aufführungspraxis orientierte Klang, der das Geschehen bestimmt. Dazu gehören nicht zuletzt die nuancierte Artikulation, das Wechselspiel zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, und die kleinteilige, weniger auf den grossen Bogen als auf die Takteinheit ausgerichtete Phrasierung. Bestimmend sind aber vor allem die Tempi, die Beethoven selbst, unter Verwendung des zu seiner Zeit neu eingeführten Metronoms, für seine Sinfonien (und eine Reihe anderer Werke) vorgegeben hat. Lange als Zeit als unausführbar verrufen, sind sie inzwischen längst zum Massstab geworden – und Antonini führte hier vor, wie selbstverständlich sie vielleicht nicht zu spielen, aber doch anzuhören sind.

Dass diese Tempi als Intention zu sehen sind, nicht als wörtliche Vorschrift, versteht sich. Auch Antonini macht Kompromisse, wie sie durch die Gegebenheiten gefordert sind – etwa durch die Dimensionen der sorgfältigst renovierten, nach wie vor einzigartige klingenden Salle de musique in La Chaux-de-Fonds mit ihren tausend Sitzplätzen. Im Kopfsatz nahm er die Viertel nicht mit 88 Schlägen pro Minute, wie es Beethoven notiert hat, sondern mit deren 73. Der Satz wirkte aber immer noch ungeheuer frisch – was zeigt, dass Klang und Attacke genauso wichtig sind wie das Zeitmass. Die Einleitung mit ihren liegenden Tremoli erhielt etwas fast drohend Abwartendes, worauf der erste Fortissimo-Schlag wie eine Explosion wirkte, zumal die Pauke da beinah so scharf wie eine Trommel einfuhr. Sogleich stand er im Raum, der aufklärerische, durch die französische Revolution konkretisierte Impetus, der Beethoven umgetrieben hat.

Überraschend das Adagio molto e cantabile des dritten Satzes. Obwohl Antonini die Viertel mit 50 Schlägen pro Minute nahm, also etwas langsamer blieb als die von Beethoven festgelegten 60, ergab sich der Eindruck einer sehr flüssigen Kantabilität – allerdings eines ganz natürlichen, gleichsam selbstverständlichen, in keinem Augenblick getriebenen Fliessens. Heute ist man an dieses neue, noch immer ausreichend langsame Tempo gewöhnt; gleichzeitig war zu spüren, wie viel Zeit verstrichen ist seit jener Zürcher Aufführung von Beethovens Neunter, für die Georg Solti im September 1990 ans Pult des Tonhalle-Orchesters getreten war. Damals ging es nämlich noch durchaus um die Frage, ob es der Dirigent tatsächlich wagen würde, den Satz in vier Vierteln zu schlagen, wie er notiert ist, oder ob er, der damals noch geltenden Praxis gemäss, die Achtel anzeigen müsse.

Besonderes Profil erhielt die Aufführung von Beethovens Neunter in La Chaux-de-Fonds im Finale. Die Zürcher Singakademie, in den Sopranen zu Recht etwas stärker besetzt als in den anderen Stimmen, bewältigte ihre Aufgaben mit Anstand, während Rachel Harnisch (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Daniel Behle (Tenor) und Thomas E. Bauer (Bass) ein ausgewogenes Solistenquartett bildeten. Weder klassizistische Erhabenheit noch jubelnde Feierlichkeit stellte sich ein, die äusserst heftig durchpulste Wiedergabe liess vielmehr das utopische Moment in Schillers «Ode an die Freude» aufscheinen – und auch ihren Skeptizismus. «Überm Sternenzelt / Muss ein lieber Vater wohnen»: das wurde fast trotzig behauptet, wie wenn die Frage, ob es denn wirklich so sei, keineswegs sichere Antwort finden könnte.

