Was ewig währt

Wagners «Götterdämmerung» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Walhall brennt, Wotan ist der Brandstifter / Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Manches lief und läuft eigenartig bei jener «Götterdämmerung», mit der die Basler Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» schliesst. Befremdlich schon die Ansetzung einer Vorstellung, der zweiten nach der Premiere, unter der Woche und mitten in den Ferien. Man mag Wagner lieben, aber die Möglichkeit, an einem Donnerstag um fünf im Theater zu sein, hat nicht jeder. Und dass die Herbstferien der Schulen die Auslastung drücken, ist bekannt. Das Basler Stadttheater war jedenfalls, so der Eindruck, knapp zur Hälfte besetzt, die Balkone wurden geschlossen, die Besucher von dort ins Parkett gebeten – ein trauriger Anblick. Dort, im Parkett, wurde freilich so enthusiastisch applaudiert, dass man sich in einem ausverkauften Haus wähnte.

Besonders seltsam nimmt sich der Eingriff in die Partitur aus, für den sich der Regisseur Benedikt von Peter entschieden hat. Nach dem Schluss des ersten Aufzugs gibt es eine kurze Pause, worauf das Vorspiel zum zweiten Aufzug einsetzt und ihm die erste Szene mit der Begegnung zwischen Alberich (Andrew Murphy) und seinem Sohn Hagen folgt. Bekanntlich verweigert sich der Junge dem Alten; Ruhe soll er geben, ruft Hagen dem Vater zu, der wiederum fordert vom Sohn unbedingte Gefolgschaft, dann versinkt die Musik ins Leise. In Basel wird die Stille dieses Moments durch das Kreischen einer Kettensäge zerstört, mit deren Hilfe sich zwei Arbeiter an den Bäumen im Einheitsbühnenbild Natascha von Steigers zu schaffen machen. Zugleich geht das Licht im Auditorium an, denn es folgt die erste, die grosse Pause.

Das ist Unsinn. Dass an dieser Stelle etwas Neues beginnt, nämlich die dramatische, um nicht zu sagen: opernhaft erzählte Geschichte von Siegfrieds Besuch bei den Gibichungen und dessen Folgen, liegt auf der Hand. Nur ist dieses neue Geschehen nahtlos verknüpft mit dem alten, gemäss dem Prinzip der Unendlichkeit, das sich Wagner auf die Fahne geschrieben hat. Die Nahtlosigkeit wird hier gebrochen von einem Regisseur, der nicht in der Lage oder nicht willens ist, der Musik zuzuhören. Einer ganz wesentlich vom Orchester getragenen Musik, die vom Sinfonieorchester Basel und dem genuinen Wagner-Dirigenten Jonathan Nott in denkbar packender Weise aus dem Keller unter der Bühne an die Oberfläche getragen wird (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.10.24). Von der Partitur aus gesehen geht der Eingriff in die Abfolge der Szenen vollkommen daneben; er steht für eine Vorstellung von Regietheater, die in ihrer Dominanz der szenischen gegenüber der musikalischen Interpretation als überholt gelten darf.

Dramaturgisch lässt er sich allerdings sehr wohl rechtfertigen. Denn mit der Fortsetzung im zweiten Aufzug gerät «Der Ring des Nibelungen» auf eine neue Ebene. Die Welt der Götter hat sich so gut wie ganz verabschiedet; allein Waltraute (die stimmgewaltige Jasmin Etezadzadeh), die ihre zur Menschenfrau gewordene Schwester Brünnhilde besucht und an ihr abprallt, lässt die im Untergang befindliche Gesellschaft der Lichtalben noch einmal präsent werden. Beherrscht wird die Szenerie inzwischen jedoch durch die Gibichungen, eine ziemlich gewöhnliche Familie, in welcher der tatendurstige Siegfried grausam in die Falle tappt. Und hier darf nun vom hohen vokalen Niveau der Basler «Ring»-Produktion die Rede sein. Von Heather Engebretson beispielsweise, die mit ihrer stimmlichen Wandelbarkeit und ihrer szenischen Präsenz die Partie der Gutrune entschieden aus der Ecke der Nebenrollen herausholt. Oder von Günter Papendell, der als Gunther den perfekten Mitläufer gibt, dabei von der Stimme her jedoch alles andere als ein Pappkamerad ist. Auch von Patrick Zielke, der als Hagen, von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag wie alle Gibichungen ganz in Weiss gekleidet, eine rabenschwarze Donnerstimme erklingen lässt. Ob Trine Møller wirklich die Richtige ist für die Riesenpartie der Brünnhilde, muss hier und jetzt dahingestellt bleiben; ihre Sonorität wirkt äusserst gepflegt, doch die dramatische Zuspitzung und die Schärfung des Profils gelingen noch nicht wirklich. Überragend dagegen Rolf Romei als Siegfried, stimmlich ohnehin, aber auch darstellerisch auf seinem Weg, auf dem er nicht weiss, wie ihm geschieht. Sogar reiten kann er: auf dem Ross Grane, das als gutmütiger echter Schimmel mit von der Partie ist. Viel kann auch der Chor, zumal der Männerchor, des Theater Basel; seine Einstudierung lag in den Händen von Michael Clark.

