Wolfgang Rihm in Zürich

 

Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja DOrendorf
Hamlet I alias Heiner Müller (Matthias Reichwald) zwischen Leitfiguren: Rihms «Hamletmaschine» auf der Zürcher Opernbühne / Bild Opernhaus Zürich, Tanja Dorendorf

 

Peter Hagmann

Zukunft in der Vergangenheit?

«Die Hamletmaschine» von Wolfgang Rihm im Opernhaus Zürich

 

Nicht laut genug kann begrüsst werden, mit welcher Konsequenz und welchem Mut am Opernhaus Zürich das Musiktheater der jüngeren Zeit gepflegt wird. Und das umso mehr, als es hier nicht so sehr um Uraufführungen geht, wie sie manches Haus landauf, landab präsentiert (oder wenigstens zu präsentieren ankündigt). Im Fokus steht eher die Pflege dessen, was als Repertoire des neuen Musiktheaters zur Verfügung steht, im Alltag des Opernbetriebs aber kaum Beachtung findet. Da setzt die Zürcher Oper unter der Leitung von Andreas Homoki an. 2012/13 gab es die «Drei Schwestern» von Peter Eötvös, in der Spielzeit darauf «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann, jetzt steht Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» auf dem Programm.

Was übrigens nicht weniger Risiko birgt als eine Uraufführung. Nachdem es 1987 in Mannheim aus der Taufe gehoben worden war, ist das Stück nämlich nur noch zwei weitere Male herausgekommen: wenige Wochen nach der Uraufführung in Freiburg, 1990 dann in Hamburg. Dass das Werk in der Schublade verschwand, hat vielleicht seine Gründe – von der üppigen Besetzung der Partitur über die Ansprüche an die Ausführenden bis hin zu der geheimnisvollen Textvorlage, einer Auseinandersetzung mit Shakespeares «Hamlet», die Heiner Müller 1977 innerhalb einer Nacht auf neun Seiten hingeworfen hat. Vor allem aber, das erweist die erneute Begegnung mit Rihms frühem Beitrag zum Musiktheater, ist das Werk mehr als andere seiner Entstehungszeit verpflichtet – eine Art Zeitoper wie Hindemiths «Neues vom Tage» oder «Von heute auf morgen» von Arnold Schönberg.

Wolfgang Rihm wandelte damals auf den Pfaden Antonin Artauds, des französischen Theatertheoretikers, der ihm entscheidende Anstösse für eine neue Art szenischer Kunst vermittelte. Nicht mehr die linear erzählte und in Musik gesetzte Geschichte sollte die Grundlage des Geschehens bilden, diese hergebrachten Parameter sollten vielmehr ersetzt werden durch Elementares und Rituelles. «Tutuguri» nannte sich zum Beispiel ein Ballett von 1982, das mit ebenso grosser Orchesterbesetzung arbeitet wie «Die Hamletmaschine», das ebenfalls ein reich bestücktes Schlagwerk im Raum verteilt und das in gleicher Weise wie das Musiktheaterwerk (die Bezeichnung «Oper» ist hier eindeutig weniger am Platz) Strategien der Überwältigung verfolgt. Rihm hatte hier einen Weg gefunden, auf dem er sich gegen die verfehlte, weil simplizistische Etikettierung als Galionsfigur einer «Neuen Einfachheit» begegnen zu können hoffte.

Heiner Müller wiederum schrieb sich mit der «Hamletmaschine» von der Seele, was ihn damals beschäftigte und belastete. Die Idee einer neuen Gesellschaftsordnung hatte sich aufgelöst im bürokratisierten Unrechts-Alltag der DDR, die Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen als Vordenker und Wegpfader erschien gescheitert an der Anwendung schierer Gewalt, wie ihn der erst wenige Jahre zurückliegende Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag veranschaulichte. In seinem nächtlichen Schreibrausch projizierte Müller seine persönliche Problemlage in die Figuren des Hamlet und seiner Umgebung. Extrem kondensiert türmt der Text eine Fülle von Gedankensplittern und Assoziationen aufeinander, zugleich wirkt er selbst in der geräuschlosen Lektüre als ein heftiger Aufschrei.

