Von der Kraft des Widerstands

«Guillaume Tell» von Rossini in St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Guillaume Tell in Aktion / Bild Edyta Dufaj, Theater St. Gallen

Gerade häufig erscheint «Guillaume Tell» nicht auf der Bühne. Die letzte Oper Gioachino Rossinis leidet, so wird rapportiert, an zwei bis drei Nachteilen. Zum einen soll sie in vollständiger Version rund sechs Stunden dauern, sehr lang also, länger noch als die Hauptteile von Wagners «Ring». So muss denn eine gekürzte Fassung erstellt werden, was manche Erleichterung schafft, was ausserdem insofern Legitimität geniesst, als der Komponist selbst bei der von ihm dirigierten Pariser Uraufführung von 1829 zum Rotstift gegriffen hat. Zum anderen aber ist «Guillaume Tell» nicht eben einfach zu besetzen. Die zentrale Partie des Arnold von Melchtal liegt extrem hoch, um sie rankt sich die Legende vom «do di petto», dem viergestrichenen c (in Ausnahmefällen sogar dem viergestrichenen cis), das von dem französischen Tenor Gillbert Duprez kurze Zeit nach der Uraufführung von «Guillaume Tell» zum ersten Mal ohne Wechsel in die Kopfstimme, sondern in der Bruststimme gesungen wurde – was seither üblich, in der Realisierung aber nicht einfacher geworden ist. Vor allem fordert «Guillaume Tell» die Opernhäuser jedoch durch die Massenszenen der Grand Opéra mit ihren Chören, Balletten, Tableaus und Kostümfesten, mithin enormem Aufwand.

Nun erscheint «Guillaume Tell» wieder einmal auf der Bühne: im Theater St. Gallen, einem Mehrspartenhaus, das für ein solches Unternehmen nicht eben prädestiniert erscheint. Möglich geworden ist das Projekt, weil in St. Gallen auf die raumgreifende Geste der Grand Opéra weitgehend verzichtet und weil kräftig gekürzt worden ist. Die Aufführungsdauer beläuft sich noch auf knapp dreieinhalb Stunden, eine Pause eingeschlossen. Und szenischer Effekt ist reduziert, «Guillaume Tell» ist von der Ausschmückung weitgehend befreit, vielmehr auf die reine Geschichte zurückgeführt, und das ist spannend genug – zumal der gedankliche Weg von den Ur-Schweizern, die sich mit individuellem Mut gegen die Besatzung durch die Habsburger zu wehren wussten, hin zu einem wehrhaften Volk dieser Tage nicht eben weit ist.

In der Inszenierung von Julien Chavaz, dem Bühnenbild Jamie Vartan und den Kostümen von Severine Besson bleibt der in hellem Beige gehaltene Bühnenraum leer. Für Bewegung sorgen mobile Wände und Neonschienen, die hier Blitze, dort Häuser andeuten, ausserdem der erweiterte, von Filip Paluchowski seriös vorbereitete Chor des Theaters St. Gallen und die von Nicole Morel erdachte Choreographie. Dass die Ouvertüre, ein fulminantes Konzertstück, das vom Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung des Gastdirigenten Michael Balke fabulös gemeistert wird, von vier Tänzerinnen bereichert wird, wirkt allerdings reichlich altbacken; Rossinis Musik ist doch so packend, dass man sie sich sehr gerne einfach nur anhört – in der St. Galler musikalischen Auslegung, die von zündenden Rhythmen und heller Farbigkeit lebt, gilt das erst recht. Und die vier von den Tänzerinnen dargestellten Schafe, die in entscheidenden Momenten die Bühne queren, bringen etwas von jenem Postkarten-Kitsch ein, der sich bei diesem Stoff vielleicht doch nicht vermeiden lässt.

Ganz so abwegig ist der Einsatz der süssen Tiere jedoch nicht. Julien Chavaz sieht das Schweizervolk als eine Versammlung von Menschen, die in direkter, ungebrochener Verbindung mit der Natur leben – in einer Naivität, die, wenn sie von aussen gestört wird, ungeheure Kraft entwickeln kann. Dieser Kraft begegnen die ganz in Rot gewandeten Bösewichte Gessler (der sonore Hüne Kristián Jóhannesson) und sein Assistent Rudolf (Christopher Sokolowski) mit seinen Mannen. Ihnen gegenüber steht der von einem genuinen Selbstbehauptungswillen geprägte, im Moment des Apfelschusses aber auch seine verletzliche Seite zeigende Tell – Theodore Platt verkörpert seine Partie überaus eindrucksvoll. An seiner Seite steht zum Beispiel, und nun kommt die Rede auf das «do di petto», der junge Arnold von Melchtal, der mit seinem hellen, zugleich körperreichen Tenor die Höhen mühelos meistert, auch seine Not und die Befreiung daraus glaubwürdig darstellt. Die Not heisst Mathilde. Sie ist eine Prinzessin aus dem Hause Habsburg, die Gessler in die Schranken weist und schliesslich unter Verzicht auf ihren sozialen Status zu den Schweizern überläuft – Athanasia Zöhrer schafft da, auch mit ihrer Sicherheit in den Koloraturen, ein prachtvolles Rollenporträt. Lustig zudem Tells Sohn, der bei Rossini Jemmy heisst; Kali Hardwick gibt diese Hosenrolle vital und brillant. Nicht zuletzt bleibt anzumerken, dass die Diktion – Rossinis Oper wird in der französischsprachigen Originalfassung geboten – nichts zu wünschen übrig lässt.

