Der Geist lebt – und wie

Ertragreiche Wochen beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Diesen Sommer hat es das Lucerne Festival nicht nur mit dem Paradies und seinen Äpfeln, sondern auch mit den alten Instrumenten. Genauer: mit dem Instrumentarium, wie es den Komponisten zur Zeit der Niederschrift ihrer Werke vertraut war wie mit jenen Spielweisen, die sich den überlieferten Quellen entnehmen lassen. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis also. Beim Lucerne Festival erhielt diese Spielart der musikalischen Interpretation, heute weit verbreitet und durch einen eigenen, bedeutenden Markt vertreten, bisher vergleichsweise wenig Raum. Sie wurde vielleicht auch nicht ihrer Bedeutung gemäss geschätzt. Nach einem Auftritt des Dirigenten Philippe Herreweghe mit einem seiner Orchester habe er, so verriet der Luzerner Intendant Michael Haefliger, aus dem Publikum eine Reihe deutlich ablehnender Zuschriften erhalten.

Nun also das: gleich drei Abende im Zeichen der historischen Praxis. Und Abende, die nicht nur von der Vielfalt in dieser Art des Musizierens zeugten, sondern auch kapital neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Werke eröffneten. So war es bei der konzertanten Aufführung von «Rheingold», dem Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», von der vor Wochenfrist an dieser Stelle die Rede war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.23). Und so war es vor wenigen Tagen bei der Begegnung mit Joseph Haydns «Jahreszeiten», einem für seine Natürlichkeit, seine Eingängigkeit, ja seine Volkstümlichkeit geschätzten Oratorium. So berührend, so erschütternd, jedenfalls so aufregend habe ich diesen Gang vom Frühling über Sommer und Herbst in den Winter nie gehört. Ermöglicht hat es Giovanni Antonini, der Haydn-Spezialist dieser Tage, der die Erfahrungen, die er im Rahmen der Gesamtaufnahme der Sinfonien Haydns sammelte und weiterhin sammelt, auf das grossangelegte, vierteilige Vokalwerk angewandt hat.

Mit einem schockierenden Schlag hob der Übergang vom Winter zum Frühling in der orchestralen Einleitung an; der Pauker benützte dafür die Griffseite seiner Schlägel und hieb mit aller Kraft aufs Fell. Deutlicher hätte nicht markiert werden können, dass es in den nun folgenden gut zwei Stunden ernsthaft zur Sache gehen würde. Antonini setzt durchwegs auf explizites, ja zugespitztes Musizieren – im Dynamischen, in der Akzentuierung, in der Ausformung des Rhythmischen, auch in der Gestaltung der teilweise atemberaubenden Tempi; nichts gerät hier beiläufig, jeder Ton, jede Geste wird beim Wort genommen. Möglich wird das, weil das in Mailand domizilierte Orchester Il Giardino Armonico, Antoninis Gründung 1985 und seither sein Erfolgsmodell, mit Instrumenten arbeitet, die den Klang der Jahre um 1800 evozieren. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die duftige Beweglichkeit ermöglichen, die Bläser mit ihren Instrumenten nach der Bauart jener Zeit steuern äusserst pointierte Farben bei – zumal die hochvirtuosen Naturhörner, die in der herbstlichen Jagdszene durch schallende Jagdhörner ersetzt wurden. Krass klingt das bisweilen und dann wieder flüsterzart, jederzeit aber ausdrucksvoll und packend. Dabei kommt alles aus einem einzigen Guss, die Musik scheint den Fingern des ungeheuer temperamentvoll agierenden Dirigenten zu entspringen.

Dazu kamen der aus dem polnischen Wroclaw angereiste, dort von Lionel Sow betreute NFM-Chor, der Transparenz mit Homogenität verbindet und überwältigende Klangpracht entfaltet, sowie ein hochstehendes Solistenterzett. Florian Boesch (Simon) hielt seinen opulenten Bass perfekt im Zaum; mit natürlicher Frische versah er den Landmann, der in der Frühlingssonne über sein Feld schreitet, mit Augenzwinkern berichtete er im Herbst von den auf der Lauer liegenden Jägern. Der Tenor Maximilian Schmitt (Lukas) liess anfangs noch etwas viel Vibrato hören, fand in seiner sommerlichen Cavatine, in der sich sehr konkret die Hitzewelle 2023 spiegelte, eindrucksvoll zu schaurig ermattetem Ton – spätestens da konnte jedermann bewusst werden, was uns Haydns «Jahreszeiten» bedeuten könnten. Verschmitzt und mit sorgsam eingesetztem Vibrato trug danach die Sopranistin Annett Fritsch (Hanne) die Geschichte von der jungen Bauerntochter vor, die dem Edelmann, der sie mit Geld und Schmuck um den Finger zu wickeln sucht, ein Schnippchen schlägt. Was Interpretation vermag, wie die Kunst der Verlebendigung die Gestalt eines Werks prägen kann, hier war es zu erleben.

Ähnliches gilt für den Auftritt des 1979 eingerichteten, bis heute von seinem Gründer William Christie geleiteten Ensemble Les Arts Florissants. Auch hier gelten die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis – dies aber doch in der ganz persönlichen Handschrift Christies. Der ursprünglich aus Amerika stammende, heute hochdekorierte Franzose strahlt eine auf Anhieb erkennbare Fröhlichkeit aus, er steht auch für eine elegante, geschmeidige Helligkeit des Klangs. Ausgezeichnet zu hören war das bei «The Fairy Queen», der von 1692 stammenden Semi-Opera Henry Purcells, die auf dem Konzertpodium des KKL in halbszenischer Wiedergabe dargeboten wurde. Die vielen Passacaglien, Variationen über einen gleichbleibenden Bass, die in Halbtönen absteigenden Klagelaute, der reich besetzte Basso continuo, das diskret, aber effektvoll eingesetzte Schlagwerk – all das zeugte auch an diesem Abend von der ungebrochenen Vitalität der jahrhundertealten Musik.

