Fiebertraum eines Künstlers

«Tristan und Isolde» von Richard Wagner in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Christian Kleiner, Konzert-Theater Bern

Es hätte die Abschiedsvorstellung des künstlerisch erfolgreichen, leider vorzeitig und im Unfrieden zurückgetretenen Intendanten Stephan Märki werden sollen. Daraus wurde nichts; Märki hat das Konzert-Theater Bern längst hinter sich gelassen und sich Cottbus zugewandt, wo er auf die Saison 2020/21 hin als Intendant und Operndirektor tätig werden wird. Mit «Tristan und Isolde» hat er den Bernern er ein Projekt zurückgelassen, das die kleine Bühne bis an die Grenzen ihrer Kapazitäten hin gefordert, ihr jetzt aber auch einen auserordentlichen Erfolg beschieden hat.

Kommt Richard Wagners «Handlung in drei Aufzügen» in einem Theater wie jenem in Bern zur Aufführung, stellt sich die Frage nach der vokalen Qualität in zugespitztem Masse. Nicht so hier. Mit Daniel Frank tritt ein Tristan mit lyrisch eingefärbter, intelligent eingesetzter und bis zum Ende uneingeschränkt präsenter Stimme in Erscheinung. Als Isolde steht ihm mit Catherine Foster eine Wagner-Sängerin par excellence zur Seite; in ihrer Diktion gibt es fraglos noch Potential, was die vokale Ausstrahlung und das Volumen betrifft, bleiben jedoch keine Wünsche offen – und die Differenzierung der Seelenzustände vor und nach der Einnahme des Tranks gelingt ihr vorzüglich. Besonderes Aufsehen erregt allerdings Claude Eichenberger, der die Partie der Brangäne auf den Leib geschrieben scheint. In warmer Opulenz und klarer Zeichnung leuchtet ihr Mezzosopran, und was sie darstellerisch, nicht zuletzt mit ihrer sprechenden Mimik, aus ihren Auftritten macht, gehört zu den Glanzpunkten der Produktion. Nicht weniger eindrucksvoll Robin Adams als ein temperamentvoll aufbrausender, im dritten Akt rührend fürsorglicher Kurwenal und Kai Wegner als ein hell klingender, jugendlich wirkender König Marke.

Dass die vokalen Qualitäten so deutlich zur Geltung kommen, ist umso bemerkenswerter, als Kevin John Edusei, der sehr begabte, zum Ende dieser Spielzeit leider ebenfalls abtretende Chefdirigent der Oper, das Berner Symphonieorchester unerhört kraftvoll aufrauschen lässt. Wie es seinerzeit Michael Gielen in Frankfurt und später Lothar Zagrosek in Stuttgart taten, beide beim «Ring des Nibelungen», sichert Edusei dem Instrumentalen seine volle Bedeutung, ohne dass das Vokale je darunter litte. In seiner Deutung legt er den Akzent weniger auf das sehnsüchtig Ziehende als auf das Eruptive, das der unbotmässigen Begegnung zwischen Tristan und Isolde innewohnt. Dies in Übereinstimmung mit dem Regisseur. Sehr zu Recht geht Ludger Engels vom biographischen Moment in Wagners Schaffensprozess aus. Ganz im Geist des Regietheaters verlegt er die Schauplätze in eine Art Atelier, in dem Andries Cloete, der sowohl den jungen Hirten, den etwas manieriert, als auch den alten Hirten singt, als «Der Künstler» das Geschehen imaginiert, es organisiert und es in katzenartiger Beweglichkeit über den ganzen Abend hinweg begleitet. Der Ansatz führt, vor allem auch auf der Ebene des Bühnenbilds (Volker Thiele) und der Kostüme (Heide Kastler) immer wieder zu Brechtscher Distanzierung, schafft aber mannigfache Anregung. Vor allem deshalb, weil an diesem Abend ganz wundervoll Theater gespielt wird.

