Festspiele Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Alles Dada – oder fast alles

Abschluss der Ära Elmar Weingarten bei den Festspielen Zürich

 

Was waren das für Zeiten, als es in Zürich noch Junifestwochen gab. Als, im Rahmen grosser thematischer Schwerpunkte und veranstaltet von der Stadt selbst, Japan zu Gast war oder John Cage himself für erheiternde Unruhe sorgte. In den frühen neunziger Jahren war Schluss damit, angeblich aus finanziellen Gründen. Wenige Jahre später kam es zu einem Neustart – unter neuen Vorzeichen und dem neuen Namen «Zürcher Festspiele». Die Hoteliers der Stadt hatten sich über schlechten Geschäftsgang Ende Juni beklagt und waren bei Alexander Pereira vorstellig geworden, dem damaligen Intendanten des Opernhauses Zürich, von dem sie für die fragliche Zeit einen kulturellen Akzent und in der Folge eine kommerzielle Belebung erhofften.

So kam es vor zwanzig Jahren zu den Zürcher Festspielen, die eigentlich keine Festspiele waren. Denn die Stiftung, die sie ausrichten sollte, verfügte über geringe Mittel und dementsprechend wenig Handlungsspielraum. Im Stiftungsrat vertreten waren die grossen Zürcher Kulturinstitute, die von den Subventionsgebern aufgerufen waren, das Ende der Saison mit besonderem Glanz zu versehen. Wenn sich dieser Glanz einstellte, dann am ehesten in den Preisen, die das Opernhaus für seine Vorstellungen im Rahmen der Festspiele verlangte. Inhaltlich ergab sich kein Profil, da jedes der grossen Kulturinstitute sein ohnehin vorgesehenes Programm präsentierte – und es, weil ja Festspiele waren, mit einem speziellen Fähnchen versah.

Neue Ausrichtung

Das wurde erst anders, als Elmar Weingarten, mit seinem Ideenreichtum und seiner Konzilianz prädestiniert für diese Aufgabe, vor vier Jahren den widerwilligen Stier bei den Hörnern packte. Er übernahm die Leitung der Festspiele 2012 noch als Intendant des Tonhalle-Orchesters Zürich und führte die Geschäfte nach seinem Rücktritt beim Orchester 2014 weiter. Vier Ausgaben der Festspiele sind unter Weingartens gütiger Hartnäckigkeit zustande gekommen. Die Institution hat in dieser Zeit nicht nur ihren Namen gewechselt: von den eher lokal gedachten «Zürcher Festspielen» zu den «Festspielen Zürich» mit bewusst internationaler Ausstrahlung. Das Festival hat auch, und vor allem, ein Gesicht erhalten. Denn Weingarten hat den thematischen Schwerpunkt, der die Junifestwochen ausgezeichnet hatte, wieder eingeführt und ihn den neuen Bedingungen der Festspiele gemäss rehabilitiert.

Den Geburtsfehler der Institution hat auch Weingarten nicht beheben können. Tatsache ist, dass für die Festspiele Zürich mit dem Opernhaus und dem Tonhalle-Orchester sowie dem Schauspielhaus und dem Kunsthaus vier grosse Kulturinstitute der Stadt zusammenarbeiten sollten, die das aber nicht unbedingt wollen, ja der unterschiedlichen Planungsfristen wegen gar nicht können – was der Entwicklung einer gemeinsamen Dramaturgie fundamental im Wege steht. Dass die Festspiele dennoch ihr Profil so schärfen konnten, wie es geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Es basiert auf der Einsicht, dass eine Veranstaltungsreihe von einem thematischen Kern, einer thematischen Leitlinie nichts als profitieren kann – und dass sie selbst dann profitieren kann, wenn nicht alles und jedes im Angebot dem Thema gehorcht.