Zu erleben war zudem, wie im Kreis rund um William Christie nicht nur instrumental, sondern auch vokal der stilistisch adäquate Zugang gepflegt – und weitergegeben wird. Le Jardin des voix nennt sich die von Les Arts Florissants betriebene Werkstatt, in der junge Sängerinnen und Sänger ihr Handwerk in Sachen alter Musik perfektionieren können. Das ist darum sinnvoll, weil sich bei manchen Aufführungen mit alten Instrumenten die vokale Seite an der heute üblichen Ausprägung des Belcanto orientiert; Willliam Christie hielt das schon in früher Zeit anders. Bei «The Fairy Queen» war ein Ensemble von vier Sängerinnen und vier Sängern mit von der Partie – auf durchwegs respektablem Niveau. Nur war es leider nicht in ausreichendem Masse wahrzunehmen. Denn vor den Instrumentalisten im Hintergrund mischte sich unter die Vokalisten im Vordergrund eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die das musikalische Geschehen sehr heftig und sehr lautstark begleiteten. Der Versuch zu zeigen, dass in der Semi-Opera die Musik nicht die Hauptsache, sondern Teil eines vielfältigen Ganzen darstellte, und das mit heutigen Formen der Körpersprache zu tun, mag zu ehren sein. Im Endeffekt ging er jedoch daneben, denn die von Mourad Merzouki organisierte Körperarbeit hat die zarte Musik Purcells regelrecht zertrampelt.

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Neben der alten gehört auch diesen Sommer die neue Musik zur DNA des Lucerne Festival, und das in Verbindung mit der Förderung nachrückender Generationen. Das war und ist die Aufgabe der von Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez begründeten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy. Jahr für Jahr wird seit 2004 eine gute Hundertschaft an jungen Leuten, Komponistinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen, nach Luzern eingeladen, um dort unter kundiger Anleitung die Welt der neuen und neusten Musik zu erkunden. Den Höhepunkt des Unternehmens bildet jeweils der Auftritt des Lucerne Festival Contemporary Orchestra auf dem Podium des KKL: mit einem Programm, das es in sich hat, und mit einem Dirigenten, der auch bei neuster Musik seiner Sache sicher ist. Dieses Jahr war die Finnin Susanna Mälkki dafür auserkoren – das war die denkbar beste Wahl.

Gewiss, «Fett» für Orchester (2018/19) des Deutschen Enno Poppe, seines Zeichens «composer in residence» dieses Sommers, ist ein gewiss leicht zu durchschauendes, wenn auch vielleicht nicht leicht zu spielendes Stück. Es operiert mit klanglichen Blöcken, die sich, nun ja, bekämpfen, wie es in Gesellschaft und Politik unserer Tage die Regel geworden ist. In den Vordergrund tritt dabei eine fein austarierte Mikrotonalität, Augenblicke des Gleitens, des Rutschen, des Jaulens, was beim Zuhören nicht ungerührt lässt. Allein, in dieser Hinsicht gibt es von Poppe bessere Stücke, zum Beispiel «Salz» für Ensemble von 2005. Auch nicht gerade vom Sessel geworfen hat mich «Šu», ein einsätziges Konzert für die chinesische Mundorgel Sheng und Orchester von Unsuk Chin. Unvergessen die 2010 in Genf uraufgeführte Oper «Alice in Wonderland», mit der die Koreanerin einen unerfüllt gebliebenen Wunsch ihres Lehrers György Ligeti in die Tat umgesetzt hat. Im Vergleich dazu wirkte das Mundorgelkonzert etwas trivial – aber vielleicht war diese Wahrnehmung auch die Folge des Auftritts von Wu Wei, des Virtuosen an der Sheng. Amüsant war der, aber nicht mehr.

Mit reinem Sachbezug, untadelig ausgebildetem Handwerk und einer formidablen Präsenz auf dem Podium – damit punktete dagegen Susanna Mälkki. Die von ihr geleitete Wiedergabe von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» geriet zu einem grossen Moment des Festivals. Mit energischer, klarer Zeichengebung, souverän in der Bewältigung der komplexen Taktwechsel, aus spürbarer Übersicht über den musikalischen Verlauf heraus führte sie das Lucerne Festival Contemporary Orchestra durch die Klippen der Partitur, und die jungen Leute gaben ihr Letztes. Nicht dass sich sagen liesse, das Orchester habe sich gut entwickelt, es wird ja jedes Jahr neu zusammengesetzt. Aber der Eindruck eines Ritts über den Bodensee, der frühere Aufführungen von Strawinskys Meisterwerk zum «Sacré Sacre» hatten werden lassen, stellte sich an dem heftig bejubelten Abend nicht ein. Im Gegenteil, es war auch hier zu beobachten, was Interpretation bewirken kann. Jedenfalls trat die rituelle Anlage des Stücks klar heraus, ohne dass der Brutalismus die Oberhand über die sehr wohl vorhandene Schönheit der Partitur gewonnen hätte.

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Herzstück und Rückgrat des Lucerne Festival bildet jedoch nach wie vor die dichte Folge an Gastspielen grosser Orchester und ihrer Dirigenten. Das ist auch richtig so; wo in aller Welt lässt sich das in dieser Weise haben? Dabei geht es keineswegs um einen sportlich getönten Wettkampf – um die Frage, welches Orchester nun besser als das andere sei oder gar das beste von allen. Äpfel können nicht gegen Birnen ausgespielt werden, jedes Orchester trägt seine durch vielerlei Faktoren bestimmte Individualität in sich. Hier im engen Zeitraum von vier Wochen Höhen und Tiefen zu erkunden, Entwicklungen zu verfolgen – das bietet Reize von nicht nachlassender Kraft. Jedenfalls für Menschen, die zuzuhören bereit sind.

Vielleicht, ich wiederhole mich, dürfte der Horizont in der Auswahl der gastierenden Klangkörper um ein Weniges erweitert werden. Dass von den Schweizer Orchestern nur das auf bemerkenswerten Pfaden wandelnde Luzerner Sinfonieorchester, nicht aber das ebenso gut aufgestellte Orchestre de la Suisse Romande auftritt, ist kaum nachzuvollziehen. Warum nicht wieder einmal die Tschechische Philharmonie, die mit Semyon Bychkov hervorragende Arbeit an Mahler leistet? Oder das Orchestre philharmonique de Radio France mit Mikko Franck? Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder nach Luzern kommt, wenn Simon Rattle dort sein Amt als Chefdirigent angetreten hat? Es dürfte als ausgemacht gelten.

