Bruckner gestern und heute

Das Tonhalle-Orchester Zürich eröffnet seine neue Saison

 

Von Peter Hagmann

 

Warum nur? Warum nur so laut – auch in der neunten Sinfonie Anton Bruckners, mit der das Tonhalle-Orchester Zürich seine neue Saison eröffnet hat? Die dynamischen Spitzen überstiegen die akustische Kapazität der Grossen Tonhalle am See; auch in der allerhintersten Reihe des Saals, wo sich gross besetzte Stücke besonders gut verfolgen lassen, begann wohl nicht nur beim Berichterstatter das Gehör zu leiden. Und mehr noch: Es war das Werk selbst, das unter der vom Dirigenten Paavo Järvi verordneten Lautstärke Einbussen erlitt. Ein einziges Beispiel dazu. Der dritte und letzte Satz der unvollendeten Neunten Bruckners steht im Zeichen eines mächtigen Akkords, der sich drei Schritten, der Dreieinigkeit gemäss, auf eine Kulmination von unglaublicher Dissonanz hin zubewegt. In diesem Moment, so immer wieder der Eindruck, scheint sich der Himmel zu öffnen und scheint der Komponist verzweifelt nach seinem Schöpfer zu rufen – nach jenem Gott, dem er seine Neunte gewidmet hat. Die Wissenschaft lehnt diese Deutung ab. Doch wer bedenkt, in wie vielen Kirchen, und vor allem barock ausgemalten Kirchen, Bruckner an den Orgelspieltischen sass, von welch genuiner Gläubigkeit der Komponist war und wie ausgeprägt seine Todesahnungen in den letzten Lebensjahren waren, der wird sich einem Verständnis der Kulmination als Blick in die Unendlichkeit des offenen Himmels nicht verschliessen.

Die drei Akkorde bilden das Zentrum der Sinfonie. In der Aufführung durch das Tonhalle-Orchester und seinen Chefdirigenten wurden sie ihrer Lautstärke wegen zum Problem. Zum einen gab es keine Steigerung vom ersten zum dritten der drei Akkorde. Die Akkorde waren nur laut, und alle gleich laut; schon beim ersten war das Pulver verschossen. So standen sie als grobe Blöcke nebeneinander – als ob sie der Organist Bruckner an seinem vergleichsweise starren Instrument gespielt hätte. Zum anderen liessen sie keine harmonisch klare Struktur erkennen; sie wirkten als Tonhaufen, ohne Richtung, ohne Gewichtung. Dem künstlerischen Niveau, welches das Tonhalle-Orchester für sich in Anspruch nimmt, entspricht das in keiner Weise. Ein Forte-Fortissimo, das keine Rücksicht auf die akustischen Bedingungen nimmt, verletzt die Grundlagen des musikalischen Tuns – genau gleich wie ein Akkord, der, weil die Blechbläser in ihrer gleissenden Schärfe alles andere zum Erliegen bringen, durch den Zuhörer nicht verstanden werden kann. Dazu kommt, dass die Vorstellung von Bruckners Musik als einer parataktischen, ja erratischen Kunst überholt ist. So hat man nach dem Zweiten Weltkrieg und bis tief ins 20. Jahrhundert hin gedacht. Inzwischen war eine Generation an Dirigenten am Werk, die bei Bruckner ganz andere Seiten entdeckt hat: das Geschmeidige, das Samtene, das Bewegliche, das Organische, das Wachsen.

Im Bruckner-Bild Paavo Järvis findet sich dafür wenig Platz. Dass das ohne Bedacht, ohne Reflexion so eingerichtet wäre, wage ich nicht anzunehmen. Eher vermute ich eine Absicht dahinter. Auf den beiden Compact Discs mit Bruckners Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, die Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester Zürich beim Label Alpha vorgelegt hat, kann von Problemen mit der Lautstärke keine Rede sein. Das erstaunt nicht. Überschiessendes kann am Mischpult jederzeit und problemlos reguliert werden, den Streichern und den Holzbläsern kann etwas mehr, den Blechbläser etwas weniger Kraft gegeben werden. Zu hören sind auf den Aufnahmen aber auch, und vor allem, die speziellen Farben, welche die Hörner, namentlich jedoch das schwere Blech mit den Trompeten und Posaunen in den Momenten zugespitzter Kraftentfaltung einbringen – das hat seinen eigenen Reiz. Um diese Effekte zu erzielen, kann Järvi allerdings nicht anders, als im Konzert – die Einspielungen werden «live» aufgenommen – auf volle Kraft zu setzen. Die schwer erträgliche Lautstärke also im Interesse der Aufnahme, aber leider auf Kosten der Zuhörer im Saal?