So hat Elmar Weingarten den Festspielen Zürich neue Horizonte eröffnet; er hat seinen Partnern die nötigen Freiheiten gelassen, zugleich aber als Anreger gewirkt und selber beherzt als Veranstalter agiert. Das mag zu einem gewissen Überangebot wie zu Terminkollisionen geführt haben, es hat dem Zürcher Kulturleben vor dem Beginn der sommerlichen Schulferien aber auch eine spürbare Zufuhr von frischer Luft und bunter Vielfalt verschafft. Alle sind sie in ihrer Weise unvergessen, das «Treibhaus Wagner» 2013, «Prometheus» mit der grandiosen Aufführung von Luigi Nonos Hörtragödie im Jahr darauf, «Shakespeare» 2015 und diesen Sommer, hundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, «Dada – zwischen Wahnsinn und Unsinn». Und heuer, nicht zu unterschätzen, lagen die Festspiele auch erstmals etwas früher als ehedem, um die Sommer-Ausstellung des Kunsthauses besser ins Gesamtprogramm einzubinden.

Dada und die Musik

Eine der Spezialitäten der vier zurückliegenden Jahre bestand darin, dass es nicht der Künstlerische Leiter allein war, der die Ideen entwickelte, dass Elmar Weingarten vielmehr seine Gattin Claudia von Grote zu Seite stand; entschieden wirkte sie an der Ausarbeitung der dramaturgischen Ansätze mit. So gab es dieses Jahr etwa eine Reihe von Soiréen, bei denen sich die Dada-Bewegung mit den etablierten Künsten traf, aber auch eine Folge von Begegnungen mit Dada in Zürcher Privatwohnungen – analog einer Idee, wie sie an den Wiener Festwochen seit langem üblich ist. Die Musik dagegen, sie geriet beim Thema dieses Jahres etwas in den Hintergrund – wenn auch nicht ganz. Das Infragestellen und das Aufbrechen herkömmlicher Rituale fand auch in der Musik statt, und vor allen Dingen setzte es sich bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in die Jetztzeit hinein fort.

Von solchem berichtete die grosse Dada-Nacht in der Tonhalle Zürich, die auf den Punkt genau um 19.16 Uhr begann und einen langen Abend währte. Wie ein Wirbelwind fegte Ursula Sarnthein, Bratscherin im Tonhalle-Orchester, durch den dritten Satz der Sonate für Viola allein, op. 25 Nr. 1, von Paul Hindemith; sie nahm die Vorschrift des Komponisten, dieses Stück Musik in rasendem Zeitmass und wild zu spielen, Tonschönheit sei dabei Nebensache, atemberaubend beim Wort. Wie viel Dada in Mauricio Kagel steckt, erwies dessen Stück «Match» für zwei Celli (Thomas Grossenbacher und Karolina Öhmann) und Schlagzeug (Erika Öhmann) von 1964. Und in ihrer Weise dadaistisch schräg die «24 Duos» von Jörg Widmann, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Ihre Höhepunkte fand die dadaistisch-musikalische Veranstaltung freilich im Auftritt der Stimmkünstlerin Salome Kammer, die dadaistische Sprechstücke aus ihrer persönlichen Schatzkammer präsentierte und neue Werke auf den Spuren Dadas dazustellte. Zur grossartigen Ausstrahlung der weit ausserhalb jeder Norm stehenden Sängerin kam die Kunst der Diseuse, die ihre Stimme in unglaublicher Weise zu wandeln versteht. Jedenfalls konnte man gewahr werden, wie sehr auch im deutschsprachigen Umfeld der Tonfall allein Bedeutungsträger sein kann.