Einen weiten Weg hat das auch hier wieder in mitreissender Präsenz agierende Kammerorchester Basel seit den energiegeladenen, aber elegant beherrschten Aufnahmen der Sinfonien Nr. 1 und 2 im Jahre 2004 zurückgelegt. Er spiegelt die Entwicklung, die der Komponist von seinen Anfängen im Zeichen der (allerdings sogleich in Frage gestellten) Tradition zu diesem weit in die Zukunft weisenden Werk genommen hat.

Stirbt das Konzert?

 

Peter Hagmann

Neue Orte, frisches Leben

Konzertsaalneubauten, wohin man blickt

 

Nun steht für München, wo die Situation diesbezüglich einigermassen verworren ist, vielleicht doch ein neuer Konzertsaal am Horizont – und das wäre tatsächlich das gute Ding, das Weile haben wollte. Das brillante Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fühlt sich nicht wohl im Herkulessaal, sein Chefdirigent Mariss Janons hat die stattliche Summe von 250’000 Euro, die ihm der Siemens-Musikpreis 2013 eingebracht hat, für die Suche nach einem neuen Saal zur Verfügung gestellt. Der Gasteig andererseits, in dem die Münchner Philharmoniker und ihr nicht ganz unumstrittener Chefdirigent Valery Gergiev residieren, verfügt über eine miserable Akustik. Vielfältig sind die Vorstellungen, wie München zu einem neuen, dem Image als Musikstadt entsprechenden Konzertsaal kommen könnte, die Frage der Finanzierung liess bis jetzt jedoch alle Initiativen im Sand verlaufen. Mitte Februar dieses Jahres folgte dann ein Befreiungsschlag, indem der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter mitteilten, es werde ganz einfach keinen neuen Saal geben. Vielmehr soll der Gasteig ab 2020 modifiziert und optimiert werden.

Und nun das. Die Idee nämlich, die der auch als Veranstalter aktive Bariton Thomas E. Bauer und der Architekt Peter Haimerl entwickelt haben. Und über die der Bayerische Rundfunk in seinem Klassik-Programm am 19. Oktober 2015 sachlich, aber mit spürbarer Euphorie berichtet hat. Aus einem stillgelegten, unter Denkmalschutz stehenden Heizkraftwerk im Westen der Stadt soll, so die Vorstellung der beiden Initianten, ein ebenso trendiger wie hochstehender Konzertsaal werden. Die Dimension des Gebäudes sei geradezu ideal für einen grossen Konzertsaal; für einen Kammermusiksaal sowie Nebenräumlichkeiten wie Garderoben, Foyer und Café soll dem alten Haus ein Neubau an die Seite gestellt werden. Hinter dem Projekt steht die Mineralölfirma Allguth aus München, die das Heizkraftwerk besitzt. Sie will das alte Haus für geschätzte 100 Millionen Euro umbauen und dann vermieten – zum Beispiel an die Münchner Philharmoniker, die einen Interimsstandort für die Zeit der Bauarbeiten im Gasteig suchen. Wie sich der Betrieb im einzelnen gestalten wird, ist noch nicht konkretisiert. Der Wille ist aber eindrücklich firm.

Eine Cité de la Musique für Genf

Es ist privates Engagement, das sich hier verwirklicht. Die Initianten sind der Meinung, dass es in München nicht nur Bedarf für einen weiteren Konzertsaal gebe, sondern mehr noch: dass Investitionen in Kultur zum Werthaltigsten gehörten. Auch in Genf regt sich private Initiative zur Errichtung eines neuen Konzertsaals – wo das Orchestre de la Suisse Romande doch in der Victoria Hall einen dem 19. Jahrhundert verpflichteten, sehr ansprechenden Saal bespielt. Grund für das Vorhaben sind strukturelle und räumliche Bedürfnisse, vor allem aber die Tatsache, dass ein anonymer Gönner, so die Tageszeitung «Le Temps», die Summe von nicht weniger als 270 Millionen Franken für ein Musikzentrum in Genf zur Verfügung gestellt habe.