Dass der Dirigent – über dessen Funktion wird nicht erst heute, inzwischen aber besonders kritisch nachgedacht –, dass der Dirigent die entscheidende Rolle spielt, trat in den zurückliegenden Luzerner Wochen wieder in aller Deutlichkeit heraus. Besonders beim Royal Concertgebouw Orchestra, das, seit es 2018 als Folge einer #MeToo-Affäre seinen damaligen Chefdirigenten Daniele Gatti in die Wüste geschickt hat, ohne musikalischen Leiter auszukommen hat. Ebenso geschätzt wie das Orchester aus Amsterdam ist der Dirigent Iván Fischer, zumal wenn er an der Spitze des von ihm gegründeten Budapest Festival Orchestra steht. Was das Concertgebouworkest mit Fischer am Pult diesen Sommer in Luzern bot, war freilich unter beider Seiten Niveau. Das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» geriet grob und pompös, ja pathetisch, während die Siebte Sinfonie Gustav Mahlers manche technische Schwäche im Zusammenspiel offenbarte – als ob der Dirigent das komplexe Stück aus dem Ärmel hätte schütteln wollen. Mehr Glück hatte Klaus Mäkelä, der 2027 die Position des Chefdirigenten beim Concertgebouworkest antreten wird. Allerdings nicht mit Mahler. Dessen Sinfonie Nr. 4 in G-dur, die der junge Finne mit dem von ihm seit 2020 geleiteten Oslo Philharmonic im KKL darbot, zeugte gerade im Finale mit der lieblichen Sopranistin Johanna Wallroth vom Paradies, liess aber wenig von jener Gebrochenheit erkennen, die das Werk Mahlers trägt. Aber Mäkelä ist ja erst siebenundzwanzig. Und die siebte Sinfonie von Jean Sibelius, bei der Mäkelä das rhapsodische Fortschreiten optimal im Griff behielt und das Orchester zu aller Pracht führte, sprach vom Potential dieses genuin wirkenden Dirigenten.

Die Zusammenarbeit zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erfordert einen langen Atem, das ist bekannt. Wohin die Reise im besten Fall führen kann, machte der erste der beiden traditionellen Auftritte der Berliner Philharmoniker ohrenfällig. Seit 2019 steht Kirill Petrenko an deren Spitze, und nun war zu erkennen, was hier grossartig gewachsen ist. Mit Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart boten die Berliner ein deutliches Plädoyer für einen zu Unrecht vergessenen Komponisten. Dann allerdings «Ein Heldenleben» von Richard Strauss: ein Musterbeispiel an orchestraler Kunst wie an kluger Interpretation. Die Berliner gaben sich der gerade auch in ihrer Ironie meisterlichen Tondichtung mit ihrer ganzen Klangpalette hin (und die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner liess des Komponisten Gattin munter singen), während Petrenko das dichte Geflecht der Partitur auflichtete und wie ein zartes Spinnengewebe erscheinen liess. Nichts war da aufgesetzt, nichts süsslich, es herrschten Gelassenheit und Ruhe – und so blieb der Saal auch in den nirgends verkürzten Pausen mucksmäuschenstill. Allein, das war noch nicht das Nonplusultra, dafür sorgten das Gewandhausorchester Leipzig und der inzwischen nicht weniger als 96 Jahre alte Meister Herbert Blomstedt mit einer Auslegung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, die einen sprachlos zurückliess. Selbstverständlich lag auf des Dirigenten Pult die neue Ausgabe der Sinfonie von Paul Hawkshaw, sie blieb aber geschlossen, denn Blomstedt gab das Werk ganz aus seinem Inneren, aus einer lebenslang gewachsenen und zugleich uneingeschränkt gegenwärtigen Einfühlung heraus. Und in einer Demut vor der Grösse des Kunstwerks, die zu unbeschreiblicher interpretatorischer Eindringlichkeit führte. Da stimmte einfach, was stimmen muss. Das Gewandhausorchester stellte sich ganz nah an seinen früheren Chefdirigenten heran und wuchs über sich heraus.

Wenn der Geist über den Körper triumphiert: Herbert Blomstedt vor dem Gewandhausorchester / Bild Patrick Hürlimann, Lucerne Festival

Wahrheiten der Musik

Mozarts «Così fan tutte»
mit dem Kammerorchester Basel

 

Von Peter Hagmann

 

«Ausverkauft» – so heisst es auch an diesem Abend des Kammerorchesters Basel. Kein Wunder, im wunderschön renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos wird «Così fan tutte» gegeben, das Dramma giocoso Lorenzo Da Pontes, mit dem Wolfgang Amadeus Mozart im Jahre 1 nach der Französischen Revolution für Wellenschlag gesorgt hat. Was es bis heute tut. Selbst in unseren Tagen gibt es Opernfreunde, die dem von Don Alfonso arrangierten Partnertausch mit Vorbehalten begegnen – trotz der Genialität von Mozarts Musik. Und kommt das Stück auf die Bühne, tritt nicht selten heraus, wie hilflos die Regisseure mit der krassen Absurdität von «Così fan tutte» umgehen. Kann es tatsächlich sein, dass die beiden Frauen ihre Geliebten, die ihnen in notdürftiger Kostümierung übers Kreuz die Aufwartung machen, nicht erkennen und auf das Spiel hineinfallen? Und ist effektiv denkbar, dass, wenn der ganze Schwindel aufgeflogen ist, die Frauen düpiert dastehen und die Männer ihre Wunden lecken, doch wieder Friede Freude Eierkuchen eintritt?

An Fragen fehlt es nicht. Unter der Leitung seines Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini – einen Chefdirigenten kennt das sich selbst verwaltende Ensemble nicht – hat das Kammerorchester Basel eine starke, wenn nicht gar die einzige plausible Antwort gegeben. Es hat auf die Musik Mozarts gehört und ihre Expressivität in aller Eindringlichkeit herausgestellt. Schon in der, was das Tempo betrifft, mässig genommenen Ouvertüre liess das historisch informiert, aber nicht durchwegs auf alten Instrumenten spielende Orchester hören, welches Qualitätsniveau es pflegt. Klangschönheit und Expressivität in den Bläsern, Agilität und Vitalität in den Streichern liessen keinen Wunsch offen – ohne Zweifel hat die dem Basler Abend vorangegangene Tournee nach Luxemburg, Paris und Hamburg die Formation zusammengeschweisst und die Interpretation geschärft. Wenn die Emotionen hochgingen, nahmen die Musikerinnen und Musiker, angefeuert durch ihren bisweilen arg schnaubenden Dirigenten, kein Blatt vor den Mund. Während sie in den Momenten des Innehaltens, der Unsicherheit, des Fragens offen waren für jedes Mitfühlen, für jede Zärtlichkeit. Das alles in dem von ebenso eleganten wie präsenten Tiefen getragenen Gesamtklang wie in den teils stupenden solistischen Einlagen.