Die Kunst der Interpretation

Neben Dada setzte sich das quasi normale Kunstleben fort – mit seinen helleren wie seinen dunkleren Seiten. Im Opernhaus trug der Bariton Christian Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber «Die schöne Müllerin» von Franz Schubert in einer Weise vor, dass einem das Blut ins Stocken geriet. Schon das scheinbar simple Strophenlied des Beginns liess kaum Heiterkeit aufkommen. Wenige Lieder später war klar, dass dem Müllerburschen, der hier von sich singt, grausam mitgespielt wird, dass die Müllerstochter alle vorführt, auch ihren Vater, und dass sie sich ganz rasch für den schmucken Jäger in Grün erwärmen wird, worauf dem Verschmähten nichts als der Sturz ins kalte Wasser des munter plätschernden Bächleins bleibt. Da in dem singenden Sprechen oder dem sprechenden Singen Gerhahers so gut wie jedes Wort verständlich war, wurde der Liederzyklus, den der Sänger mitsamt den von Schubert nicht vertonten Gedichten vortrug, zu einer ganz eigenen, äusserst dramatischen Erzählung, während die Dichtung des verkannten Wilhelm Müller in neuer Würde erschien. Ganz zu schweigen von der Vertonung Schuberts, die mit ihren Schlünden und ihren Abgründen an diesem Abend zutiefst erschütternd wirkte.

Solche Kunst der Interpretation ist für Lionel Bringuier, den Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich, ein Fremdwort. Weil es sich um den sinfonischen Erstling eines jungen, ambitionierten Komponisten handelt und weil im Untertitel von einem Titanen die Rede ist (allerdings in Anspielung an einen Roman von Jean Paul), stürmte Bringuier ohne Rücksicht auf Verluste durch die erste Sinfonie von Gustav Mahler – am Tag nach der «Schönen Müllerin» bot das reichlich Ernüchterung. Für eine Vortragsanweisung wie «gemächlich» hat er keinen Sinn; wenn er darf, dreht er die Laustärke sogleich und mächtig auf. Und um das etwas weinerlich Weiche der k.u.k-Mentalität schert er sich ebenso einen Deut wie um die ironische Doppelbödigkeit, die sich ganz besonders im langsamen Satz mit seinen verfremdenden Anklängen an «Frère Jacques» manifestiert. Dass musikalische Interpretation auch und gerade einen Akt der Sinngebung beinhaltet und dass dieser Akt seine intellektuelle Basis haben muss, das scheint Bringuier keineswegs zu kümmern – das ist das Verstörende an diesem unglaublich sympathischen und zugleich erschreckend naiven jungen Musiker. Wie soll das nur weitergehen?

Solche Fragen stellen sich bei Fabio Luisi nicht, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich weiss genau, was er will – das zu hören und zu erleben, bringt Erlebnisgewinn, auch wenn es unter dem Strich nicht überall aufgeht. Bei «I Puritani», der letzten Oper Vincenzo Bellinis, die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Festspielen herausbrachte, gedachte Luisi ans Licht zu heben, welch neue Bedeutung Bellini dem Orchester zumass. Das ist ihm an mancher Stelle vorzüglich gelungen, das Orchester der Oper Zürich stellte prachtvoll heraus, dass Bellini zu Recht stolz war auf seine Mühewaltung im Bereich der Instrumentation. In anderen Momenten aber explodierte die Lautstärke, dröhnte der Chor, schrien die Sänger, tutete das Orchester, als wären alle gegen alle, vor allem alle gegen die Partitur. Und das in einem Bühnenbild, das den Schall sehr direkt in den kleinen, für ein Sprechtheater konzipierten Zuschauerraum des Zürcher Stadttheaters abstrahlte. Der schwere, kreisende Zylinder, den Henrik Ahr entworfen hat, gab dem Regisseur Andreas Homoki Gelegenheit, eine Bildfolge zu entwickeln, die den narrativen Strang des eigenartig an Ort und Stelle tretenden Librettos erkennen liess. Und die Umdeutung des lieto fine in eine finale Katastrophe passte in ihrer drastischen Konkretisierung ganz und gar in diese Zeiten. Mit dem stimmgewaltigen, höhensicheren Lawrence Brownlee (Arturo) und der nicht weniger ausstrahlungsmächtigen Pretty Yende (Elvira) war die Szene durch zwei vorzügliche Protagonisten beherrscht.