So sollen denn, vermutlich auf einem Gelände neben dem Genfer Sitz der Uno, ein neuer Sitz für die Musikhochschule, ein Konzertsaal für 1700 Zuhörer sowie zwei kleinere Säle mit 400 beziehungsweise 200 Plätzen gebaut würden – nicht zu vergessen das Café, das die neue Cité de la Musique de Genève auch zu einem Ort für flanierende Besucher machen soll. Bereits gibt es auch einen Zeitplan; er sieht die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs 2016, den Spatenstich 2018 und 2020 Mahlers Achte mit dem Orchestre de la Suisse Romande und seinem dann amtierenden Chefdirigenten Jonathan Nott zur Eröffnung vor.

Erweiterungen in Zürich und Basel

Dabei wird das Genfer Orchester, das 2018 das Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens feiern kann, sehr bequem an seinem bestehenden Sitz arbeiten, bis an den neuen Ort umziehen kann. Das wird weder in Zürich noch in Basel so sein. In beiden Städten sind für die kommenden Jahre Bauarbeiten rund um die bestehenden, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Sälen vorgesehen. Wie in München ist in Zürich die Einrichtung eines neuen, hier allerdings (wohl) temporären Konzertsaals an einem ungewöhnlichen Ort vorgesehen: Das Tonhalle-Orchester Zürich soll, wenn die für 2016 vorgesehene Volksabstimmung glücklich verläuft, in den drei Spielzeiten 2017/18 bis 2019/20 in der bisher vorab für Musicals verwendete Maag-Halle im Westen der Stadt auftreten – in nächster Nachbarschaft zum neuen Sitz der Musikhochschule Zürich. Während dieser Zeit wird der Grosse Saal der Tonhalle Zürich renoviert und, wie es derzeit aussieht, in seiner farblichen Erscheinungsform aus dem Eröffnungsjahr 1895 wiederhergestellt. Erweitert wird zudem der Backstage-Bereich. Dies im Zusammenhang mit der Sanierung des Kongresshauses Zürich, einem von der Stadt getragen Vorhaben in der Grössenordnung von 167 Millionen Franken.

Auch das Sinfonieorchester Basel muss umziehen. Zwischen Mitte 2016 und 2019 wird es im Musical-Theater bei der Basler Mustermesse auftreten, weil in diesen drei Jahren das Stadtcasino Basel mit seinem exzellenten Musiksaal von 1876 ebenfalls saniert und erweitert wird. Auf gut 77 Millionen Franken wird das Projekt zu stehen kommen; knapp die Hälfte davon übernimmt der Kanton Basel-Stadt, für die andere Hälfte kommt die Casino-Gesellschaft im Verein mit privaten Spendern auf. Anders als bei dem vor acht Jahren an der Urne gescheiterten Projekt von Zaha Hadid, das keine Rücksicht auf die gegebene architektonische Situation genommen hatte, sieht der Entwurf des Architekturbüros Herzog & de Meuron eine Lösung gleichsam in historischer Aufführungspraxis vor. Der Musiksaal und das ihm 1939 angebaute Stadtcasino sollen getrennt werden, indem ein zwischen den beiden Gebäuden liegender Eingangsbereich abgerissen wird. Dafür wird dem Musiksaal an seiner Rückseite ein neues, wesentlich grösseres Foyer angebaut, dessen äussere Erscheinung die Formensprache des bestehenden Gebäudes von Stehlin punktgenau weiterführt – eine Lösung, wie sie sich trefflicher nicht denken lässt.