Glänzenden Reflex fand dieses musikalische Bild im Auftritt von Julia Lezhneva als Fiordiligi. In den letzten Jahren grossartig aufgeblüht, bewältigt die junge Sopranistin die enormen Anforderungen dieser Partie absolut hinreissend. Der besonders weite Stimmumfang, den ihr Mozart abverlangt, bereitet ihr keinerlei Schwierigkeit; ohne Mühe springt sie aus höchster Höhe zwei Oktaven in die Tiefe, und dass dafür ganz unterschiedliche stimmliche Ansätze vonnöten sind, tritt nicht in Erscheinung, so perfekt sind die Register aufeinander abgestimmt und miteinander verschmolzen. Dazu kommen Stilbewusstsein, Phantasie und Mut im Umgang mit Verzierungen, die staunen machen; mit den reichhaltigen, niemals aufgesetzt wirkenden, vielmehr jederzeit emotional unterfütterten Verzierungen, welche die Sängerin einzusetzen wusste, geriet «Per Pietà», ihre grosse Arie im zweiten Akt, zum Höhepunkt des Abends. Allerdings blieb dieses vokale Niveau die Ausnahme. Als Dorabella hielt Susan Zarrabi, eingesprungen für die erkrankte Emőke Baráth, zuverlässig stand, bildete jedoch nicht das hier geforderte Gleichgewicht. Dafür sorgte eher Sandrine Piau, eine hocherfahrene Expertin für die Partie der vorlauten Dienerin Despina. Die Herren dagegen, sie blieben deutlich zurück, weil sie durchs Band zu viel Druck gaben und immer wieder die Balance zwischen vokalem und instrumentalem Ausdruck bedrohten. Als Ferrando zeigte Alasdair Kent schöne Höhe, die er auch im Pianissimo zu nutzen verstand, geriet aber gern in eine unbefriedigende Schärfe, während Tommaso Barrea als Guglielmo mehr Stimmkraft als Gestaltungsvermögen erkennen liess. Konstantin Wolff schliesslich, auch hier mit leicht belegtem Timbre, zeichnete Don Alfonso weniger als gelassenen Aufgeklärten denn als herb fordernden Intriganten.

Mag sein, dass Mängel dieser Art auch auf die szenische Einrichtung des Abends zurückgingen. Salomé Im Hof versah das Geschehen auf dem Konzertpodium dergestalt mit Aktion und Kostüm, dass Mozarts Oper zu veritabler halbszenischer Aufführung kam. Dabei setzte sie ganz auf die komische Seite, womit sie manchen Lacher im Publikum generierte, die Ambivalenz des Stücks aber völlig ausser Acht liess. Das war zu viel des Guten, zudem echt hausbacken, jedenfalls nicht auf dem Niveau des Kammerorchesters Basel.

Wenn ein Papa zum Vulkan wird

Teil sieben in der Basler Gesamtaufnahme der Sinfonien Joseph Haydns

 

Von Peter Hagmann

 

Das Klischee vom Papa Haydn ist heute weitgehend ausser Gebrauch, geblieben ist dagegen der Umstand, dass von dem ungeheuer vielfältigen Schaffen von Mozarts väterlichem Freund und «Meister» nur wenig mehr bekannt ist – neben der «Schöpfung» und den «Jahreszeiten», den beiden Oratorien, etwa einige der späten Sinfonien aus der Zeit von Haydns Aufenthalten in Paris und London. Dabei gäbe es unendlich viel zu entdecken, wie ein umfassendes CD-Projekt des französischen Labels Alpha erweist. Schritt für Schritt kommt sie nämlich voran, die Gesamtaufnahme der 107 Sinfonien Joseph Haydns, die bis 2032, wenn der dreihundertste Geburtstag des Komponisten zu begehen sein wird, abgeschlossen sein soll. Vor fünf Jahren ist die erste CD erschienen, inzwischen sind wir bei der Nummer sieben angelangt – und erneut tut sich weites Land auf.

Wer weiss schon, dass es Sinfonien Haydns gibt, die keine Sinfonien sind, sondern vielmehr auf Bühnenmusiken zurückgehen? Der Fall ist das bei der Sinfonie Nr. 65 in A-Dur, die im Herbst 1769 die Aufführung eines Lustspiels auf Schloss Esterháza untermalte, und wohl auch bei der wenige Jahre später entstandenen Nr. 67 in F-Dur, die Jagdszenen aus Fontainebleau schildern dürfte. Die Art und Weise, wie diese beiden Sinfonien beim Kammerorchester Basel und seinem Ersten Gastdirigenten Giovanni Antonini klingen, lässt keinen Zweifel an den Verbindungen zur Schauspielbühne. Der italienische Blockflötenvirtuose und Dirigent, der diese Gesamteinspielung der Sinfonien Haydns leitet und dafür neben seiner Basler Formation sein italienisches Ensemble Il giardino armonico beizieht, sorgt in jedem Augenblick dafür, dass sich Papa Haydn in die Soffitten verzieht und von dort als ein feuerspeiender Vulkan zurückkehrt.