Das waren die Festspiele Zürich 2016. Elmar Weingarten verabschiedet sich definitiv. Unter gründlich erneuerter Leitung sollen die Festspiele jetzt zur Biennale werden. Was das heisst, wird sich weisen.

Golaud et Mélisande

Pelléas
Golaud (Kyle Ketelsen) und Mélisande (Corinne Winters) in der Zürcher Oper / Bild Toni Suter T + T Fotografie, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Männerwirtschaft, schonungslos demaskiert

«Pelléas et Mélisande» von Debussy im Opernhaus Zürich

 

Im Grunde gibt es nur zwei Wege, das Stück auf die Bühne zu bringen: so, wie es Claude Debussy auf den Text von Maurice Maeterlinck ersonnen hat, oder eben nicht so. Beide Wege haben ihre Gültigkeit – besonders dann, wenn sie kompromisslos und konsequent ausgeschritten werden. Als in den frühen neunziger Jahren Peter Stein «Pelléas et Mélisande» herausbrachte, er tat das in der Abgeschiedenheit der Welsh Opera von Cardiff, aber doch zusammen mit Pierre Boulez am Dirigentenpult, entschied er sich für eine Lesart, welche die Bühnenanweisungen eins zu eins in szenische Realität überführte. Der Turm war der Turm, Mélisande trug ihre Haare so lang, dass sie tatsächlich auf Pelléas herniederfallen konnten, und selbst die Tauben, die in diesem Augenblick aus dem Gemäuer emporfliegen, waren Tauben, richtige nämlich. Das wirkte klassizistisch, ein wenig leblos vielleicht, in seiner Geradlinigkeit vermochte es aber durchaus zu packen.

Genau das Gegenteil davon ist jetzt im Opernhaus Zürich zu erleben: in einer konzis durchdachten und fabelhaft ausgearbeiteten Produktion von «Pelléas et Mélisande», die sich radikal von der originalen Einkleidung der Geschichte verabschiedet, das Thema des Stücks vielmehr in ganz eigener Weise aufbereitet. In der Sicht des Regisseurs und Bühnenbildners Dmitri Tcherniakov ist das Schloss Allemonde eine moderne Villa, durch deren Fenster jener dichte, tiefe Wald sichtbar wird, von dem an verschiedenen Stellen des Stücks die Rede ist. Es ist der Wald des Unbewussten, und betrachtet wird er von einer Familie, in der die Kunst der Psychotherapie gelebt wird. Das obligate Glas Wasser steht immer bereit, Hypnose gehört dazu, und selbst Yniold, der jüngste Spross, übt sich früh, wenn er den Schäfer auf die Couch zwingt und sich protokollierend danebensetzt. Dominiert wird der Clan durch Arkel, der vom Alter sichtlich gebeugt ist, deshalb an Charisma und Autorität jedoch nicht das Geringste eingebüsst hat. Wie Brindley Sherratt das verkörpert und wie er es mit seinem festen, voluminösen Bass in Klang setzt – allein schon das ist ein Erlebnis.

Ein Trauma und seine Wirkung

Zu Beginn sitzt die Familie im Hintergrund am Esstisch beim Tee – bis, ein veritabler coup de théâtre, das Licht auf einen Schlag erlischt und das Haus in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Zu den ersten Klängen aus dem Graben erscheint eine Schrift, ein wenig wie im epischen Theater Bertolt Brechts. Der Psychiater Golaud, heisst es sinngemäss, habe sich in seine Patientin Mélisande verliebt und bringe sie nach Hause, um die Therapie dort fortzusetzen. Womit alles gesagt ist und das Unglück seinen Lauf nehmen kann. Golaud, sonst gerne auf eine Nebenrolle als Bösewicht reduziert, erscheint hier als der eigentliche dramatische Täter, Pelléas tritt später und eher zufällig auf und stiehlt sich am Ende fast unbemerkt davon – nichts von dem tödlichen Hieb Golauds, den das Libretto erwähnt. Und erst noch Mélisande. Sie ist in Zürich alles andere als die geheimnisvolle, zartgliedrige Schönheit mit langem blondem Haar, als die sie in der Regel erscheint. Nein, sie ist ein kratzbürstiges Strassenmädchen ganz in Schwarz, mit schwerem Schuhwerk, zerschlissenen Jeans und dunklen Ringen um die Augen. Dass diese junge Frau eine schwere Bürde trägt, ist nicht zu übersehen.