Lugano et cetera

Auf einen Neubau von spektakulärer Wirkung setzt dagegen das neue Kulturzentrum LAC in Lugano, das diesen Herbst, gut fünfzehn Jahre nach ersten Ideen, eröffnet worden ist. Lugano Arte e Cultura, neben dem ehemaligen Hotel «Palace» gelegen, von Ivano Gianola entworfen und für 210 Millionen Franken errichtet, vereint unter einem Dach eine ganze Reihe von Institutionen, die autonom agieren und dafür von der öffentlichen Hand unterstützt werden – übrigens mit Beiträgen, die deutlich angehoben wurden. Da findet sich zum einen das institutionell neu aufgestellte Kunstmuseum von Stadt und Kanton, während zum anderen insgesamt drei Säle für Musik, Musiktheater und Schauspiel zum Besuch einladen. Nicht nur kommt im Konzertsaal mit seinen 1000 Plätzen das Orchestra della Svizzera italiana nun endlich eine Heimstätte, die ihm entspricht. Der Verein LuganoFestival, der in Lugano bisher in kürzere Stagiones zusammengefasste Konzerte veranstaltet hat, bietet nun ein auf die ganze Spielzeit ausgedehntes Programm – und hat darum seinen Namen in LuganoMusica geändert. Mit Etienne Reymond, der von der Tonhalle-Gesellschaft Zürich nach Lugano gewechselt hat, steht der neu konzipierten Konzerteinrichtung ein erstklassiger Fachmann vor. Nicht auszuschliessen, dass man in Zukunft auch der Musik wegen ins Tessin reisen kann.

Die Erzählung könnte noch munter weitergehen. Zu berichten wäre von der Salle de Musique in La Chaux-de-Fonds, die nicht nur der bloss knapp 38’000 Einwohner zählenden Stadt dient, sondern ihrer aussergewöhnlichen akustischen Qualitäten wegen europaweit bekannt ist. Der Konzertsaal, an den ein original erhaltenes Theater aus dem frühen 19. Jahrhundert anschliesst, ist im zurückliegenden Jahr renoviert und eben wieder eröffnet worden. Vor allem wäre der Blick aber nach Paris zu lenken, wo in der vergangenen Spielzeit nicht weniger als drei neue oder wieder hergestellte Konzertsäle eröffnet worden sind. Mit der Philharmonie von Jean Nouvel verfügt die Capitale jetzt endlich ein Konzerthaus, wie es einer Stadt von dieser Grösse und dieser Ausstrahlung ansteht; das Orchestre de Paris hat dort seinen neuen Sitz. Konkurrenz macht der Philharmonie die renovierte Salle Olivier Messiaen im Haus des französischen Rundfunks. In früheren Zeiten als Studio 104 in der Maison de la Radio zu legendärem Status gekommen, bietet das neue Auditorium dem Orchestre National de France und dem Orchestre philharmonique de Radio France ihre Heimstätten. Und schliesslich ist in der Fondation Louis Vuitton ein neuer Saal eröffnet worden, der ebenfalls für Konzerte, allerdings solche spezieller Art, genutzt wird.

Kein Schatz im Silbersee?

Über einen gemeinsamen Leisten schlagen lassen sich all diese Projekte nicht; die Gegebenheiten sind von Ort zu Ort verschieden. Feststellen lässt sich aber doch, dass nicht in einem derart erstaunlichen Ausmass gebaut würde, wenn es kein Interesse gäbe für das, wofür diese Bauten gedacht sind. Genau das wird jedoch seit geraumer Zeit noch und noch behauptet: dass das Konzert am Verschwinden sei, dass sein Publikum, der ominöse Silbersee, immer älter werde und statistischer Wahrscheinlichkeit gemäss an absehbarer Zeit ausgestorben sein werde. Mag sein, dass in den meisten Fällen neue Architektur neue Publikumskreise erschliesst, dass in einem solchen Fall ein positiver Saldo in der Besucherstatistik weniger auf die Musik und ihre Darbietung als auf das Ambiente zurückgeht. Das KKL Luzern, als architektonische Ikone inzwischen weltbekannt und vielerorts schon kopiert, liefert den besten Beweis für diese Behauptung; ohne Zweifel hat da die Hülle dem Inhalt Auftrieb verliehen. Mit gleichem Recht lässt sich aber auch das Gegenteil behaupten; dank dem neuen Haus haben Institutionen wie das Lucerne Festival oder das Luzerner Sinfonieorchester in einer Weise weiterentwickelt werden können, wie sie vordem nicht denkbar gewesen wäre. Form und Inhalt sind da in eine ausgesprochen kreative Dialektik geraten.