Die dreieinhalb Stunden sind jedenfalls im Nu vorüber.

Facetten des Zeitgeistes

Wiedereröffnung des Theaters St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ehepaar? Slyvia D’Eramo (Gerda Wegener, links) und Lucia Lucas (Lili Elbe) / Bild Edyta Dufaj, Konzert und Theater St. Gallen

Man mochte es nicht wirklich, das von aussen so hermetisch wirkende Stadttheater St. Gallen – vor allem als Basler nicht, der sein ihm ans Herz gewachsenes Stadttheater von 1909 am 6. August 1975 frühmorgens in die Luft gesprengt und in sich zusammenstürzen sehen musste. Ein moderner Bau gleich neben der eilig abgetragenen Ruine sollte fortan der Ort seiner Theatererfahrungen sein. Werner Düggelin, der als Direktor das Theater Basel in den Jahren 1969 bis 1975 in der Stadt wie in der Branche zum Tagesgespräch gemacht hatte, wollte mit diesem Haus nichts zu tun haben, er gab seinen Posten auf. Inzwischen ist das neue Basler Stadttheater längst eingewachsen, die Wehmut ist jedoch nicht gewichen.

Ähnliches zu ähnlicher Zeit begab sich in St. Gallen. Nach gut hundert Jahren erfolgreichen Betriebs wurde das Stadttheater St. Gallen 1968 geschlossen und drei Jahre später abgerissen. Das Haus hatte sich in zunehmendem Mass als untauglich erwiesen und wurde nicht mehr benötigt. Im gleichen Jahr 1968 wurde nämlich das neue Theater im Stadtpark eröffnet, ein ebenso kühner Bau in moderner Formensprache; entworfen hatte ihn Claude Paillard, der 1961 den dafür ausgeschriebenen Wettbewerb für sich entschieden hatte. Von aussen, gerade eben aus der Nordwestschweiz, blickte man leicht verächtlich auf das Haus; von seiner Anmutung her setzte man es mit vielen Theaterbauten aus den sechziger Jahren gleich.

Inzwischen hat sich diesbezüglich einiges verändert, gerade in den letzten Jahren. Nach vier Jahrzehnten kontinuierlicher Nutzung hatte sich eine grundlegende Renovation des Gebäudes als notwendig erwiesen. In langjähriger Vorbereitung, während der das Theater wie die daneben liegende Tonhalle von der Stadt an den Kanton überging, wurde das rund fünfzig Millionen Franken schwere Projekt erarbeitet und in einer Volksabstimmung vom 18. März 2018 mit 62 Prozent Ja-Stimmen genehmigt – übrigens gegen eine Initiative der kantonalen SVP, die den Abbruch des Gebäudes und dessen Ersatz durch einen Neubau gefordert hatte. Im Herbst 2020 nahmen die Bauarbeiten ihre Fahrt auf, das Theater spielte derweil in einem Provisorium; und nun, am 22. Oktober 2023, ist das Haus wiedereröffnet worden.

Die Sanierung wurde mit denkbar grösstem Respekt vor dem originalen Entwurf an die Hand genommen – und genau das hat die Wertschätzung für den Entwurf Paillards erhöht. Das Sechseck als Grundlage als formaler Gegebenheiten, vom Grundriss bis hin zu einem Detail wie der Befestigung eines Treppengeländers am Boden, wurde mit aller Sorgfalt bewahrt. Auch der Sichtbeton, wie das Sechseck ein Markenzeichen in der Architektur der sechziger Jahre, wurde kompromisslos auf sein originales Erscheinungsbild zurückgeführt. Im Inneren wurde, für den Besucher meist nicht erkennbar, einiges an technischer Innovation durchgeführt. Zum Beispiel auch auf der Ebene der Akustik; heute nehmen zahlreiche Mikrophone den Klang auf und verteilen ihn über kleine Lautsprecher in den Raum. Das Verfahren kommt mittlerweile in manchen Kulturstätten zur Anwendung; in St. Gallen ist der Gewinn nicht zu überhören.

Grösser nahmen sich die durch den Theaterbetrieb geforderten Veränderungen in der räumlichen Konfiguration aus, doch auch hier stand die Erhaltung von Paillards ursprünglichem Entwurf an oberster Stelle. Im Ballettsaal zum Beispiel musste die Decke angehoben werden, damit den Tänzerinnen und Tänzern der notwendige Raum zur Verfügung steht. Probleme schuf ein vom Theater gewünschter Anbau, gegen dessen Ausführung sich der Denkmalschutz wandte. Studien im Archiv des Architekten Claude Paillard erwiesen dann, dass der fragliche Anbau schon geplant war, auf Wunsch der damaligen Bauherrschaft aber nicht realisiert wurde, weil eine repräsentative Zufahrt für Automobile als notwendiger erachtet wurde. Das ist jetzt korrigiert. So erstrahlt das Theater St. Gallen nunmehr in neuem Glanz. Und kann eine Ikone der modernen Architektur gewürdigt werden.