Bei Docteur Golaud ist sie allerdings an den Falschen geraten. Mit seinem virilen Bariton und dem eleganten Outfit, das ihm die Kostümbildnerin Elena Zaytseva auf den Leib gezaubert hat, gibt sich Kyle Ketelsen als der berühmte Mann in den besten Jahren zu erkennen. Er denkt zuerst an sich und dann nochmals an sich. Doch je länger ihm der Erfolg versagt bleibt – und er bleibt ihm versagt, obwohl ihm Mélisande am Ende eine Tochter gebiert –, desto krasser gerät er auf die schiefe Bahn, die bestialische Demütigung Mélisandes, für die es in dieser Inszenierung kein Schwert braucht, sagt diesbezüglich alles. Pelléas ist kein Haar besser. Jacques Imbrailo hat stimmlich wie darstellerisch das Zeug zum jugendlichen Liebhaber und Sympathieträger, aber er macht Worte, unendlich viele Worte, er zögert, obwohl sich ihm Mélisande wieder und wieder an die Brust wirft – und wenn es am Ende doch zum Kuss kommt, wirkt dieser scheue Höhepunkt der Oper fast wie ein Zufall. Zum Titelhelden taugt dieser Pelléas nicht, daran lässt Tcherniakov keinen Zweifel; «Golaud et Mélisande» müsste das Werk Debussys hier heissen.

Oder vielleicht einfach: «Mélisande». Durch ihr Trauma gebrochen und damit elementar auf sich selbst zurückgeworfen, trägt diese junge Frau eine unsichtbare Schutzhülle um sich. So wie Golaud als Täter erscheint, der zum Opfer (seiner selbst) wird, so tritt Mélisande als Opfer auf, das gerade in seiner Unberührbarkeit von stärkster Wirkung ist. Die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde – als Geneviève hat Yvonne Naef zwar einen wirkungsvollen Auftritt, doch bleibt die Mutter Golauds eine Randfigur –, die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde wird durch Mélisande jedenfalls kräftig durcheinandergebracht. Corinne Winters setzt das blendend um. Trotzige Ablehnung und verletzliche Zartheit sind im Spiel der jungen Amerikanerin gleichermassen präsent, und in ihrer flexiblen Stimme vermischt sich das Rauhe mit dem Sirenenhaften. Dazu kommt eine hervorragende Diktion – wobei das für alle Mitglieder dieses sehr speziellen, sehr exquisiten Ensembles gilt.

Spannung von A bis Z

Nichts an diesem Abend ist vom Regisseur dazu erfunden, er nimmt bloss den Text beim Wort. Und lässt ihn in einem ganz und gar gegenwärtigen Ambiente eine Dringlichkeit finden, wie sie bei «Pelléas et Mélisande» selten eintritt. Die Geschichte kommt einem heftig nah – auch weil der Abend, genau gleich wie Verdis «Macbeth» vor einem knappen Monat, aus einem Guss geformt ist. Die auf der Bühne erscheinenden Physiognomien spiegeln sich grossartig in deren stimmlichen Profilen, während unter der Leitung von Alain Altinoglu die Philharmonia Zürich mit jenem symphonischen Selbstbewusstsein agiert, das die Partitur nahelegt, ohne dabei aber die Sänger zu bedrängen. Gewisse Probleme der Balance werden sich noch einpendeln, und dass die Musik Debussys hier insgesamt etwas direkt wirkt, mag auch auf den vergleichsweise kleinen Raum im Opernhaus Zürich zurückgehen. Mit äusserster Sorgfalt mischt der Dirigent die Farben, so dass sich klangliche Mixturen in grosser Vielfalt ergeben – und das Geschehen auch musikalisch jenes Knistern entstehen lässt, das diese Begegnung mit einem impressionistischen Werk zu handgreiflicher Spannung bringt.