Ungeheuer explizit wird da musiziert – so wie es der Fall war bei den Sinfonien Ludwig van Beethovens, die Antonini mit dem Kammerorchester Basel ab 2004 aufgenommen und dabei sensationelle Ergebnisse erzielt hat. Die Energieausbrüche sind von einer Schärfe sondergleichen, geradezu harsch klingt das Fortissimo – trotz oder wegen der kleinen Orchesterbesetzung. Wenn sich die Wogen glätten, tritt dagegen die glasklare Ruhe einer Streichergruppe heraus, die das Vibrato mit äusserster Sorgfalt einsetzt und mit höchster klanglicher Übereinstimmung arbeitet. Den zugespitzten Kontrasten zu Trotz kommt es indessen nirgends zu jenem markigen, bisweilen harten Ton, den Ensembles mit konventionellem Instrumentarium wie etwa die Kammerphilharmonie Bremen pflegen. Beim Kammerorchester Basel, dessen Streicher mit klassischen Bögen auf Darmsaiten spielen und dessen Bläser Instrumente in der Bauart des späten 18. Jahrhunderts verwenden, herrscht als Basis vielmehr eine fast tänzerische Eleganz.

Das wohlige Dämmern, in das der Zuhörer, die Zuhörerin, in der Begegnung mit einer Sinfonie Haydns verfallen sein mochte, ist hier definitiv ad acta gelegt. Immer wieder schreckt man auf, zuckt man zusammen, spitzt man die Ohren. Ein verrückter Kerl, dieser Haydn – beim Kammerorchester Basel und seinem Dirigenten Giovanni Antonini ist es zu erfahren.

Joseph Haydn: Sinfonien in F-Dur (Hob. I:67), in A-Dur (Hob. I:65) und C-Dur (Hob. I:9). Wolfgang Amadeus Mozart: Eine Auswahl aus der Bühnenmusik Thamos. Kammerorchester Basel, Giovanni Antonini (Leitung). Alpha 680 (Aufnahme 2017). Haydn 2032, Teil 7.

Opera seria als Chance und Gefahr

Mozarts «Idomeneo» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Vor dem Opfer: Idomeneo (Joseph Kaiser) und sein Sohn Idamante (Anna Stéphany) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Das Beste am jüngsten Premierenabend im Zürcher Opernhaus geschah gleich zu Beginn. Es war die Ouvertüre. Da befanden sich Wolfgang Amadeus Mozart und sein «Idomeneo», das Orchester «La Scintilla» und der Dirigent Giovanni Antonini in Übereinstimmung: in einem sehr persönlichen und hochanregenden Einklang. In markigem Ton nahm Antonini den Eintritt in die tragische Verstrickung, denen die fünf Figuren des Geschehens ausgesetzt sind. Die Bässe, nur zwei an der Zahl, aber ausserordentlich präsent, liessen drohendes Unheil anklingen, die liegenden Töne erhielten durch den Verzicht auf das Vibrato klar umrissene Konturen. Und dann die Holzbläser, insbesondere die von Mozart hier erstmals eingesetzten Klarinetten, sie traten deutlich heraus und schufen farbliche Vielfalt. Über allem herrschte der spezifische Geist, für den Antonini steht: ein Klima des pointierten Kontrasts, der deutlichen, aber stets elegant federnden Formulierung.

In der Folge freilich ging der vielversprechende Ansatz nach und nach verloren. Was spannend begann, wurde behäbig, ja verströmte bisweilen jenen Anflug an gepflegter Langeweile, der so rasch mit der Opera seria verbunden wird – selbst das grosse, eindrucksvolle Quartett im dritten Akt entbehrte der Ausstrahlung. Ursache für den Spannungsverlust waren die spürbar langsamen Tempi, die der Dirigent anschlug. Mag sein, dass sie Antoninis Vorstellungen entsprachen; vielleicht suchte der Dirigent dem genialen Jugendwerk Mozarts – der Komponist war bei der Münchner Uraufführung 25 Jahre alt – in der klanglichen Verwirklichung Tiefe und Würde zu verschaffen. Indes widerspricht das doch merklich dem Temperament Antoninis, wie es aus seinem Umgang mit Haydn und Beethoven bekannt ist. Plausibler erscheint darum die Vermutung, dass die Gründe weder beim Dirigenten noch bei dem hellwach mitwirkenden Orchester zu suchen sind, dass sie vielmehr bei der Besetzung liegen, die hier im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen des Opernhauses Zürich suboptimal geraten ist.

Fast alle Sängerinnen und Sänger des Abends hatten ihre liebe Mühe mit der stilgerechten Ausführung ihrer Partien; sie kämpften mit technischen Problemen, vor allem mit der Beweglichkeit der Stimme – was den Dirigenten dazu bewogen haben mag, die Tempi zu senken. Trotz dieser Massnahme blieb eine eigenartige Differenz zwischen der rhythmischen Präzision, die aus dem Orchestergraben kam, und dem Genuschel auf der Bühne. Die Ausnahme bildete Hanna-Elisabeth Müller (Ilia), die, wiewohl eher im romantischen Repertoire beheimatet, ihre Stimme so schlank zu führen wusste, dass die Perlenketten in ihrer Partie als solche wahrzunehmen waren und die Triller tatsächlich Triller wurden. Auf der anderen Seite der Skala steht Joseph Kaiser als Idomeneo. Die Majestät des Helden und die Winzigkeit des verzweifelten Menschen verkörperte er eindrucksvoll, aber im stimmlichen Vermögen, zumal in der Zeichnung der Lineaturen, blieb er weit hinter der szenischen Darbietung zurück – was mutatis mutandis auch für Anna Stéphany (Idamante) gilt. Deutlich unter der Schwelle Airam Hernandez (Arbace), der Mühe mit der Intonation hatte und zudem nicht über ausreichend Tiefe für diese Partie verfügt, weshalb Antonini das Orchester an den entsprechenden Stellen überraschend drosseln musste. Wenig befriedigend auch Guanqun Yu (Elettra), deren starkes, schnelles Vibrato die Klarheit der Tonhöhen beeinträchtigte.

