Der dritte Weg

Abschluss von Wagners «Ring des Nibelungen» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Camilla Nylund) und Hagen (David Leigh) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

«Vollendet das ewige Werk» – so verkündet es Wotan zu Beginn der zweiten Szene von «Rheingold», dem Vorspiel zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Geschätzte fünfzehn Stunden später, am Ende der «Götterdämmerung», liegt alles in Schutt und Asche. Da sitzt er nun wieder träumend in seinem Sessel, den Schlapphut auf dem Kopf und den noch (oder wieder) heilen Speer in der rechten Hand. Der mächtige Bilderrahmen vom Beginn, der den Blick auf die von den Riesen erbaute Burg eingefasst hat, ist inzwischen leer. Wenig später füllt er sich wieder mit dem jetzt allerdings im Vollbrand stehenden Bau, Theaternebel von links und rechts wird hereingeblasen, orange flackerndes Licht dazugegeben, während die wie stets hervorragende technische Abteilung von Sebastian Bogatu sogar einen lichterloh brennenden Statisten über die Bühne eilen lässt.

Auch hier, wie beim Drachen und der Kröte, wie beim Baum Hundings und Brünnhildes Felsen in früheren Phasen des Geschehens, mochte der Regisseur Andreas Homoki nicht auf die von Wagner vorgegebenen und vom Publikum bis heute erwarten Effekte verzichten. Er hätte sich dadurch allzu sehr in die Nähe jener auf Reduktion und Abstraktion fokussierten Bühnenästhetik begeben, die von Wieland Wagner ab 1951 in Neu-Bayreuth als Markenzeichen gepflegt wurde und in der Folge weite Kreise zog – bis hin zur letzten Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring», jener von Robert Wilson aus den Jahren 2000 bis 2002, die genau diesen Ansatz verfolgt hat. Die leere Bühne war also ausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen war freilich, daran hat Homoki von Anfang an keinen Zweifel gelassen, ein Ansatz im Geist des Regietheaters, das sich seit dem zur Legende gewordenen «Jahrhundert-Ring» mit Patrice Chéreau (und Pierre Boulez am Dirigentenpult) zum hundertsten Geburtstag der Bayreuther Festspiele im Sommer 1976 der Tetralogie bemächtigt hat. Dort richtete sich der Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse, in deren Zeichen «Der Ring des Nibelungen» entstanden ist. Leicht liessen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart der Aufführung übertragen: der «Ring» als Plattform aktueller Gesellschaftskritik, Wotan mit dem Aktenkoffer als Chef der Walhalla AG. Durchkreuzt wurde diese eifrig benützte Schiene der Deutung von der sich auch auf der Bühne des Musiktheaters ausbreitenden Tendenz zur Dekonstruktion; sie führte in ein Chaos, die immer häufiger die Frage aufkommen liess, ob sich in Sachen «Ring des Nibelungen» nicht eine Aufführungspause aufdränge.

Von all dem liess sich Andreas Homoki nicht beirren. Stracks suchte er den Befreiungsschlag, ging auf Feld eins zurück – und gewann, wie jetzt auch die «Götterdämmerung» erwies. Zwar gab es einen Anklang an die Entstehungszeit der Tetralogie, hatte der Ausstatter Christian Schmidt die Drehbühne doch mit Wänden in gründerzeitlicher Anmutung versehen; geschickt eingerichtet sorgte sie auch im letzten der vier Teile für Geschmeidigkeit in der Abfolge der Spielorte, und die merklich abgeblätterten Farben zeigten an, dass hier eine Ära, jene der Lichtalben, ihr Ende zu finden im Begriff steht. Ebenfalls zu entdecken war ein Hinweis auf den leeren Raum von Neu-Bayreuth: in der Sparsamkeit der Ausstattung. Auch in der «Götterdämmerung» sind nur wenige, mächtige Requisiten im Einsatz, so dass reichlich Bewegungsfreiheit herrscht und sich sogar der ausgezeichnete, klangvoll wie linienklar wirkende Oprnchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) ohne Enge zurechtfindet. In seinen Auftritten wird übrigens manifest, wie an diesem weit ausholenden Theaterabend Bühnenleben entsteht. Die Chormitglieder sind allesamt als Individuen ausgestaltet, dies ganz im Geiste Walter Felsensteins, einem der Ahnen Homokis.