Jenseits dessen zeigt sich das Tonhalle-Orchester Zürich in Bruckners Neunter, wie sie Paavo Järvi versteht, und das gilt mutatis mutandis auch für die Auslegungen der Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8, als ein Klangkörper von beachtlich gewachsener Qualität. Der traditionsgemäss grundtönig ausgerichtete Klang ist uneingeschränkt lebendig, er wird getragen von Homogenität, Volumen und Wärme. Dazu gekommen ist eine Reaktionsfähigkeit, die auf das solide Einvernehmen zwischen dem Orchester und seinem Musikdirektor schliessen lässt. Gemäss deutscher Tradition links und rechts vom Dirigenten aufgestellt, finden die beiden Geigengruppen zu lebendigem Dialog – die Zweiten übrigens auf Augenhöhe mit den Ersten Geigen. Die Holzbläser fügen prononcierte Farben in den Gesamtklang ein, sie erhalten allerdings nicht immer ausreichend Raum. Prachtvoll wie stets die vier Hörner und die vier Wagner-Tuben, zu denen sich eine auffallend flexible Solo-Tuba gesellt. Keine Wünsche offen lassen auch Trompeten und Posaunen, nur müssten sie, wie vermerkt, besser im Zaum gehalten sein. Dazu kommt eine ausgeprägte Sorgfalt in der Gliederung der langen Sätze. Die Grundlagen sind gegeben, es scheint auch entschieden an ihnen gearbeitet worden zu sein. Entschiedener jedenfalls als an der Schärfung des interpretatorischen Profils; diesbezüglich war in den vergangenen Wochen beim Lucerne Festival zu hören, wie hoch die Latte liegen kann.

Bei Kian Soltani, diese Saison im Fokus des Tonhalle-Orchesters, sind solche Anmerkungen obsolet. Äusserst persönlich ging er im ersten Teil des Abends das Cellokonzert Robert Schumanns an: mit einem berückend singenden Ton und einer Freiheit in der Tempogestaltung, die nicht nur die Phrasen zeigte, sondern auch enormes Ausdruckspotential freisetzte. Mag sein, dass er da und dort eine Spur zu weit ging; der langsame Mittelsatz geriet bisweilen hart an der Grenze zum Kitschigen. Aber besser zu viel des Guten als korrekt und ein wenig langweilig.

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-dur. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 932 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2022).
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c-moll. Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha 872 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).

Explizit – und schön

Ein Abend mit den Festival Strings Luzern

 

Von Peter Hagmann

 

Live ist in jedem Fall besser als aus dem Lautsprecher, aus dem Kopfhörer, jedem technischen Fortschritt zum Trotz. Hochauflösender Grossbildschirm, Dolby-Atmos, Lautsprecher mit fünfstelligen Kaufpreisen – alles in Ehren. Am Ende geht doch nichts über den Klang, der direkt vom Podium aus ins Ohr dringt, der sich aber auch mit optischen Informationen verbindet. Dies niedergeschrieben von einem eifrigen Konsumenten aufgezeichneter Musik, jedoch erneut gedacht in einem Konzert der Festival Strings Luzern. Die unerhört untereinander verschworenen, von ihrem feurigen Konzertmeister Daniel Dodds geleiteten, zugleich autonom und in enger Abstimmung miteinander wirkenden Musikerinnen und Musiker sorgten im gut besuchten KKL Luzern für ein Hörerlebnis der Extraklasse. Und für eine grandiose Überraschung – eine Überraschung darum, weil die Festival Strings in ihrem engeren Umfeld, aus welchen Gründen auch immer, nicht über das Image verfügen, das ihrer künstlerischen Erscheinung entspräche.