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.

Wolfgang Rihm in Zürich

 

Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja DOrendorf
Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja Dorendorf

 

Peter Hagmann

Zukunft in der Vergangenheit?

«Die Hamletmaschine» von Wolfgang Rihm im Opernhaus Zürich

 

Nicht laut genug kann begrüsst werden, mit welcher Konsequenz und welchem Mut am Opernhaus Zürich das Musiktheater der jüngeren Zeit gepflegt wird. Und das umso mehr, als es hier nicht so sehr um Uraufführungen geht, wie sie manches Haus landauf, landab präsentiert (oder wenigstens zu präsentieren ankündigt). Im Fokus steht eher die Pflege dessen, was als Repertoire des neuen Musiktheaters zur Verfügung steht, im Alltag des Opernbetriebs aber kaum Beachtung findet. Da setzt die Zürcher Oper unter der Leitung von Andreas Homoki an. 2012/13 gab es die «Drei Schwestern» von Peter Eötvös, in der Spielzeit darauf «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann, jetzt steht Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» auf dem Programm.

Was übrigens nicht weniger Risiko birgt als eine Uraufführung. Nachdem es 1987 in Mannheim aus der Taufe gehoben worden war, ist das Stück nämlich nur noch zwei weitere Male herausgekommen: wenige Wochen nach der Uraufführung in Freiburg, 1990 dann in Hamburg. Dass das Werk in der Schublade verschwand, hat vielleicht seine Gründe – von der üppigen Besetzung der Partitur über die Ansprüche an die Ausführenden bis hin zu der geheimnisvollen Textvorlage, einer Auseinandersetzung mit Shakespeares «Hamlet», die Heiner Müller 1977 innerhalb einer Nacht auf neun Seiten hingeworfen hat. Vor allem aber, das erweist die erneute Begegnung mit Rihms frühem Beitrag zum Musiktheater, ist das Werk mehr als andere seiner Entstehungszeit verpflichtet – eine Art Zeitoper wie Hindemiths «Neues vom Tage» oder «Von heute auf morgen» von Arnold Schönberg.

Wolfgang Rihm wandelte damals auf den Pfaden Antonin Artauds, des französischen Theatertheoretikers, der ihm entscheidende Anstösse für eine neue Art szenischer Kunst vermittelte. Nicht mehr die linear erzählte und in Musik gesetzte Geschichte sollte die Grundlage des Geschehens bilden, diese hergebrachten Parameter sollten vielmehr ersetzt werden durch Elementares und Rituelles. «Tutuguri» nannte sich zum Beispiel ein Ballett von 1982, das mit ebenso grosser Orchesterbesetzung arbeitet wie «Die Hamletmaschine», das ebenfalls ein reich bestücktes Schlagwerk im Raum verteilt und das in gleicher Weise wie das Musiktheaterwerk (die Bezeichnung «Oper» ist hier eindeutig weniger am Platz) Strategien der Überwältigung verfolgt. Rihm hatte hier einen Weg gefunden, auf dem er sich gegen die verfehlte, weil simplizistische Etikettierung als Galionsfigur einer «Neuen Einfachheit» begegnen zu können hoffte.