Zeitgleich mit der Wiedereröffnung des Hauses wurde am Theater St. Gallen eine neue Ära eingeläutet – nicht etwa mit Beethovens «Fidelio». Zum Einstand seines Teams trat Jan Henric Bogen, der neue Direktor des Hauses und zugleich der künstlerische Leiter des Musiktheaters, mit der Uraufführung eines Auftragswerks an. Eines Werks, das es in sich hat. Die Oper «Lili Elbe» des 1954 geborenen New Yorkers Tobias Picker und seines Librettisten Aryeh Lev Stollman erzählt die Geschichte der dänischen Malerin Lili Elbe (1882-1931), die in den zwanziger Jahren als Mann unter dem Namen Einar Wegener lebt. Wie sie bei ihrer Ehefrau Gerda Wegener für ein kurzfristig verhindertes Modell einspringt und dabei in Frauenkleidern posiert, wird ihr bewusst, dass sie im Grunde eine Frau ist. Gegen starken Widerstand ihrer Umgebung lässt sie ihr Geschlecht von einem Gynäkologen an ihre wirkliche Identität anpassen, ihre Ehe auflösen und sich einen neuen Namen geben: Lili Elbe. Da sich für sie wirkliches Frausein in Mutterschaft erfüllt, lässt sie sich von besagtem Gynäkologen eine Gebärmutter einsetzen. Die Operation misslingt und bringt ein tragisches Leben zu seinem Ende.

Der in Englisch gegebene, deutsch übertitelte Abend braucht starke Nerven. Das Schicksal einer Frau, die in einem männlichen Körper lebt und sich dagegen mit einer Radikalität sondergleichen auflehnt, lässt gewiss niemanden kalt. Geradezu schockierend ist jedoch die Art und Weise, in der ein Theater ein in mancher Hinsicht heikles Thema ins Scheinwerferlicht der Bühne zerrt, sich lautstark mit der Produktion der weltweit ersten Oper über die Frage der sexuellen Identität brüstet und sich wohlfeil einer zeitgeistiigen Debatte anbiedert, die gerade in diesen Tagen ideologisch und gesellschaftspolitisch so hochgradig aufgeladen ist. Und das, notabene, eingekleidet in eine Musik, die das Vokabular der amerikanischen Allerweltspostmoderne pflegt und herzlich wenig zu sagen hat. Allerdings: Dass das Thema in der katholisch-konservativen Stadt St. Gallen und im Moment der Eröffnung eines frisch renovierten Kulturhauses aufs Tapet kommt, ist schon ein starkes, auch ein mutiges Zeichen.

Die Produktion selbst ist von umwerfender Wirkung. Unter der Leitung von Modestas Pitrénas, seinem aus Vilnius stammenden Chefdirigenten und Konzertdirektor, holt das Sinfonieorchester St. Gallen ein Optimum aus der belanglosen Partitur heraus. Und die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne, auch der von Franz Obermair geleitete Chor und die neu zusammengestellte Tanzkompanie, zeigen ihr Bestes. Fulminant Lucia Lucas, die, selber eine Trans-Person, die Figur der Lili Elbe verkörpert und das mit einem unerhört sonoren Bariton wie mit temperamentvoll zugespitzter Bühnenpräsenz tut. Herausragend auch Sylvia D’Eramo als Gerda Wegener, Brian Michael Moore als der Pariser Parfumeur Claude LeJeune, Sam Taskinen als Lilis Bruder Marius und Msimelelo Mbali als der eitel-brutale Gynäkologe Warnekros. Sie alle treten in einer enorm bewegten, vielfarbigen, bisweilen auch den Geist des Musicals beschwörenden Inszenierung auf, bei der Krystian Lada als sein eigener Bühnenbildner Regie geführt hat.

Das Potential, das die musikalisch-szenische Einrichtung zum Ausdruck gebracht hat, verspricht viel. Dass als nächste Premiere, diesmal in dem von Barbara-David Brüesch geleiteten Schauspiel, «Die Ärztin» auf die Bühne kommt, gibt dann allerdings wieder zu denken. Den Text, so die Ankündigung, hat Robert Icke sehr frei nach «Professor Bernardi» von Arthur Schnitzler eingerichtet. Genügen die scharfsinnigen Dialoge Schnitzlers nicht mehr? Ich habe das Stück vor einiger Zeit im Wiener Theater in der Josefstadt gesehen: erstklassig in seiner schauspielerischen Performanz, der Saal war einen Abend lang gebannt und mucksmäuschenstill. Am Theater St. Gallen jedoch bricht sich jetzt der Zeitgeist Bahn – etwas spät zwar, aber immerhin.