Gleichwohl wurde gerade an der Figur der Elettra deutlich, in welcher Weise sich die Regisseurin Jetske Mijnssen diesem schwierigen Stück näherte. In der sehr zurückhaltenden, gerade darum attraktiven Inszenierung ist Elettra nicht die manische Furie, als die sie oft genug erscheint, sondern eine heftig verliebte Frau, die nach ihrer Niederlage von dem ebenfalls relegierten Idomeneo getröstet wird. Und sie ist eine Frau von heute, wie der glänzende Hosenanzug erweist, den ihr Dieuweke van Reij hat schneidern lassen. Nichts lässt in dieser Inszenierung von «Idomeneo» auf den Schauplatz in der Antike schliessen, die Figuren lieben und leiden in der Gegenwart: in Anzug und Krawatte. Und sie tun dies in einer Weise, welche die tiefe Empathie der Regisseurin erkennen lässt und von berührender Wirkung ist. An die klassische Tragödie erinnert vielleicht der Einsatz des Chors – der freilich ebenfalls nicht als das kommentierende Volk, sondern in echt Felsensteinscher Manier als eine Gemeinschaft mitleidender Individuen erscheint. In der Ausgestaltung des Einzelnen liegt der Lebenskern der Inszenierung – die im übrigen (und abgesehen von einigen szenischen Assoziationen) auf jeden Ausstattungsprunkt verzichtet. Die von Gideon Davey gestaltete Bühne bleibt leer, begrenzt durch die in den Farben des Meeres gehaltenen Wände, die sich dann heben, wenn der Moment besonders wird. Würde etwas angemessener gesungen, es hätte durchaus etwas werden können aus dem neuen Zürcher «Idomeneo».

Das Kammerorchester Basel auf dem Sprung

 

Peter Hagmann

Neue Perspektiven mit Haydn

Das Grossprojekt Haydn 2032 und das Kammerorchester Basel

 

Mit liebevollem Nachdruck versichern die musikgeschichtliche Literatur und, in ihrer Nachfolge, Programm- und Booklettexte, dass Joseph Haydn zu den geistreichsten Komponisten überhaupt gehöre. Die Höreindrücke standen dieser Behauptung lange Zeit diametral entgegen; fad klang Haydns Musik im Konzertsaal, auf Langspielplatte und Compact Disc, verzopft und altväterisch. Das war allerdings nicht die Schuld des Komponisten, eher die des philharmonischen Klanggewands, das dieser Musik eine gut gepuderte Perücke aufsetzt. Aufnahmen der Sinfonien Haydns durch Grossdirigenten wie Karl Böhm, Leonard Bernstein, Herbert von Karajan oder Georg Solti berichten davon.

Inzwischen hat sich freilich einiges getan. Musiker wie Frans Brüggen, Nikolaus Harnoncourt oder Christopher Hogwood haben neue Wege zu Haydn eröffnet. Wenn seine Musik spricht – in lebendiger Diktion, mit Auf und Ab, Schwer und Leicht, gebunden und gestossen –, findet sie die Wirkung, von der in der Literatur die Rede ist. Wartet sie mit jenen Überraschungen auf, an denen sich die musikkundigen und musikliebenden Fürsten Esterházy als Haydns Arbeitgeber mitsamt ihren Gästen delektiert haben mögen. Und die den Ruf des Komponisten über die Abgeschiedenheit seines Schaffenskreises hinaus in die grosse, weite Welt der Musik getragen haben: von Eisenstadt und Esterház nach Wien, nach Paris, nach London.

Haydn 2032

Dieses Moment der Neuentdeckung aufnehmen und entschieden mit Energie versehen will nun ein seit Mitte 2014 laufendes Projekt, das sich zur Aufgabe macht, bis zum dreihundertsten Geburtstag Haydns im Jahre 2032 alle 107 Sinfonien des Meisters auf aktuellem Wissensstand zu erarbeiten, in Konzerten vorzutragen und in Aufnahmen festzuhalten. Getragen wird das Projekt von einer gemeinnützigen Stiftung, die sich, mit Sitz in Basel, «der Auseinandersetzung mit dem Werk von Joseph Haydn und seiner Zeitgenossen» widmet. Das künstlerische Gravitationszentrum bildet der Dirigent Giovanni Antonini, eine der Galionsfiguren der historisch informierten Aufführungspraxis. Für die einzelnen Teile des Projekts begibt sich Antonini zum einen ans Pult des von ihm mitbegründeten Barockensembles «Il Giardino Armonico», zum anderen arbeitet er mit dem Kammerorchester Basel zusammen, mit dem er seit vielen Jahren eng verbunden ist.

Für das Kammerorchester Basel bedeutet die Mitwirkung am Projekt Haydn 2032 einen weiteren, bedeutungsvollen Entwicklungsschritt. Historisch informierter Spielweise hat es sich schon in dem viel gelobten, berühmt gewordenen Zyklus der Sinfonien Ludwig van Beethovens geöffnet; auch in diesem  Vorhaben aus den Jahren 2004 bis 2015 war Antonini federführend. Doch während bei Beethoven noch herkömmliche Instrumente zum Einsatz kamen, wird das Kammerorchester Basel für Haydn definitiv zum Barockorchester (ohne dass es darob sein Repertoire im Bereich der Romantik und der klassischen Moderne vernachlässigte). Gespielt wird in der etwas tieferen Stimmung von 432 Herz für das eingestrichene a, die Streicher verwenden Darmsaiten und klassische Bögen, die Bläser nehmen Instrumente ohne Ventile zur Hand. Meines Wissens ist das Kammerorchester Basel das erste Orchester überhaupt, das sowohl als echte Barockformation wie auch als herkömmlicher Klangkörper auftritt.

Der Schritt forderte einiges an Vorarbeiten und Diskussionen. Das Kammerorchester Basel verfügt ja nicht über einen künstlerischen Leiter, der gleichsam mit Stichentscheid die Linie vorgäbe; Antonini amtet auch nicht als Chefdirigent, weil das Orchester, den Wiener Philharmonikern gleich, keinen Chefdirigenten kennt. Es versteht sich vielmehr als ein Ensemble, das sich selbst verwaltet – und so sind seine Mitglieder auch in alle künstlerischen Entscheidungen eingebunden. Und das bis hin in die Probenarbeit. Da sitzen sie denn, wir schreiben einen kalten Samstagnachmittag anfangs dieses Jahres, in einem Kulturzentrum ausserhalb Basels im Kreis, um sich der neuen Welt Joseph Haydns und dem Spiel in alter Praxis zu nähern. Mit von der Partie ist Stefano Barneschi, der Konzertmeister des Giardino Armonico, der sozusagen als Botschafter Antoninis dienliche Hinweise gibt – weniger durch Erläuterungen als durch Vorspielen. Jedes Mitglied des Orchesters ist aktiv am Prozess beteiligt und meldet sich zu Wort, der eine mehr, die andere weniger. Eine unglaublich dichte, warme Atmosphäre herrscht hier, das Engagement ist mit Händen zu greifen.