Der dritte Aufzug der Basler «Götterdämmerung» wartet mit einigen Überraschungen auf. Dass zu Beginn die drei Rheintöchter – Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl, die auf Stangen von Helfern getragen und bewegt werden –, dass die drei Rheintöchter aufgeregt schwänzelnd über die Bühne jagen, bildet einen ärgerlichen Gegensatz zu ihrer fliessenden Musik. Sie sind vielleicht aufgeregt, weil sie wissen, dass sie den Ring nicht zurückbekommen werden – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ja gleichzeitig präsent in der Inszenierung Benedikt von Peters. Tatsächlich gelangt der Ring am Ende nicht zu ihnen, vielmehr ist es der inzwischen stumm die Vorgänge steuernde Wotan (Nathan Berg), der ihn nach erneutem Gerangel mit Alberich an sich nimmt – soll dieses Ende als Wiederkehr des Beginns verstanden werden?

Zum Schluss – und der geht voll zu Lasten der grandiosen Musik Wagners, die von Jonathan Nott und dem versenkten Orchester empathisch ausgeformt wird – stellt Wotan als die Zentralfigur ein Modell der linkerhand ragenden Burg Walhall auf den Tisch, um es alsbald eigenhändig in Brand zu setzen. Und kommt es zum grossen Stechen: wird Siegfried mehrmals durchstochen und gibt sich schliesslich selbst den Rest, beseitigt Hagen seinen Halbbruder Gunther, befördert Alberich seinen zu wenig treuen Sohn Hagen ins Jenseits. Das radikale Ende einer weit ausholenden Familiengeschichte, wie es Brünnhilde als Marionette ihres Vaters Wotan hat herbeiwünschen müssen. Ist es verfehlt, für einen Augenblick an Thomas Mann zu denken? Nicht an die erotisch aufgeladene Erzählung «Wälsungenblut», wohl aber an die «Buddenbrocks»?

Der dritte Weg

Abschluss von Wagners «Ring des Nibelungen» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Camilla Nylund) und Hagen (David Leigh) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

«Vollendet das ewige Werk» – so verkündet es Wotan zu Beginn der zweiten Szene von «Rheingold», dem Vorspiel zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Geschätzte fünfzehn Stunden später, am Ende der «Götterdämmerung», liegt alles in Schutt und Asche. Da sitzt er nun wieder träumend in seinem Sessel, den Schlapphut auf dem Kopf und den noch (oder wieder) heilen Speer in der rechten Hand. Der mächtige Bilderrahmen vom Beginn, der den Blick auf die von den Riesen erbaute Burg eingefasst hat, ist inzwischen leer. Wenig später füllt er sich wieder mit dem jetzt allerdings im Vollbrand stehenden Bau, Theaternebel von links und rechts wird hereingeblasen, orange flackerndes Licht dazugegeben, während die wie stets hervorragende technische Abteilung von Sebastian Bogatu sogar einen lichterloh brennenden Statisten über die Bühne eilen lässt.