«Notre Dame» vor und hinter der Rosette von Notre-Dame

Die selten gespielte Oper von Franz Schmidt als Freiluftaufführung der St. Galler Festspiele

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Toni Suter T+T Fotografie, Theater St. Gallen

Im grossen Repertoire blieb «Notre Dame» stets eine Randerscheinung. Umso verdienstvoller, dass die vom Theater St. Gallen zum Ende seiner Spielzeit jeweils durchgeführten Festspiele die 1903 abgeschlossene Oper von Franz Schmidt nach dem Roman von Victor Hugo ans Licht zogen. Tatsächlich konnten diese Festspiele, deren Herzstück eine auf dem Platz vor der St. Galler Kathedrale gebotene Opernaufführung bildet, in diesem Jahr eröffnet werden. Allerdings mit einem Sicherheitskonzept, das nur zwei Drittel der eintausend Sitze zur Besetzung freigab und Pause wie Gastronomie ausschloss, dafür aber von der Maskenpflicht am Platz befreite. So liess sich denn einigermassen ungestört ein musikalisch hochinteressantes Stück erkunden, das in einer bemerkenswerten Produktion gezeigt wurde.

Dass in diesen Freiluftaufführungen der Klang des Orchesters aus dem Lautsprecher kommt und sich dort mit den ebenfalls verstärkten Stimmen der Sängerinnen und Sänger vermischt, muss man in Kauf nehmen. Kompensiert wird die Einschränkung durch die einzigartige Atmosphäre, durch das zauberhafte Licht des Sommerabends, durch die Beteiligung der im Bühnenbild hausenden Vögel und durch die stumme, aber effektvolle Mitwirkung des barocken Bauwerks im Hintergrund. Den Vordergrund machte an diesem Premierenabend die mächtig vergrösserte Rosette der Notre-Dame aus – dies durchaus in Anspielung auf den derzeitigen Zustand der 2019 durch ein Feuer verwüsteten Pariser Kirche, also in Bruchstücken. Damit schuf der Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic den Raum für jene vom Kostümbildner Christophe Ouvrard prachtvoll ausstaffierten Tableaux, in denen die Kirche ihre Macht herzeigt.

Die Hauptperson bei diesen Aufzügen fehlt jedoch, ein Auftritt des Erzbischofs wurde von Franz Schmidt und seinem Co-Librettisten Leopold Wilk nicht vorgesehen. Als umso einflussreicher und bedrohlicher erscheint der Archidiakon, der Stellvertreter des Pariser Kirchenoberhaupts. Simon Neal leiht diesem gefährlichen Dogmatiker seine mächtige Stimme, zeigt zugleich aber eindrücklich, wie unheilvoll der Priester der schönen Esmeralda verfallen ist – gleich wie seine drei Mitbewerber vor der Tür der geheimnisvollen Tänzerin. Esmeralda, die von Anna Gabler mit den herrlichsten Tönen und sehr lasziv über die Rampe gebracht wird, erleidet den Feuertod, obwohl nicht sie, sondern ihr heimlicher Geliebter Gringoire (Cameron Becker gibt ihn in jugendlicher Agilität) den adligen Offizier Phoebus (Clay Hilley) angegriffen hat und obwohl Phoebus nur verletzt, nicht getötet worden ist. Die schauerliche Folge dieses Missverständnisses vermag auch der Glöckner Quasimodo nicht abzuwenden; ebenfalls mehr als nur angetan von Esmeralda, bietet er der Verfolgten Kirchenasyl in einem geheimen Raum oberhalb der Rosette – was trotz der eindringlichen Darstellung durch David Steffens schiefläuft, weil der Archidiakon als sein Vorgesetzter das Instrument des Asyls ausser Kraft setzen liess.

Der Regisseur Carlos Wagner bringt diese Geschichte in spannende szenische Abläufe – die er, wie es das Freilufttheater erfordert, gemeinsam mit dem Choreographen Alberto Franceschini durch vital bewegte Nebenfiguren anreichert. Ebenfalls sehr lebendig agiert unter der Leitung von Michael Balke, dem Ersten Kapellmeister des Hauses, das Sinfonieorchester St. Gallen. Weil der Cellist Franz Schmidt seine Oper in hohem Masse sinfonisch angelegt hat, ist das von Bedeutung. Es wird in dieser Produktion vorbildlich eingelöst.

Ein wenig rehabilitiert

«Edgar» von Giacomo Puccini vor der Kathedrale St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Tanja Dorendorf, Konzert-Theater St. Gallen

Neigt sich die Spielzeit dem Ende zu, legt sich das Konzert-Theater St. Gallen, einfach gesagt: das Theater St. Gallen, noch einmal richtig ins Zeug. Da brechen in der Stadt für zwei Wochen die Festspiele an, für die das Ostschweizer Mehrspartenhaus das Tafelsilber aufdeckt. Auf dem Programm stehen dann eine Open-Air-Opernproduktion, ein neuer Abend des Tanztheaters und eine Reihe spezieller Konzerte – und das alles einer klar erkennbaren dramaturgischen Linie verpflichtet. In dem von Florian Scheiber gestalteten Konzertprogramm wandelt man dieses Jahr von Flandern aus südwärts, meist mit älterer, oft mit wenig bekannter Musik. Für die Kathedrale hat die Tanzchefin Beate Vollack zusammen mit Willibald Guggenmos, dem St. Galler Titular-Organisten, eine getanzte Pilgerreise entworfen, bei der sich das Publikum mit durch den Kirchenraum bewegt. Und draussen im Klosterhof ist «Edgar» von Giacomo Puccini angesetzt, wo die Themenkreise «Flandern» und «Glauben» ihre Verankerungen finden.