Keine Musik von gestern

Das alles hat seinen besonderen Sinn. Giovanni Antonini – mit Haydn auf besonderem Fuss, seit er als Kind dessen erste Sinfonie auf einer Langspielplatte kennengelernt hat – versucht, den Meister nicht von heute aus als einen Komponisten alter Musik, mithin nicht anachronistisch als eine Erscheinung der Vergangenheit zu verstehen, sondern seine Musik aus ihrer Entstehungszeit, aus ihren ästhetischen Voraussetzungen und ihrem kompositorischen Umfeld heraus zu entdecken, um so ihr Neues erkennen und zeigen zu können. Darum erscheinen die Sinfonien Haydns in den Konzertprogrammen und auf den Compact Discs nicht in geschlossener Abfolge, vielmehr stets in Verbindung mit Kompositionen Haydns in anderer Gattung oder mit Werken von Zeitgenossen. Und darum folgen sie sich auch nicht einfach chronologisch; ihre Anordnung in den Programmen gehorcht thematischen Aspekten.

«La Passione» nannte sich zum Beispiel das erste Projekt von Haydn 2032. Es orientierte sich an der Sinfonie Nr. 49 in f-moll, die diesen Beinamen trägt, schloss aber auch die dramatische g-moll-Sinfonie Nr. 39 sowie die allererste Sinfonie ein, eben jene in D-dur, Hob I:1, von 1757. Dazu trat «Don Juan ou Le Festin de pierre», die Ballettpantomime von Christoph Willibald Gluck, dem Zeitgenossen und heimlichen Konkurrenten Haydns. Dieses erste Projekt wurde in der Basler Martinskirche, in der Tonhalle Zürich (und dort im Rahmen der Neuen Konzertreihe von Jürg Hochuli), beim Radialsystem in Berlin und im Haydnsaal von Schloss Esterházy in Eisenstadt geboten. Das ist sozusagen die Grundkonstellation – wobei manchmal einer der Partner ausfällt, bisweilen einer dazukommt, zum Beispiel der Wiener Musikverein. Darüber hinaus sind die einzelnen Projekte nicht einfach Konzerte herkömmlicher Art; zum musikalischen Ablauf gesellen sich einführende Lesungen, kulinarische Genüsse in den Pausen und eine Lounge, ein lockeres Gespräch zwischen dem Dirigenten Giovanni Antonini und dem Musikwissenschaftler Wolfgang Fuhrmann. Nicht zuletzt gibt es zu jedem Projekt, das schlägt sich in den daraus resultierenden Publikationen nieder, einen ebenfalls thematisch verbundenen photographischen Essay.

Vier Projekte von Haydn 2032 sind inzwischen abgeschlossen, drei von ihnen sind bei dem für sein spezielles Profil bekannten französischen Label Alpha auf CD erschienen. Bei allen war bisher ausschliesslich der Giardino Armonico beteiligt. Mit dem fünften Projekt hat nun das Kammerorchester Basel die Bühne betreten – mit grossem Erfolg, um es gleich zu benennen. «Homme de génie» nannte sich dieses fünfte Projekt; es hätte aber auch «Sturm und Drang» heissen können wie das Symposion, das im Zusammenhang mit diesem Haydn-Projekt in der Basler Musik-Akademie durchgeführt wurde. Zwischen die Sinfonie Nr. 81 in G-dur mit ihren wirbelnden Ecksätzen und die Nr. 80 in d-moll mit ihrem wahrhaft exzentrischen Finale trat die frühe Sinfonie Nr.19 in D-dur, vor allem aber auch eine Sinfonie in c-moll von Joseph Martin Kraus, des Schweden aus Deutschland, der noch viel stärker als der fast eine Generation ältere Haydn den Idealen des barocken Kontrapunkts und der empfindsamen Chromatik verpflichtet ist. Der «Homme de génie» war in diesem Vergleich klar zu erkennen.

Papa Haydn ade

Dies nicht zuletzt darum, weil das Kammerorchester Basel mit einem Aplomb sondergleichen zu Werk ging. Es konnte das tun, weil die Streichinstrumente bei aller Kraft der Attacke das Federn im Ton bewahren, die Eleganz also ungeschmälert bleibt, zugleich aber von unglaublicher Impulsivität erfüllt ist. Auf den Eröffnungsschlag im Kopfsatz der Sinfonie 81 folgten herrlich ziehende Töne, die ihre Energie aus dem Non-Vibrato gewannen. Und da die Streicherbesetzung klein war, die Bläser zudem höher sassen als die (mit Ausnahme der Celli) stehend spielenden Streicher, ergab sich auch eine vor Spannung vibrierende Balance zwischen den einzelnen Instrumentengruppen. Das Andante von Nummer 81, das in Aufführungen herkömmlicher Art gerne niedlich wirkt, lebte von einer Phrasierung, die den Zuhörer unwiderstehlich über die Taktgrenzen hinwegzog – und somit von einer ganz eigenen Vitalität. Den Höhepunkt des Abends bildete aber ohne Zweifel die Sinfonie Nr. 80 in d-moll. Das von Haydn als geistreich gewünschte Allegro des Kopfsatzes nahm Antonini so unerhört zupackend und dunkel, dass man fast den 1784 noch gar nicht entstandenen «Don Giovanni» von Mozart assoziieren konnte. Tiefgründig in seiner vergleichsweise einfachen Harmonik das Andante, während sich der Zuhörer im Finale mit seinen Synkopen von Haydn lustvoll an der Nase herumführen lassen konnte.

Noch nicht immer herrschte jene klangliche Entspanntheit, welche die Wiedergaben der Sinfonien Beethovens so vorteilhaft auszeichnete. Mag sein, dass sich da das eine oder andere noch einpendelt. Vielleicht will das Antonini aber auch gar nicht, weil er Papa Haydn ganz entschieden in die Mottenkiste verbannen, diese Musik den Zuhörern von heute ganz direkt auf den Pelz rücken lassen will. Auf die CD-Aufnahme darf man jedenfalls gespannt sein.