Heiner Müller wiederum schrieb sich mit der «Hamletmaschine» von der Seele, was ihn damals beschäftigte und belastete. Die Idee einer neuen Gesellschaftsordnung hatte sich aufgelöst im bürokratisierten Unrechts-Alltag der DDR, die Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen als Vordenker und Wegpfader erschien gescheitert an der Anwendung schierer Gewalt, wie ihn der erst wenige Jahre zurückliegende Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag veranschaulichte. In seinem nächtlichen Schreibrausch projizierte Müller seine persönliche Problemlage in die Figuren des Hamlet und seiner Umgebung. Extrem kondensiert türmt der Text eine Fülle von Gedankensplittern und Assoziationen aufeinander, zugleich wirkt er selbst in der geräuschlosen Lektüre als ein heftiger Aufschrei.

Wie damit umgehen? Das ist die Frage, der sich jetzt das Opernhaus Zürich gestellt hat – und an der es letztlich gescheitert ist. In Ehren gescheitert. Nach dem eineinhalbstündigen Donnerwetter dieses Abends verliess ich das Haus weder überwältigt noch kathartisch geläutert, sondern – zugedröhnt und zusammengeschlagen. In Heiner Müllers Text möchte man an diesem überintensiven Abend durchaus eindringen; allein, zu verstehen ist wenig, derartiges Toben und Schreien herrscht auf der Bühne. Der äusserst gespannten, über weite Strecken expansiven Musik möchte man gerne zuhören, zumal das vom Komponisten phantasievoll eingesetzte Schlagwerk optimal in den vergleichsweise kleinen Raum des Zürcher Opernhauses verteilt ist und der Dirigent Gabriel Feltz am Pult der Zürcher Philharmonia die Zügel fest in der Hand hält. Stattdessen wird der Zuhörer bedrängt durch eine Flut penetranter Bilder aus dem Geist des Theaters der Grausamkeit.

In der Uraufführung hatte «Die Hamletmaschine» als vielversprechender Prototyp des nicht-narrativen, sozusagen abstrakten Musiktheaters gewirkt – und äusserst anregend gewirkt. Text und Partitur stützten diese Empfindung. In Zürich ereignet sich gerade das Gegenteil, denn Sebastian Baumgarten, der Regisseur des Abends, unterliegt der Vorstellung, möglichst jeden Satz in möglichst heftige Bilder übersetzen zu müssen -in Bilder auch, die eins zu eines unserer Tagesaktualität angehören. So werden, wenn gegen das Ende hin Ophelia (die schlichtweg grossartige Nicola Beller Carbone) das Heft in die Hand nimmt, jene Szenen aus Guantanamo, die als Inbegriff pervertierter Grausamkeit um die Welt gingen, in allen Einzelheiten nachgestellt – allerdings dergestalt, dass die Lagerwächter die Opfer sind und die von der Kostümbildnerin Marysol Del Castillo in die bekannten orangen Overalls gesteckten weiblichen Gefangenen die Täterinnen.

Dabei folgen sich in der einem Schiffsrumpf gleichenden Festung, die Barbara Ehnes auf die Bühne gestellt hat, die Bilder in hektischem Ablauf, als müsste die Szene den bisweilen hechelnden Tonfall des Textes abbilden. Der Schuss geht in den Ofen, denn was damit heraufbeschworen wird, ist justament die alte Oper, an die Heiner Müller bei diesem Text mitnichten gedacht und von der Wolfgang Rihm gerade wegkommen wollte. Einmal mehr hat sich hier ein Regisseur – gewiss guten Willens, in aller Ernsthaftigkeit, mit reicher Vorstellungskraft – überschätzt und als Deuter in den Vordergrund geschoben. Mit Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald in den Sprechrollen von Hamlet I und II sowie dem Bariton Scott Hendricks als Hamlet III standen ihm neben dem grossen Ensemble Darsteller zur Verfügung, die es vielleicht auch anders gekonnt hätten. Denn vielleicht käme das Stück zu mehr Eindringlichkeit, würde es szenisch ganz und gar abstrakt geboten.