«Edgar»? Tatsächlich? So schlecht ist das Stück gar nicht, man muss es nur überzeugend auf die Bühne bringen – was kaum je an die Hand genommen wird. Die Bühne, das ist hier der Platz vor der mächtigen Fassade der spätbarocken Stiftskirche. Mit dabei sind die Magie des Ortes, die Dämmerung und sowie die Schwalben, die sich um Vierteltöne zu hoch ins musikalische Geschehen einmischen und schliesslich in den Büschen des Bühnenbilds verschwinden. Oper unterm Sternenzelt, da mag der Kenner die Nase rümpfen. Den Festspielen St. Gallen tut er damit eindeutig Unrecht. Hier wird nämlich gerade nicht das Eingängige gesucht, in St. Gallen verbindet sich die Suggestivkraft der Freilichtaufführung vielmehr mit der Besonderheit des Repertoires. Raritäten wie «Loreley» von Alfredo Catalani, «Attila» von Giuseppe Verdi oder «Il diluvio universale» von Gaetano Donizetti Beispiel waren da zu erleben – und das in teils bemerkenswerten Produktionen.

Jetzt also dieses schräge Stück von 1889. «Edgar» existiert in nicht weniger als vier Versionen, von denen in St. Gallen die vierte und letzte von 1905 gezeigt wird, allerdings auch die mit Modifikationen. Verquer schon das Sujet. Mit dem Titelhelden führt das Libretto von Ferdinando Fontana einen Mann zwischen zwei Frauen vor, einer sittsamen und einer sinnlichen – als Konstellation ist das, wenn man an Wagners «Tannhäuser» oder Bizets «Carmen» denkt, nicht ganz unvertraut. Unüblich, auch nicht ganz leicht nachzuvollziehen ist jedoch die Folge von Volten, mit denen sich Edgar der triebgesteuerten Tigrana entledigt, um sich Fidelia und den bürgerlichen Tugenden zuzuwenden.

Edgar, das ist der Komponist selber, der zur Entstehungszeit der Oper in wilder Ehe mit einer verheirateten Frau lebte und deshalb an den von der Kirche vorgegebenen Normen verzweifelte – davon sind der Regisseur Tobias Kratzer und der Ausstatter Rainer Sellmair zum einen ausgegangen. Beim Wort nahmen sie zum anderen die Nähe des Stücks zur Grand Opéra, die sie in einem attraktiven Arrangement von Tableaux nachzeichnen. Ein idyllischer Garten vor der Silhouette einer flandrischen Stadt nimmt die «Anbetung des Lammes» von Jan van Eyck zum Vorbild, und dass dort diverse Päpste mit ihren goldenen Tiaren auftreten, lässt erahnen, dass sich nicht alles im Lot befindet. Für den nachgestellten Venusberg im zweiten Akt kommt dann Hieronymus Bosch mit seinem «Garten der Lüste» zum Zug, und da fehlt es denn nicht an jenem optischen Kitzel, der in der Freilichtaufführung unentbehrlich ist. Wenn zum Finale schliesslich ein Pferd mit Leichenwagen über den Kunstrasen stakst, kennt das Glück keine Grenzen mehr.

Allein, in St. Gallen bleibt es eben nicht dabei. Dank dem geschmeidigen Dirigat von Leo Hussain und der hochstehenden Mitwirkung des (aus Lautsprechertürmen klingenden) Sinfonieorchesters St. Gallen kommt die wunderliche Kraft des jungen Puccini zu voller Geltung. Viel von dem, was die Handschrift des Komponisten ausmacht, ist bereits ausgebildet, der raffinierte Umgang mit Oktavierungen etwa, doch ist es noch nicht wirklich kontrolliert eingesetzt, es schiesst vielmehr geradezu erheiternd ins Kraut. Die vokalen Lineaturen hingegen lassen durchaus schon die spätere Meisterschaft erahnen. Besondere Momente gelingen hier Alessandra Volpe (Tigrana), deren Partie Puccini offenbar mit besonderer Hingabe gestaltet hat. Marcello Giordani ist ein kraftvoll aufbrausender Edgar, Evez Abdulla mit seinem sonoren Bariton sein Alter Ego Frank. Einmal mehr darf man staunen, was das Theater St. Gallen, ein vergleichsweise kleines Mehrspartenhaus, an vokaler Qualität zu bieten vermag.