Auch hier, wie beim Drachen und der Kröte, wie beim Baum Hundings und Brünnhildes Felsen in früheren Phasen des Geschehens, mochte der Regisseur Andreas Homoki nicht auf die von Wagner vorgegebenen und vom Publikum bis heute erwarten Effekte verzichten. Er hätte sich dadurch allzu sehr in die Nähe jener auf Reduktion und Abstraktion fokussierten Bühnenästhetik begeben, die von Wieland Wagner ab 1951 in Neu-Bayreuth als Markenzeichen gepflegt wurde und in der Folge weite Kreise zog – bis hin zur letzten Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring», jener von Robert Wilson aus den Jahren 2000 bis 2002, die genau diesen Ansatz verfolgt hat. Die leere Bühne war also ausgeschlossen.

Ebenso ausgeschlossen war freilich, daran hat Homoki von Anfang an keinen Zweifel gelassen, ein Ansatz im Geist des Regietheaters, das sich seit dem zur Legende gewordenen «Jahrhundert-Ring» mit Patrice Chéreau (und Pierre Boulez am Dirigentenpult) zum hundertsten Geburtstag der Bayreuther Festspiele im Sommer 1976 der Tetralogie bemächtigt hat. Dort richtete sich der Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse, in deren Zeichen «Der Ring des Nibelungen» entstanden ist. Leicht liessen sich die hieraus gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart der Aufführung übertragen: der «Ring» als Plattform aktueller Gesellschaftskritik, Wotan mit dem Aktenkoffer als Chef der Walhalla AG. Durchkreuzt wurde diese eifrig benützte Schiene der Deutung von der sich auch auf der Bühne des Musiktheaters ausbreitenden Tendenz zur Dekonstruktion; sie führte in ein Chaos, die immer häufiger die Frage aufkommen liess, ob sich in Sachen «Ring des Nibelungen» nicht eine Aufführungspause aufdränge.

Von all dem liess sich Andreas Homoki nicht beirren. Stracks suchte er den Befreiungsschlag, ging auf Feld eins zurück – und gewann, wie jetzt auch die «Götterdämmerung» erwies. Zwar gab es einen Anklang an die Entstehungszeit der Tetralogie, hatte der Ausstatter Christian Schmidt die Drehbühne doch mit Wänden in gründerzeitlicher Anmutung versehen; geschickt eingerichtet sorgte sie auch im letzten der vier Teile für Geschmeidigkeit in der Abfolge der Spielorte, und die merklich abgeblätterten Farben zeigten an, dass hier eine Ära, jene der Lichtalben, ihr Ende zu finden im Begriff steht. Ebenfalls zu entdecken war ein Hinweis auf den leeren Raum von Neu-Bayreuth: in der Sparsamkeit der Ausstattung. Auch in der «Götterdämmerung» sind nur wenige, mächtige Requisiten im Einsatz, so dass reichlich Bewegungsfreiheit herrscht und sich sogar der ausgezeichnete, klangvoll wie linienklar wirkende Oprnchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) ohne Enge zurechtfindet. In seinen Auftritten wird übrigens manifest, wie an diesem weit ausholenden Theaterabend Bühnenleben entsteht. Die Chormitglieder sind allesamt als Individuen ausgestaltet, dies ganz im Geiste Walter Felsensteins, einem der Ahnen Homokis.

Hier, in einem sozusagen dritten Weg, liegt das Fundament der neuen Zürcher Inszenierung von Wagners «Ring». Befreit von szenischem Ballast und interpretativem Überbau wird die Geschichte ganz und gar aus den Figuren heraus erzählt. Und das bis in die hintersten Winkel des Geschehens, wie etwa die kleine Partie der Gutrune erweist. Sehr pointiert gibt sie die Australierin Laren Fagan, die gewinnend singt und hervorragend deklamiert, als eine junge, naive, etwas verklemmte Frau, die von dem ihr weit überlegenen, jedoch durch einen Trank betäubten Siegfried erst geblendet wird, an ihm dann aber nach und nach Statur findet. Ganz ähnlich, wenn auch in der gegenteiligen Richtung, Gutrunes Bruder Gunther, der, Daniel Schmutzhard verkörpert das trefflich, als ein Weichei mit übersteigertem Selbstbewusstsein erscheint. Sie sind Marionetten, die beiden Gibichungen. Denn im Zentrum steht er: Hagen.