Wie damit umgehen? Das ist die Frage, der sich jetzt das Opernhaus Zürich gestellt hat – und an der es letztlich gescheitert ist. In Ehren gescheitert. Nach dem eineinhalbstündigen Donnerwetter dieses Abends verliess ich das Haus weder überwältigt noch kathartisch geläutert, sondern – zugedröhnt und zusammengeschlagen. In Heiner Müllers Text möchte man an diesem überintensiven Abend durchaus eindringen; allein, zu verstehen ist wenig, derartiges Toben und Schreien herrscht auf der Bühne. Der äusserst gespannten, über weite Strecken expansiven Musik möchte man gerne zuhören, zumal das vom Komponisten phantasievoll eingesetzte Schlagwerk optimal in den vergleichsweise kleinen Raum des Zürcher Opernhauses verteilt ist und der Dirigent Gabriel Feltz am Pult der Zürcher Philharmonia die Zügel fest in der Hand hält. Stattdessen wird der Zuhörer bedrängt durch eine Flut penetranter Bilder aus dem Geist des Theaters der Grausamkeit.

In der Uraufführung hatte «Die Hamletmaschine» als vielversprechender Prototyp des nicht-narrativen, sozusagen abstrakten Musiktheaters gewirkt – und äusserst anregend gewirkt. Text und Partitur stützten diese Empfindung. In Zürich ereignet sich gerade das Gegenteil, denn Sebastian Baumgarten, der Regisseur des Abends, unterliegt der Vorstellung, möglichst jeden Satz in möglichst heftige Bilder übersetzen zu müssen -in Bilder auch, die eins zu eines unserer Tagesaktualität angehören. So werden, wenn gegen das Ende hin Ophelia (die schlichtweg grossartige Nicola Beller Carbone) das Heft in die Hand nimmt, jene Szenen aus Guantanamo, die als Inbegriff pervertierter Grausamkeit um die Welt gingen, in allen Einzelheiten nachgestellt – allerdings dergestalt, dass die Lagerwächter die Opfer sind und die von der Kostümbildnerin Marysol Del Castillo in die bekannten orangen Overalls gesteckten weiblichen Gefangenen die Täterinnen.

Dabei folgen sich in der einem Schiffsrumpf gleichenden Festung, die Barbara Ehnes auf die Bühne gestellt hat, die Bilder in hektischem Ablauf, als müsste die Szene den bisweilen hechelnden Tonfall des Textes abbilden. Der Schuss geht in den Ofen, denn was damit heraufbeschworen wird, ist justament die alte Oper, an die Heiner Müller bei diesem Text mitnichten gedacht und von der Wolfgang Rihm gerade wegkommen wollte. Einmal mehr hat sich hier ein Regisseur – gewiss guten Willens, in aller Ernsthaftigkeit, mit reicher Vorstellungskraft – überschätzt und als Deuter in den Vordergrund geschoben. Mit Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald in den Sprechrollen von Hamlet I und II sowie dem Bariton Scott Hendricks als Hamlet III standen ihm neben dem grossen Ensemble Darsteller zur Verfügung, die es vielleicht auch anders gekonnt hätten. Denn vielleicht käme das Stück zu mehr Eindringlichkeit, würde es szenisch ganz und gar abstrakt geboten.

Tage für Neue Musik Zürich

 

Peter Hagmann

Klarheit in der Vielfalt

Das Tonhalle-Orchester Zürich erstmals mit Sylvain Cambreling

 

Schreiben sie sich jetzt mit grossem oder mit kleinem «N», die Tage für Neue Musik Zürich? Einmal und meist mit grossem, ein anderes Mal mit kleinem – und das hat durchaus seinen Hintersinn. Erinnert das grosse «N» im Adjektiv doch an jene nun schon weit zurückliegende Zeit, da sich die Neue Musik mit aller Emphase als unerhört, als Beitrag zur Weiterentwicklung des Materials, somit im weitesten Sinn als Fortschritt verstand. Während das kleine «n», das heute und im Zeichen des «anything goes» üblich geworden ist, bescheidener auf irgendeine Art Gegenwärtigkeit verweist.