Das Sutterle und sein «Carmen»-Tod

«Annas Maske» von David Philip Heftis Oper als Uraufführung in St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Eines Tages lag sie tot auf ihrem Bett, erschossen von einem einstigen Liebhaber, der in seinem Blut neben ihr auf dem Boden lag. Sie, das war Anna Sutter, die 1871 in Wil im Kanton St. Gallen geborene Sängerin, die mit zweiundzwanzig an die Hofoper Stuttgart kam, dort bis zu ihrem Tod 1910 blieb und in dieser Zeit zu einem Publikumsmagneten erster Güte wurde. In schauerlicher Verlängerung des Bühnengeschehens nach der Wirklichkeit hin erlitt sie das Schicksal Carmens, einer Figur, welche die Mezzosopranistin besonders liebte und oft verkörperte. Zugleich bündeln sich in diesem Fall jene Männerphantasien, die sich, romantischem Geist entstammend, um die Theaterkünstlerinnen rankten – um Frauen, die sich nicht dem Gesetz der Ehe unterwarfen noch ihr Leben als Fräulein verbrachten, sondern ihren selbstbestimmten Weg verfolgten. Was damals als ungeheure und deshalb auch erotisch aufgeladene Anmassung erschien, mutet von heute aus, da diese Autonomie im Prinzip jeder Frau offensteht, ein klein wenig verzopft an. Auch etwas bieder vielleicht, denn genau so, wie es Anna Sutter in ihren rasch wechselnden Beziehungen vorgemacht haben soll, mag sich der Opernliebhaber das Leben hinter dem Vorhang ausmalen: zügellos und verrucht.

So lässt es wenigstens die Novelle empfinden, in welcher der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer 2001 den Fall Anna Sutter verarbeitet hat. Ihr Leben verlor die Sängerin durch die Hand des mässig erfolgreichen Dirigenten Aloys Obrist, der seiner Gattin überdrüssig war und nach nichts anderem dürstete als dem Besitz – ja, dem Besitz – der angebeteten Anna. Während einiger Zeit waren die beiden tatsächlich und in riskanter Verletzung ihrer Arbeitsverträge ein Paar gewesen; die Sängerin hatte sich freilich längst aus der Liaison verabschiedet, was der Dirigent in keiner Weise verstehen noch hinnehmen konnte. Keinen Akt der Selbsterniedrigung liess er aus, er machte sich zur allgemeinen Lachnummer – seine ehemalige Geliebte hatte dafür nur Hohn und Spott und zuletzt ein scharfes Nein übrig. So blieb ihm denn nichts als die Pistole: zwei Schüsse für sie, deren fünf für sich selber. Sehr melodramatisch klingt das, und tatsächlich ist «Annas Maske», so der Titel von Sulzers Novelle, zur Oper geworden. Am Wochenende ist das gleichnamige Stück des Schweizers David Philip Hefti als Auftragswerk des Theaters St. Gallen ebendaselbst zu erfolgreicher Uraufführung gekommen.

Hochästhetisch und dramatisch: «Annas Maske» in St. Gallen / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

Erfolgreich, weil aus der Novelle umstandslos ein packendes Libretto geworden ist. Alain Claude Sulzer ist es gelungen, die im Prosatext angelegte Struktur einer vielfach verschachtelten Rückblende und die einem Kriminalroman gleichende Spannung aufrecht zu erhalten. Er hat sie sogar noch geschärft, indem die Oper anders als die Vorlage nicht mit dem Abnehmen der Totenmaske, sondern mit der in der Novelle erst später offenkundig werdenden Liebe zwischen Pauline, der Haushalthilfe der Sängerin, und dem ermittelnden Polizisten Heid anhebt. Dass die Rückblende auf der Bühne so gut funktioniert, ist nicht zuletzt der szenischen Einrichtung durch die Regisseurin und Ausstatterin Mirella Weingarten zu verdanken, der hier eine famose Arbeit gelungen ist. Die Bühne ist schmal gehalten, in die Höhe gezogen und in drei Ebenen geteilt. Zuoberst aufgereiht der von Michael Vogel einstudierte Chor, der eher episodisch eingesetzt ist. In der Mitte die tote Anna, das alter ego, das zum Schluss in die Freiheit enteilt – die St. Galler Ballettdirektorin Beate Vollack bringt ihre Körpersprache da zu voller Geltung. Ganz unten schliesslich die Ebene, auf der sich in der Chronologie der Ereignisse die Rückblende abspielt.

Hochästhetisch wirkt diese Disposition in ihrer minimalistischen Formensprache und passend zu einem Stück, das einen bereits eingetroffenen und demnach bekannten Vorfall gleichsam analysierend herbeiführt. Sinnlich und sinnreich zudem die zu beiden Seiten angebrachten Türen, durch die scharf zeichnendes Licht einfällt, aus denen sich manchmal aber auch bloss Hände recken. Eine mächtige Flügeltür wird ausserdem als Video auf die hellgraue Rückwand projiziert – die Tür spielt ja eine zentrale Rolle im Plot. Hätte Pauline (Sheida Damghani), das gesteht die Zofe gleich zu Beginn und dann immer wieder, die Wohnungstür nicht geöffnet, das Verbrechen wäre nicht geschehen. Das Verbrechen, es bahnt sich in ungeschmälerter dramatischer Spannung an, denn auf der Bühne wird der szenische Effekt voll ausgekostet. Sprechend schon allein die von der Regisseurin entworfenen Kostüme. Anna Sutter trägt einen wallenden Umhang, wie er zur Diva gehört, darunter aber einen roten Unterrock – alles klar? Und Maria Riccarda Wesseling schafft mit ihrem kernigen Timbre und ihrer fabelhaften Bühnenpräsenz das Energiezentrum des Stücks.