Beethovens Neunte mit Antonini

 

Peter Hagmann

Utopie, trotzige Behauptung, skeptische Frage

Das Kammerorchester Basel mit Beethovens Neunter in La Chaux-de-Fonds

 

Schritt für Schritt, praktisch Jahr um Jahr, haben sich das Kammerorchester Basel und sein Erster Gastdirigent Giovanni Antonini ab 2004 die neun Sinfonien Ludwig van Beethovens erobert. Ausser der Neunten liegen sie alle auf CD vor, bei Sony – und in Interpretationen, die Wegmarken in der überaus reichen Rezeptionsgeschichte dieser Werke bilden. Nun hat sich dieses aussergewöhnliche Orchester, für zwei Aufführungen in der Salle de musique von La Chaux-de-Fonds und in der Tonhalle Zürich, der Neunten zugewandt. Und die Perspektiven der Interpretation, die bei diesem Werk besonders weit ausgreifen, durch bemerkenswerte Facetten erweitert.

In erster Linie geht das zurück auf die Hinwendung des Orchesters zur historisch informierten Aufführungspraxis. Die Streicher verwenden Bögen, wie sie zur Zeit Beethovens üblich waren; das ruft nach anderen Spielweisen als heute üblich. Grundlage und Ausgangspunkt bildet das Non-Vibrato anstelle des durchgehenden Vibratos, das Orchestern unserer Tage eigen ist. Vibriert wird nur dort, wo Töne speziell beleuchtet werden sollen. Das ergibt einen herberen Ton, was darin seinen Ausgleich findet, dass die Musik auf manchem Weg zum Sprechen gebracht wird, und das mit einem Aplomb sondergleichen. Die Bläser wiederum können, weil die Streicher nicht so zahlreich auftreten wie im herkömmlich besetzten Orchester, ihren Farbenreichtum aktiver einbringen. Sie tun das zum Teil mit Instrumenten ohne Ventile, was zum Beispiel das Horn, bei dem einzelne Töne durch Stopfung des Schalltrichters erzeugt werden müssen, in auffälliger Weise hervortreten lässt.

So ist es auch bei der Aufführung von Beethovens Neunter der an der historisch informierten Aufführungspraxis orientierte Klang, der das Geschehen bestimmt. Dazu gehören nicht zuletzt die nuancierte Artikulation, das Wechselspiel zwischen gebundenen und gestossenen Tönen, und die kleinteilige, weniger auf den grossen Bogen als auf die Takteinheit ausgerichtete Phrasierung. Bestimmend sind aber vor allem die Tempi, die Beethoven selbst, unter Verwendung des zu seiner Zeit neu eingeführten Metronoms, für seine Sinfonien (und eine Reihe anderer Werke) vorgegeben hat. Lange als Zeit als unausführbar verrufen, sind sie inzwischen längst zum Massstab geworden – und Antonini führte hier vor, wie selbstverständlich sie vielleicht nicht zu spielen, aber doch anzuhören sind.

Dass diese Tempi als Intention zu sehen sind, nicht als wörtliche Vorschrift, versteht sich. Auch Antonini macht Kompromisse, wie sie durch die Gegebenheiten gefordert sind – etwa durch die Dimensionen der sorgfältigst renovierten, nach wie vor einzigartige klingenden Salle de musique in La Chaux-de-Fonds mit ihren tausend Sitzplätzen. Im Kopfsatz nahm er die Viertel nicht mit 88 Schlägen pro Minute, wie es Beethoven notiert hat, sondern mit deren 73. Der Satz wirkte aber immer noch ungeheuer frisch – was zeigt, dass Klang und Attacke genauso wichtig sind wie das Zeitmass. Die Einleitung mit ihren liegenden Tremoli erhielt etwas fast drohend Abwartendes, worauf der erste Fortissimo-Schlag wie eine Explosion wirkte, zumal die Pauke da beinah so scharf wie eine Trommel einfuhr. Sogleich stand er im Raum, der aufklärerische, durch die französische Revolution konkretisierte Impetus, der Beethoven umgetrieben hat.

Überraschend das Adagio molto e cantabile des dritten Satzes. Obwohl Antonini die Viertel mit 50 Schlägen pro Minute nahm, also etwas langsamer blieb als die von Beethoven festgelegten 60, ergab sich der Eindruck einer sehr flüssigen Kantabilität – allerdings eines ganz natürlichen, gleichsam selbstverständlichen, in keinem Augenblick getriebenen Fliessens. Heute ist man an dieses neue, noch immer ausreichend langsame Tempo gewöhnt; gleichzeitig war zu spüren, wie viel Zeit verstrichen ist seit jener Zürcher Aufführung von Beethovens Neunter, für die Georg Solti im September 1990 ans Pult des Tonhalle-Orchesters getreten war. Damals ging es nämlich noch durchaus um die Frage, ob es der Dirigent tatsächlich wagen würde, den Satz in vier Vierteln zu schlagen, wie er notiert ist, oder ob er, der damals noch geltenden Praxis gemäss, die Achtel anzeigen müsse.

Besonderes Profil erhielt die Aufführung von Beethovens Neunter in La Chaux-de-Fonds im Finale. Die Zürcher Singakademie, in den Sopranen zu Recht etwas stärker besetzt als in den anderen Stimmen, bewältigte ihre Aufgaben mit Anstand, während Rachel Harnisch (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Daniel Behle (Tenor) und Thomas E. Bauer (Bass) ein ausgewogenes Solistenquartett bildeten. Weder klassizistische Erhabenheit noch jubelnde Feierlichkeit stellte sich ein, die äusserst heftig durchpulste Wiedergabe liess vielmehr das utopische Moment in Schillers «Ode an die Freude» aufscheinen – und auch ihren Skeptizismus. «Überm Sternenzelt / Muss ein lieber Vater wohnen»: das wurde fast trotzig behauptet, wie wenn die Frage, ob es denn wirklich so sei, keineswegs sichere Antwort finden könnte.

Einen weiten Weg hat das auch hier wieder in mitreissender Präsenz agierende Kammerorchester Basel seit den energiegeladenen, aber elegant beherrschten Aufnahmen der Sinfonien Nr. 1 und 2 im Jahre 2004 zurückgelegt. Er spiegelt die Entwicklung, die der Komponist von seinen Anfängen im Zeichen der (allerdings sogleich in Frage gestellten) Tradition zu diesem weit in die Zukunft weisenden Werk genommen hat.