Aber da wäre etwa die CD mit Wolfgang Amadeus Mozarts «Haffner-Serenade» in D-dur KV 250 samt dem ihr zugehörigen, vorangehenden Marsch in der gleichen Tonart. Eine Freiluft-Musik in der Art damals gültiger Tradition, aber mit Einfall und Witz komponiert. Und genau das Richtige für die 1956 von Wolfgang Schneiderhan und Rudolf Baumgartner in Luzern gegründete Formation, die freilich längst über die damals gepflegte Einrichtung als reines Streichorchester hinausgewachsen, vielmehr zu einem Klangkörper in voller Besetzung geworden ist. Allerdings: Mit rund zwei Dutzend Streichern gegenüber den doppelt geführten, solistisch eingesetzten Bläsern nimmt der Klang eine andere Färbung an als im philharmonischen Bereich. Leicht und hell wirkt er. Den Marsch wie das zweiteilige Allegro der Eröffnung nehmen die Festival Strings pointiert im Rhythmus und getragen von elegant federnden Kontrabässen. Ausgezeichnet getroffen das Tempo im Andante des zweiten Satzes, nur herrscht hier doch wohl zu viel Vibrato: Süsses schiebt sich in den Vordergrund – vielleicht hatte sich der leitende Konzertmeister Daniel Dodd vorgenommen, die «Seillières»-Stradivari von 1680, die Wolfgang Schneiderhan seinerzeit gespielt hat und die jetzt dank einem mäzenatischen Akt von privater Seite den Festival Strings gehört, besonders herauszuheben. Berührend das Menuett in moll, witzig das Rondo, dessen verspieltes Geigensolo Dodd blendend meistert.

Gut gelungen ist das, doch das wirkliche Gesicht der Festival Strings von heute liess sich erst im letzten Luzerner Abonnementskonzert des Ensembles erkennen. Nach einer zuverlässigen Wiedergabe der vier Noveletten in F-dur von Niels Wilhelm Gade, einem hierzulande kaum beachteten Zeitgenossen von Mendelssohn und Schumann, gab es von Letzterem das Cellokonzert in a-moll op. 129 mit seinen drei ineinander übergehenden Sätzen. Auf einem kleinen Podest im Zentrum sass Kian Soltani, der junge, Vorarlberger Cellist mit persischen Wurzeln – ein enorm aufstrebender Musiker, der in der kommenden Saison beim Tonhalle-Orchester Zürich in Residenz sein wird. Er nahm seinen Part mit einer Schönheit des Tons, einer Natürlichkeit des Singens und einer Musikalität in der Gestaltung, die unmittelbar in den Bann schlugen. Geradezu sensationell wirkte jedoch die Begleitung durch die Festival Strings, denen Daniel Dodd vom Sitzplatz des Konzertmeisters aus hie und da ein Handzeichen gab, im übrigen aber ungeheuer entschieden voranging. Das war von derart animierender Kraft, dass die Orchestermitglieder als ein restlos geschlossenes, kammermusikalisch aufgewecktes Ensemble erschienen und dem Solisten in einer Vertrautheit und einer Intensität zur Seite standen, als wären sie Partner seit Jahren.

Noch einen Schritt weiter gingen die Festival Strings Luzern in Felix Mendelssohn Bartholdys Sinfonie Nr. 3 in a-moll, der Schottischen. Der federleichte Klang, der mit Mendelssohns Musik verbunden ist, die Helligkeit, die Durchhörbarkeit, die zugespitzten Zeitmasse, all das gelang wie von selbst. Gleichzeitig strahlte das Ensemble eine Körperlichkeit sondergleichen aus. Jede Musikerin, jeder Musiker spielte nicht nur mit letztem Einsatz, sondern gestaltete auch mit höchstem Engagement – bis hin zum Saitenriss, den der Stimmführer der Zweiten Geigen zu erleiden hatte und den er mit Hilfe seiner Nebensitzerin mühelos bewältigte. Und dann dieser Schwung, dieses gemeinsame Atmen. Dazu der Umgang mit Attacke, Artikulation, Vibrato – alles vom Feinsten ausgearbeitet. Kristallklar trat die Musik Mendelssohns auf den Plan, superb ausgearbeitet im Strukturellen und im selben Moment versehen mit hinreissender sinnlicher Ausstrahlung. Der Schritt hin zu Darmsaiten wäre möglicherweise nur ein kleiner.

Wolfgang Amadeus Mozart: «Haffner». Serenade Nr. 7 in D-dur KV 250, Marsch in D-dur KV 249. Festival Strings Luzern, Daniel Dodds. Sony 19658725062 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).