Nicht weniger prägnant David Maze in der Partie des Hofopernintendanten Putlitz, der sich in seinen Geschäften mit der Diva nicht stören lassen will und darum den aufsässigen Dirigenten Obrist mit Donnerstimme des Hauses verweist. Diesen wiederum zeichnet Daniel Brenna mit seinem geschmeidigen Tenor als Karikatur seiner selbst. Auch Aloys Obrist hat sein alter ego, wenn auch in ganz anderer Art: in jener des Sängers Albin Swoboda, ebenfalls eines Tenors, und seines Zeichens Nachfolger in Annas Armen. Er ist bei Nik Kevin Koch ausgezeichnet aufgehoben. Das Ensemble und das Sinfonieorchester St. Gallen meistern die Partitur von David Philip Hefti, soweit das in einer ersten Begegnung wahrzunehmen ist, ganz hervorragend; der Dirigent Otto Tausk agiert mit Sinn für das Wesentliche und den grossen Bogen – das ist nicht wenig.

Hefti, Jahrgang 1975, ist in seinem ersten abendfüllenden Werk in hohem Mass sich selber treu geblieben. Wie in vielen seiner Werke gibt es auch in «Annas Maske» liegende Töne oder Klänge, um die herum erregte Bewegung herrscht. Ungewohnter sind die leeren Quinten, die sich glissandierend ineinander schieben und die den Schluss, nach den gewaltigen Tutti-Schlägen der tödlichen Schüsse, in eine ganz eigene Atmosphäre tauchen. Hefti beherrscht sein Handwerk virtuos, er kennt das Arsenal dessen, was die Avantgarde hervorgebracht hat, und bedient sich seiner äusserst phantasievoll. Dessen ungeachtet (oder gerade darum) kommt es immer wieder zu Momenten des Déjà-entendu. Der Passus duriusculus, die Folge absteigender Halbtöne, im Zusammenhang mit dem Tod gehört ebenso zu den Allgemeinplätzen, wie der Einsatz des Löwengebrülls zum Ausruf «Verfluchte Carmen!» eine tautologische Banalität darstellt. Und die gezackten vokalen Linien, sie tragen ebenso Staub des Gestrigen, wie es die auf die Spitze getriebene rhythmische Komplexität tut. Heftis Handschrift ist klar erkennbar; wenn sie noch genuiner eigenes Mass nähme, könnte sie nur gewinnen.

Peripher, aber nicht provinziell – Musiktheater in St. Gallen

 

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Braut, gefangen: «Lohengrin» in St. Gallen / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

 

Peter Hagmann

Elsa träumt «Lohengrin»

Wagners Romantische Oper in St. Gallen

 

Nicht «Lohengrin», «Elsa» sollte die Romantische Oper Richard Wagners heissen – so postuliert es der Regisseur Vincent Boussard, der das Werk am Theater St. Gallen einer anregungsreichen szenischen Deutung unterworfen hat. Im Licht steht nicht der Schwanenritter – obwohl der Schwan, dessen Abwesenheit in modernen Inszenierungen gern beklagt wird, hinter dem Zwischenvorhang immer wieder diskret vorüberzieht. Auch nicht Lohengrins Kontrahent Telramund, der umso eher zum Schwert greift, als er in den Streitgesprächen, die Wagner schon hier mit einiger Virtuosität ausgeformt hat, nicht eben durch Schlagfertigkeit glänzt. Nein, in dieser Produktion von «Lohengrin», der ersten in St. Gallen seit 1912, gilt die Aufmerksamkeit den Frauen, der schwärmerischen Elsa, aber auch der heidnischen, mit Zauberkräften operierenden Ortrud. So steht im Zentrum der suggestiven Bühne von Vincent Lemaire nicht nur eine mächtige, marmorglänzende Schräge, die andeutet, wie in diesem Brabant Waagrechte und Senkrechte aus dem Lot geraten sind, sondern vor allem ein Bett, auf dessen Matratze das Gehen nicht leicht fällt, aber manch anderes möglich ist.

Die andere Frau

Träumen zum Beispiel. Elsa träumt «Lohengrin». Zum sehr leisen, sehr hohen Beginn des Vorspiels nähert sich die junge Frau zögernd dem Bett; mit einem raschen Griff reisst sie das zerknüllte Duvet weg – und erblickt den darunter versteckten toten Schwan. Lohengrin ist wieder abgereist, ihr Bruder Gottfried wieder am Leben, womit die Verhältnisse wieder in Ordnung wären, hätte Elsa nicht ihre Hoffnung verloren. Die Hoffnung auf den vollendeten Mann, dem sie ganz und gar angehören will. Dies aber auch als ganzer Mensch, mit ganzer Persönlichkeit, nicht als Weibchen unter der Kontrolle des Mannes und als dessen Werkzeug – weshalb auf der Hand liegt, dass sie die verbotene Frage nach Name und Herkunft des Gatten stellen muss. Ja mehr noch: Wie Telramund in der Hochzeitsnacht ins Gemach eindringt, ist es nicht, wie von Wagner festgelegt, Lohengrin, sondern Elsa, die den entscheidenden Streich mit dem Schwert ausführt. Wagner, so die St. Galler Inszenierung, hat sich schon hier, nicht erst in den reifen Musikdramen, seine ideale Frau und einen radikalen Gegenentwurf zu den gängigen Auffassungen seiner Zeit geschaffen. Wie die junge Norwegerin Elisabeth Teige das umsetzt, kann man nur bewundern. Zielstrebigkeit und Enthusiasmus kommen in ihrer Körpersprache gleichermassen zur Geltung, und dabei bleibt ihre strahlkräftige Stimme in einem festen Kern verankert.