Beides gehört zu dem von der Stadt Zürich jeden Herbst durchgeführte – und grosszügig durchgeführte – Festival. Auf der einen Seite nämlich, so scheint es, nehmen die Tage für Neue Musik Zürich durchaus in Anspruch, zeigen zu wollen, dass die Tonkunst keineswegs so stehenbleibt, wie es das Abonnementskonzert suggeriert, dass sie sich vielmehr laufend und produktiv verändert. Auf der anderen möchte aber auch dieses Kurzfestival, und das ist legitim, reine Information bieten über das, was sich in der Szene tut.

Das Kuratorenmodell

Ihre Ziele verfolgen die Tage für Neue Musik Zürich in ausgesprochen persönlicher Weise. Jedes Festival im Bereich der Gegenwartsmusik wird von einer Handschrift geprägt, die sich in der Programmgestaltung verwirklicht. Die Donaueschinger Musiktage trugen lange Zeit die Signatur von Armin Köhler, der letztes Jahr viel zu früh einer Krebserkrankung erlegen ist, bei Wien Modern wirkte im Hintergrund der überaus kenntnisreiche und stilsichere Lothar Knessl und wird im nächsten Jahr der in Österreich lebende Schweizer Bernhard Günther das Zepter übernehmen, bei der Strassburger Musica bestimmt seit langem Jean-Dominique Marco den Kurs. In solcher Konstellation entwickelt sich die Handschrift über längere Zeiträume, sie verändert sich im besten Fall, im schlechteren versteinert sie.

Bei den Tagen für Neue Musik Zürich ist das grundsätzlich anders. 1986 von den beiden Komponisten Thomas Kessler und Gérard Zinsstag ins Leben gerufen und 1994 ins Dossier von René Karlen aus der Präsidialabteilung der Stadt Zürich übergeführt, trug das Festival lange den Stempel der Gründer. Seit einiger Zeit wird es nun aber von jährlich wechselnden Kuratoren geleitet. Das führt zu raschen Beleuchtungswechseln, zu erhöhter Agilität und letztlich vielleicht doch einer breiteren Wahrnehmung der Geschehnisse. Jeder Kurator hat seinen ganz persönlichen Blick, das bringt Einengung mit sich und zugleich, in der Abfolge der Kuratoren, Erweiterung.

Diesen Herbst war die Reihe an Bettina Skrypczak, der seit langem in der Schweiz lebenden Komponistin aus Polen. «Heureka!» überschrieb sie ihr vier Tage umfassendes Programm – als ob sie hätte anzeigen wollen, was die Neue oder die neue Musik ausmache. Fehlanzeige; gerade das Gegenteil war der Fall. Ihr Programm liess vielmehr aufscheinen, mit welcher Vielfalt der Erscheinungsformen der Begriff der «neuen Musik» heute verbunden ist. Die ehemalige Avantgarde von Karlheinz Stockhausens «Gesang der Jünglinge» kam ebenso zu Wort wie das Unterfangen des «Stone Orchestra», das den Klang von Natursteinen in die Szene einzubringen sucht.

Besonders packend verwirklichte sich der Ansatz der Kuratorin dieses Jahres in jenem Konzert, mit dem sich das Tonhalle-Orchester Zürich an den Tagen für Neue Musik beteiligte. Programme, die so schlüssig gebaut sind und so anregend wirken, wie es an diesem Abend der Fall war, sind Raritäten, die man nicht hoch genug schätzen kann. Und die Selbstverständlichkeit, mit der hier Musik unserer Zeit als Ausdruck von Geschichte wie von Gegenwart dargebracht wurde, hatte etwas Bezwingendes. Zu verdanken war das dem Dirigenten Sylvain Cambreling, einem Interpreten, der im Spezialgebiet der neuen Musik genauso profiliert wirkt wie im Bereich des klassisch-romantischen Repertoires. Und der hier zum ersten, aber hoffentlich nicht letzten Mal ans Pult des Zürcher Orchesters trat.