Carmen ist mitten unter uns

Georges Bizets Oper in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Claude Eichenberger (Carmen) und Winston Arnon (Joker) / Bild Tanja Dorendorf, Konzert-Theater Bern

Für einen wie ihn ist «Carmen» eine Einladung – für einen wie Mario Venzago, der sich in einem emphatischen Sinn als Interpret versteht. Sehr persönlich bringt er sich in seine Projekte ein, und dabei scheut er auch nicht vor Eingriffen in den Notentext zurück. Vor produktiven Eingriffen. Federführend beteiligt war er an jenem Vorhaben der Berner Musikhochschule, das der 1943 in Berlin uraufgeführten Oper «Schloss Dürande» von Othmar Schoeck ein neues Libretto beschert hat. Und für die h-moll-Sinfonie Franz Schuberts, die sogenannten Unvollendete, hat er die beiden fehlenden Sätze, zu denen nur wenige Skizzen bekannt sind, dergestalt eingerichtet, dass sie aufgeführt werden können. So liegt nahe, dass sich Venzago für die von ihm dirigierte Neuinszenierung von «Carmen» im Stadttheater Bern den Editionsproblemen von Georges Bizets Oper zugewandt – und seine eigene Fassung erstellt hat.

Das ist darum legitim, weil «Carmen» nicht wirklich in einer eindeutigen, auktorial festgelegten Version vorliegt. Schon während der Vorbereitungen zur Uraufführung in der Pariser Opéra-Comique 1875 wurde heftig an der Partitur herumgedoktert. Um das Werk nach seiner kühl aufgenommenen Premiere in die Opernhäuser zu bringen, sollten die gesprochenen Dialoge in Rezitative umgewandelt werden, womit, da der Komponist inzwischen verstorben war, Ernest Guiraud beauftragt wurde. Unter dessen Händen erhielt «Carmen» eine andere Gestalt – und in der hat die Oper ihren Siegeszug über die Bühnen der Welt angetreten. Inzwischen freilich sind mehrere kritische Ausgaben der Partitur erschienen, ist man wieder näher bei Bizet – doch ganz nah wird man ihm nicht kommen, auch wenn der Prozess der Umarbeitung durch fremde Hände genau dokumentiert und somit nachvollziehbar ist.

Was nun in Bern geboten wird, stellt nicht, wie es Nikolaus Harnoncourt 2005 in Graz und vier Jahre später John Eliot Gardiner in Paris versucht haben, eine möglichst textgetreue Annäherung an die Version der Uraufführung, sondern eine Mischfassung eigener Art dar. Sie verzichtet auf die originalen Dialoge ebenso wie auf die nachkomponierten Rezitative, weiss die dramaturgische Stringenz aber gleichwohl zu wahren. Zugleich sehen sich Zuhörerin wie Zuhörer da und dort in der gemütlichen Begegnung mit dem Vertrauten aufgerüttelt. Wenn kurz nach Beginn die Gassenjungen als kleine Soldaten aufmarschieren (in Bern sind es kleine Schönheitsköniginnnen), singen sie ihr «tête haute» nicht mit vier Silben, sondern mit deren drei, wie es die Partitur vorsieht. Erhellender ist das stets gestrichene Couplet am Anfang, in dem sich der Soldat Moralès über eine junge Frau und ihren deutlich älteren, sichtbar eifersüchtigen Ehemann lustig macht – Carl Rumstadt bringt das gekonnt. Aufsehenerregend auch die berühmte «Habanera» der Carmen, deren erste Strophe hier in einer früheren Fassung erklingt; dass das Pizzicato unmittelbar davor durch einen heftigen Paukenschlag ergänzt ist (so war es doch?), sorgt überdies für heilsames Erschrecken.

Überhaupt darf man sich an diesem Abend über Einiges wundern. Über die Herren im Anzug zum Beispiel, die im ersten Rang dreist auf den Treppen ganz am Rand Platz nehmen – das soll erlaubt sein? Nun, es sind Herren aus dem Chor, die, von Zsolt Czetner ausgezeichnet vorbereitet, aus dem Zuschauerraum heraus agieren. So wie José, der als artiger Premierenbesucher vorn im Parkett sitzt und sich, nachdem ihm Carmen nicht eine Blume, sondern einen ihrer roten Handschuhe zugeworfen hat, durch die Zuschauer zwängen muss, um auf der Bühne und dem um den Graben laufenden Steg seine Pflicht zu tun. Das hat mit dem Konzept von Stephan Märki zu tun, dem Berner Hausherrn, der für diesen Abend in die Rolle des Regisseurs geschlüpft ist. Eines phantasievollen, witzig verspielten Regisseurs. Carmen, so zeigt es das Konzert-Theater Bern, ist nicht die zur Theaterfigur gewordene Männerprojektion, nicht das Inbild gefährlicher Erotik, wie es Agnes Baltsa vor, mein Gott, fünfunddreissig Jahren im Opernhaus Zürich so unvergesslich vorgeführt hat – Carmen ist mitten unter uns.