Lohengrin wiederum – Martin Muehle versieht die Partie mit herrlichem tenoralem Glanz, gerät nie unter Druck und wirkt als Darsteller jederzeit gelassen – bleibt konsequenterweise etwas aussen vor. In dem silberglänzenden Kostüm, das ihm Christian Lacroix entworfen hat, ist er klar als eine übernatürliche Erscheinung zu erkennen – und: als eine weitere Projektion des Komponisten. Als Wagner «Lohengrin» schrieb, kam es zur gesellschaftspolitischen Explosion von 1848. Wagner hatte sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen und musste voneinem Steckbrief verfolgt in die Schweiz fliehen – über Rorschach und St. Gallen, woran das Theater mit einer kleinen Ausstellung im Foyer erinnert. Dass sich der politische Flüchtling in der Figur des Lohengrin als allseits akklamierter, gottähnlich über jeder gesellschaftlicher Hierarchie stehender Künstler zeichnet, ist aus den Lebensumständen Wagners nur allzu verständlich. Die Inszenierung unterstreicht das insofern, als sie die Aufzüge, an denen es in «Lohengrin» nicht fehlt, radikal reduziert und ihres Kolorits beraubt. Heinrich der Vogler, der verunsicherte König Deutschlands, der nach Brabant gekommen ist, um nach Soldaten zu rufen, tritt als ein Bürger des mittleren 19. Jahrhunderts in einem etwas grobstoffigen Dreiteiler auf; seine Krone ist ersetzt durch einen einfachen schwarzen Herrenhut. Während das Volk hier repräsentiert ist durch die Schicht der Royalisten, die, in schwarze Fräcke mit überhohen Zylindern gekleidet, nichts so sehr fürchten als die Veränderung.

Orchestrale Oper

Was die Romantische Oper Wagners zur Grossen Oper macht, ist nicht gestrichen, bisweilen auch szenisch da, aber doch deutlich unterspielt. Nicht selten wirken der Chor des Theaters St. Gallen, der Opernchor St. Gallen und der Theaterchor Winterthur, allesamt vorbereitet von Michael Vogel, aus dem Untergrund heraus. Bei dem grossen Tableau, welches das letzte Bild der Oper einleitet, kommt es nicht zu grossen Aufmärschen, der König (Steven Humes) steht vielmehr einsam auf der Bühne, während für die Pracht des Moments das Orchester allein zuständig ist. Und hier gibt es eine ausnehmend gelungene Präsentation zu erleben. Das Sinfonieorchester St. Gallen agiert in Bestform und in enger Verbindung mit seinem Chefdirigenten Otto Tausk: explizit, aber nicht zu laut für den Raum, in schwungvoller Spontaneität, klanglich mit aller Sorgfalt ausgearbeitet. Dass Tausk in seinem Phrasieren eher instrumental als vokal denkt, mag hie und da zu etwas wenig ausgekosteten Übergängen führen, betont dafür aber das Metrische des musikalischen Verlaufs. Ohnehin hat Wagner in «Lohengrin» längst den Weg hin zum Musikdrama eingeschlagen, wo das Orchester definitiv zum Protagonisten wird.

Aufgeheizt wird das Drama durch die Spannung zwischen Gut und Böse, zwischen einer Art Glauben in christlichem Sinn und den heidnischen Kräften früherer Zeiten, wie sie Ortrud und Telramund verkörpern. Das ehrgeizige Paar, ganz in Schwarz und sehr theatralisch eingekleidet, agiert meist auf jener unteren Ebene, die vor der grossen Schräge gelegen und vollständig mit Schwanenfedern ausgelegt ist. Ortrud ist die keineswegs unterwürfige, keineswegs dienende, sondern vielmehr das Geschehen nach der Art einer gefährlichen Hexe vorantreibende Frau, vor der Mann durchaus Angst haben kann – Elena  Pankratova führt das mit grosser Stimme und ebensolcher Gestik vor. Und Mann ist in diesem Fall der Telramund von Simon Neal, der sich mächtig ins Zeug legt, aber ein Wadenbeisser bleibt. Hinreissend, mit welcher Genauigkeit in den Einzelheiten von Kostüm und Gestik auch diese Figur ausgestaltet ist. St. Gallen liegt zwar peripher, ist aber, was die Kunst des Musiktheaters betrifft, alles andere als provinziell.