Alle anderen überragend, in einen bodenlangen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem aber doch eine Nibelungen-golden verkleidete Brust hervorglänzt, mit zottigem Schwarzhaar versehen, bisweilen hämisch grinsend, erscheint er als der Böse, wenn nicht das Böse schlechthin. David Leigh bringt das blendend über die Rampe. Er kann auch auf eine nachtschwarze stimmliche Tiefe setzen, die keinerlei Schwäche kennt – nur die Deklamation, zumal die Formung der Vokale, die lässt doch sehr zu wünschen übrig. In seiner Rechten trägt er einen langen Speer, jenem Wotans nachgebildet, nur, was Wunder, mit schwarzem Schaft. Und in seiner Brusttasche findet sich für jeden Zweck das passende Fläschchen. Sein Ziel liegt blank auf der Hand, sein Vater Alberich (Christopher Purves) muss ihn nicht extra motivieren: Es ist die definitive Vernichtung jener ehemals herrschenden, nun noch durch Siegfried repräsentierten Schicht, die auf krummen Wegen in den Besitz des Wunder wirkenden Rings gekommen ist. Der Plan geht freilich nicht auf, am Ende wird Hagen durch die drei Rheintöchter kurzerhand aus dem Fenster in die Fluten des Rheins gestürzt.

Das alles wird in derart packender Weise vorgeführt, dass man sich als Zuschauer (und als Zuhörerin) restlos gebannt auf die Geschichte einlässt. Sich am Bühnenrand paarende Krokodile wie in Frank Castorfs Bayreuther «Ring»-Inszenierung von 2013 gibt es in Zürich nicht zu sehen, dafür den Entwurf einer Welt, der zwar hundertfünfzig Jahre alt ist, aber nicht wenig mit dem Hier und Jetzt zu tun hat. Genährt wird die Verwirklichung dieses Entwurfs von einem Paar, das man sich genuiner nicht vorstellen kann. Mit ihrem kraftvollen Timbre und ihrer sagenhaften Bühnenpräsenz sorgt Camilla Nylund als Brünnhilde energisch für Ordnung. Ihrer Schwester Waltraute – Sarah Ferede meistert ihren Auftritt überragend – bietet sie standfest die Stirn, die schwarz gekleideten Mannen rund um Hagen weiss sie in ihrem blütenweissen Gewand jederzeit zu zähmen, ihren Kampf um die Wahrheit hält sie mit einer Unbeirrbarkeit sondergleichen aufrecht. Ihr gegenüber steht mit Klaus Florian Vogt ein Siegfried, der sich in dieser Produktion stimmlich wie darstellerisch grandios wandelt. In der «Walküre» als Kind und als Pubertierender eher lyrisch angelegt, nimmt er in der «Götterdämmerung», wo er seiner gewiss wird und es trotz der benebelnden Getränke Hagens bleibt, nach und nach heldisches Format an – als künstlerische Leistung ist das schlicht überwältigend.

Getragen, nein: klar mitgestaltet wird diese «Götterdämmerung», wie es in den Teilen zuvor war, vom Orchester, der Philharmonia Zürich, unter der Leitung von Gianandrea Noseda. Mit dem Einsatz des tiefen Blechs, das sich auch hier und hier erst recht, lautstark über alles hinwegsetzt, werde ich mich nie anfreunden können. Die einseitige Gewichtung stört die Balance, ja die musikalische Struktur – etwa dann, wenn das trötende Blech aus der Tiefe einen zarten Akkord der Holzbläser, mit dem ein Leitmotiv anhebt, verdeckt und zerstört. Nicht zu überhören ist jedoch, dass Noseda, der hiermit seinen ersten «Ring» hinter sich gebracht hat, sehr überzeugend in die Partitur hineingewachsen ist, viele Verästelungen hörbar macht und mit herrlichsten Farbwirkungen aufwartet. Zumal am Ende, da das Unheil, das vom Ring des Nibelungen ausging, im Rhein versunken ist und die nunmehr allein dastehenden weissen Wände an einen Neubeginn, vielleicht gar einen besseren, denken lassen. Das wär dann die Moral von der Geschicht.