«Guillaume Tell» von Rossini in St. Gallen
Von Peter Hagmann
Gerade häufig erscheint «Guillaume Tell» nicht auf der Bühne. Die letzte Oper Gioachino Rossinis leidet, so wird rapportiert, an zwei bis drei Nachteilen. Zum einen soll sie in vollständiger Version rund sechs Stunden dauern, sehr lang also, länger noch als die Hauptteile von Wagners «Ring». So muss denn eine gekürzte Fassung erstellt werden, was manche Erleichterung schafft, was ausserdem insofern Legitimität geniesst, als der Komponist selbst bei der von ihm dirigierten Pariser Uraufführung von 1829 zum Rotstift gegriffen hat. Zum anderen aber ist «Guillaume Tell» nicht eben einfach zu besetzen. Die zentrale Partie des Arnold von Melchtal liegt extrem hoch, um sie rankt sich die Legende vom «do di petto», dem viergestrichenen c (in Ausnahmefällen sogar dem viergestrichenen cis), das von dem französischen Tenor Gillbert Duprez kurze Zeit nach der Uraufführung von «Guillaume Tell» zum ersten Mal ohne Wechsel in die Kopfstimme, sondern in der Bruststimme gesungen wurde – was seither üblich, in der Realisierung aber nicht einfacher geworden ist. Vor allem fordert «Guillaume Tell» die Opernhäuser jedoch durch die Massenszenen der Grand Opéra mit ihren Chören, Balletten, Tableaus und Kostümfesten, mithin enormem Aufwand.
Nun erscheint «Guillaume Tell» wieder einmal auf der Bühne: im Theater St. Gallen, einem Mehrspartenhaus, das für ein solches Unternehmen nicht eben prädestiniert erscheint. Möglich geworden ist das Projekt, weil in St. Gallen auf die raumgreifende Geste der Grand Opéra weitgehend verzichtet und weil kräftig gekürzt worden ist. Die Aufführungsdauer beläuft sich noch auf knapp dreieinhalb Stunden, eine Pause eingeschlossen. Und szenischer Effekt ist reduziert, «Guillaume Tell» ist von der Ausschmückung weitgehend befreit, vielmehr auf die reine Geschichte zurückgeführt, und das ist spannend genug – zumal der gedankliche Weg von den Ur-Schweizern, die sich mit individuellem Mut gegen die Besatzung durch die Habsburger zu wehren wussten, hin zu einem wehrhaften Volk dieser Tage nicht eben weit ist.
In der Inszenierung von Julien Chavaz, dem Bühnenbild Jamie Vartan und den Kostümen von Severine Besson bleibt der in hellem Beige gehaltene Bühnenraum leer. Für Bewegung sorgen mobile Wände und Neonschienen, die hier Blitze, dort Häuser andeuten, ausserdem der erweiterte, von Filip Paluchowski seriös vorbereitete Chor des Theaters St. Gallen und die von Nicole Morel erdachte Choreographie. Dass die Ouvertüre, ein fulminantes Konzertstück, das vom Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung des Gastdirigenten Michael Balke fabulös gemeistert wird, von vier Tänzerinnen bereichert wird, wirkt allerdings reichlich altbacken; Rossinis Musik ist doch so packend, dass man sie sich sehr gerne einfach nur anhört – in der St. Galler musikalischen Auslegung, die von zündenden Rhythmen und heller Farbigkeit lebt, gilt das erst recht. Und die vier von den Tänzerinnen dargestellten Schafe, die in entscheidenden Momenten die Bühne queren, bringen etwas von jenem Postkarten-Kitsch ein, der sich bei diesem Stoff vielleicht doch nicht vermeiden lässt.
Ganz so abwegig ist der Einsatz der süssen Tiere jedoch nicht. Julien Chavaz sieht das Schweizervolk als eine Versammlung von Menschen, die in direkter, ungebrochener Verbindung mit der Natur leben – in einer Naivität, die, wenn sie von aussen gestört wird, ungeheure Kraft entwickeln kann. Dieser Kraft begegnen die ganz in Rot gewandeten Bösewichte Gessler (der sonore Hüne Kristián Jóhannesson) und sein Assistent Rudolf (Christopher Sokolowski) mit seinen Mannen. Ihnen gegenüber steht der von einem genuinen Selbstbehauptungswillen geprägte, im Moment des Apfelschusses aber auch seine verletzliche Seite zeigende Tell – Theodore Platt verkörpert seine Partie überaus eindrucksvoll. An seiner Seite steht zum Beispiel, und nun kommt die Rede auf das «do di petto», der junge Arnold von Melchtal, der mit seinem hellen, zugleich körperreichen Tenor die Höhen mühelos meistert, auch seine Not und die Befreiung daraus glaubwürdig darstellt. Die Not heisst Mathilde. Sie ist eine Prinzessin aus dem Hause Habsburg, die Gessler in die Schranken weist und schliesslich unter Verzicht auf ihren sozialen Status zu den Schweizern überläuft – Athanasia Zöhrer schafft da, auch mit ihrer Sicherheit in den Koloraturen, ein prachtvolles Rollenporträt. Lustig zudem Tells Sohn, der bei Rossini Jemmy heisst; Kali Hardwick gibt diese Hosenrolle vital und brillant. Nicht zuletzt bleibt anzumerken, dass die Diktion – Rossinis Oper wird in der französischsprachigen Originalfassung geboten – nichts zu wünschen übrig lässt.
Die dreieinhalb Stunden sind jedenfalls im Nu vorüber.