Hier, in einem sozusagen dritten Weg, liegt das Fundament der neuen Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring». Befreit von szenischem Ballast und interpretativem Überbau wird die Geschichte ganz und gar aus den Figuren heraus erzählt. Und das bis in die hintersten Winkel des Geschehens, wie etwa die kleine Partie der Gutrune erweist. Sehr pointiert gibt sie die Australierin Laren Fagan, die gewinnend singt und hervorragend deklamiert, als eine junge, naive, etwas verklemmte Frau, die von dem ihr weit überlegenen, jedoch durch einen Trank betäubten Siegfried erst geblendet wird, an ihm dann aber nach und nach Statur findet. Ganz ähnlich, wenn auch in der gegenteiligen Richtung, Gutrunes Bruder Gunther, der, Daniel Schmutzhard verkörpert das trefflich, als ein Weichei mit übersteigertem Selbstbewusstsein erscheint. Sie sind Marionetten, die beiden Gibichungen. Denn im Zentrum steht er: Hagen.

Alle anderen überragend, in einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem aber doch eine Nibelungen-golden verkleidete Brust hervorglänzt, mit zottigem Schwarzhaar versehen, bisweilen hämisch grinsend, erscheint er als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin. David Leigh bringt das blendend über die Rampe. Er kann auch auf eine nachtschwarze stimmliche Tiefe setzen, die keinerlei Schwäche kennt – nur die Deklamation, zumal die Formung der Vokale, die lässt doch sehr zu wünschen übrig. In seiner Rechten trägt er einen langen Speer, jenem Wotans nachgebildet, nur, was Wunder, mit schwarzem Schaft. Und in seiner Brusttasche findet sich für jeden Zweck das passende Fläschchen. Sein Ziel liegt blank auf der Hand, sein Vater Alberich (Christopher Purves) muss ihn nicht extra motivieren: Es ist die definitive Vernichtung jener ehemals herrschenden, nun noch durch Siegfried repräsentierten Schicht, die auf krummen Wegen in den Besitz des Wunder wirkenden Rings gekommen ist. Der Plan geht freilich nicht auf, am Ende wird Hagen durch die drei Rheintöchter kurzerhand aus dem Fenster in die Fluten des Rheins gestürzt.

Das alles wird in derart packender Weise vorgeführt, dass man sich als Zuschauer (und als Zuhörerin) restlos gebannt auf die Geschichte einlässt. Sich am Bühnenrand paarende Krokodile wie in Frank Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung von 2013 gibt es in Zürich nicht zu sehen, dafür den Entwurf einer Welt, der zwar hundertfünfzig Jahre alt ist, aber nicht wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Genährt wird die Verwirklichung dieses Entwurfs von einem Paar, das man sich genuiner nicht vorstellen kann. Mit ihrem kraftvollen Timbre und ihrer sagenhaften Bühnenpräsenz sorgt Camilla Nylund als Brünnhilde energisch für Ordnung. Ihrer Schwester Waltraute – Sarah Ferede meistert ihren Auftritt überragend – bietet sie standfest die Stirn, die schwarz gekleideten Mannen rund um Hagen weiss sie in ihrem blütenweissen Gewand jederzeit zu zähmen, ihren Kampf um die Wahrheit hält sie mit einer Unbeirrbarkeit sondergleichen aufrecht. Ihr gegenüber steht mit Klaus Florian Vogt ein Siegfried, der sich in dieser Produktion stimmlich wie darstellerisch grandios wandelt. In der «Walküre» als Kind und als Pubertierender eher lyrisch angelegt, nimmt er in der «Götterdämmerung», wo er seiner gewiss wird und es trotz der benebelnden Getränke Hagens bleibt, nach und nach heldisches Format an – als künstlerische Leistung ist das schlicht überwältigend.

Getragen, nein: klar mitgestaltet wird diese «Götterdämmerung», wie es in den Teilen zuvor war, vom Orchester, der Philharmonia Zürich, unter der Leitung von Gianandrea Noseda. Mit dem Einsatz des tiefen Blechs, das sich auch hier und hier erst recht, lautstark über alles hinwegsetzt, werde ich mich nie anfreunden können. Die einseitige Gewichtung stört die Balance, ja die musikalische Struktur – etwa dann, wenn das trötende Blech aus der Tiefe einen zarten Akkord der Holzbläser, mit dem ein Leitmotiv anhebt, verdeckt und zerstört. Nicht zu überhören ist jedoch, dass Noseda, der hiermit seinen ersten «Ring» hinter sich gebracht hat, sehr überzeugend in die Partitur hineingewachsen ist, viele Verästelungen hörbar macht und mit herrlichsten Farbwirkungen aufwartet. Zumal am Ende, da das Unheil, das vom Ring des Nibelungen ausging, im Rhein versunken ist und die nunmehr allein dastehenden weissen Wände an einen Neubeginn, vielleicht gar einen besseren, denken lassen. Das wär dann die Moral von der Geschicht.