Darum wird die Bühne des Berner Stadttheaters in der Ausstattung des Berliner Künstlers und Bühnenbildners Philipp Fürhofer zu drei Seiten von raumhohen, in ihrem unteren Bereich sichtbar zersprungenen Spiegelwänden eingefasst. Wenn die Ouvertüre erklingt – Mario Venzago zeigt mit dem klangschön wie rhythmisch präzis spielenden Berner Symphonieorchester schon hier ganz klar, in welch unsentimentale Richtung die Reise gehen wird –, sehen wir uns selbst: zu ebener Erde und in den oberen Stockwerken. Und sehen wir mit uns jene hohe Gestalt, die an einer Wand steht, an einer Spiegelwand eben; die offenkundig nicht weiter weiss, die möglicherweise genug hat – und die im letzten Moment von einem Tänzer aufgefangen wird. Als Joker wird der agile Winston Arnon bezeichnet, dies in Anlehnung an das düstere Kartenspiel später im Lager der Schmuggler; seine Funktion ist eher die eines Spielleiters, vor allem aber steht er für das Pantomimische, das Körpersprachliche in Bizets Oper – die in der Berner Fassung der Einkleidungen in Folklorismus und Gaunerromantik völlig entbehrt. Der Blick ist ganz und gar fokussiert.

Auf Carmen, die mit ihrer Siebzigerjahrefrisur und dem weissen Hosenanzug das Gegenteil ihrer selbst vorstellt. Müde ist sie, ermüdet von den Männern, von der Unmöglichkeit einer Beziehung, vom Leben überhaupt. Claude Eichenberger stellt das vor echte Herausforderungen; mit ihrem warm timbrierten Mezzosopran, ihrer vorzüglichen französischen Diktion, ihrer Bühnenpräsenz und ihrem darstellerischem Können meistert sie selbst diese Aufgabe, auch wenn ihr deren Anlage mitunter gegen den Strich laufen mag. Schon in der ersten Begegnung mit José schlägt Enttäuschung durch, denn dieser Unteroffizier – Xavier Moreno gibt ihn mit ungemein strahlendem Tenor und fesselnder Gestik – erweist sich rasch als ein Mann wie alle anderen. Selbst das von Kastagnetten begleitete Lied, mit dem Carmen den aus dem Gefängnis entlassenen José zu verführen sucht, will nicht recht in Schwung kommen, vielmehr wird einem bewusst, wie erschreckend früh das fatale Trompetensignal einsetzt, das den Soldaten zurückruft. Carmen scheint den Misserfolg vorausgeahnt zu haben; ihr Wutausbruch hält sich dementsprechend in Grenzen.

Micaëla dagegen, sie wirkt unbeschädigt und kennt keine Grenzen. Annährend gleich aufgemacht wie Carmen, erscheint sie als Alter Ego der Protagonistin. Nur trägt sie weisse Handschuhe, solche der Unschuld – es sind diese kleinen, sorgfältig gesetzten Zeichen, mit denen die Inszenierung die mächtige Spiegelarchitektur auf der Bühne belebt. Elissa Huber legt denn auch mächtig los; die junge Sopranistin bringt einen hellen, leuchtenden, klar zeichnenden Sopran ein, und so kennt ihre Micaëla keine Spur jener Naivität, die dieser Partie gerne zugedacht wird. Lebensfreudig und stimmlich brillant auch Frasquita (Marielle Murphy) und Mercédès (Eleonora Vacchi). Als Josés Konkurrent Escamillo gibt Jordan Shanahan einen prächtigen Macho vom Dienst ab, nur fehlt es ihm etwas an Tiefe, was sich von Young Kwon (Zuniga) nicht behaupten lässt. Etwas enigmatisch ist allein das Finale geraten. In abgezirkelten Schritten kreuzen sich Carmen und José, der aus der Spiegelwand herausgebrochene Glassplitter, den er als Dolch mit sich trägt, scheint durch sie hindurch zu fahren, danach sinkt sie entseelt in die Arme des Jokers: womöglich gestorben an sich selbst.