Freiheit und Kontrolle

Zwei Stücke in der Besetzung des Tripelkonzerts bildeten sozusagen einen langen ersten Teil des Abends; und zwei Werke, in denen das Erklingende nicht ausschliesslich auf schriftlicher Fixierung basiert, die Klammer. In dieses dramaturgisch konzis gebaute Programm mischten sich Töne denkbar unterschiedlichster Herkunft. Eröffnet wurde der Abend durch die Uraufführung von «No Alarming Interstice» des Genfers Jacques Demierre – wobei das schon eine halbe Fehlinformation darstellt. Demierre ist Pianist und wirkt zusammen mit dem Luzerner Saxophonisten Urs Leimgruber und dem aus San Francisco stammenden Kontrabassisten Barre Phillips in einem Trio, das seine Musik aus der Improvisation heraus entwickelt. Und das sich hier mit einem Klangkörper zusammengetan hat, der mit notierter Musik zu arbeiten gewohnt ist. Was das im Einzelnen bedeutet, war im Zuhören nicht direkt zu fassen. Das Stück, im Rahmen des Projekts «œuvres suisses» entstanden, wartete mit einer Fülle an disparaten Entwicklungen auf, an denen das Orchester auch mit Geräuschklängen  Anteil nahm. Im Endergebnis präsentierte sich da eine rüde, aufgeladene Klangwelt, wie sie in gewissen Sektoren der neuen Musik zum guten Ton gehört.

Welchen Gegensatz bot da Wolfgang Rihm mit seinem 2014 in Berlin uraufgeführten, vom Tonhalle-Orchester mitbestellten «Trio Concerto» für Klaviertrio und Orchester, also die von Beethoven her bekannte Tripelkonzert-Besetzung. Rihm hat alle Zwänge der avantgardistischen Masken hinter sich gelassen; er komponiert, wozu er Lust hat und was ihm einfällt – aber jenseits jeder Beliebigkeit: kreatürlich und zugleich bewusst entwickelnd. In seinem Tripelkonzert geht er diesbezüglich besonders weit. Das Trio Jean Paul mit Ulf Schneider (Violine), Martin Löhr (Violoncello) und Eckart Heiligers (Klavier) sowie das Tonhalle-Orchester Zürich verbreiteten ein hohes Mass an Sinnlichkeit: in Kantilenen, innerhalb deren dichte Bezüge hörbar werden – etwa dort, wo Gesten vom einen Instrument ans andere weitergegeben und dann verwandelt werden. Vor tonalem Wohlklang schreckt der Komponist keineswegs zurück, ja er spricht sogar offen von seiner Liebe zur Musik Gabriel Faurés. Die neue Musik nicht als Unerhörtes, sondern als Teil, Fortsetzung und Erweiterung des Gewesenen.

Ähnlich hat der grosse, leider viel zu selten gespielte Pole Witold Lutoslawski gedacht: streng in seinen handwerklichen Kriterien, frei in seinen Vorstellungen von Klangentwicklung. In «Livre pour orchestre» von 1968 setzt er ein wenig nach der Art eines Rondos den kontrollierten Zufall ein. Zwischen vier Hauptteile schieben sich Intermedien, bei denen sich die Orchestermitglieder im Rahmen gewisser Vorgaben nach eigenem Gutdünken entfalten können. Dem Tonhalle-Orchester Zürich hat das einen ungeheuren Energieschub verliehen; präsent, lustvoll und mit Verve nahmen sich die Musikerinnen und Musiker des Stücks an und brachten es unter der so präzisen wie motivierenden Leitung von Sylvain Cambreling zu einer eine absolut bezwingenden – mehr noch: zu einer restlos begeisternden Deutung. Ob das nun Neue oder neue Musik sei oder vielleicht gar nichts von beidem, durfte da getrost offen bleiben.