Aus ferner Zeit, ganz aktuell

Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion am Festival für Alte Musik in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Als am 7 April 1724 in Leipzig die Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs zum ersten Mal erklang, dürfte kaum jemandem bewusst geworden sein, was sich in jenem Moment ereignete, zu schwierig waren die Umstände rund um die Aufführung – in seiner grossartigen, 2016 auf Deutsch erschienenen Bach-Biographie schildert es der Dirigent John Eliot Gardiner in aller Nachdrücklichkeit. Dreihundert Jahre später, und zwar fast auf den Tag genau, war die Johannes-Passion, genauer: deren erste Fassung, im Zürcher Fraumünster zu erleben – dies im Rahmen des wie stets reichhaltigen, inzwischen zum vierzigsten Mal durchgeführten Festivals Alte Musik in Zürich. Wie in den zwei letzten Takten des Schlusschorals die Es-Dur-Kadenz von Chor und Orchester über dem Adjektiv «ewiglich» verklungen war, stand man einmal mehr fassungslos vor der Grösse dieses aus fernen Zeiten stammenden Kunstwerks – eines Monuments, das keineswegs steinern oder gar bedrohlich wirkt, das vielmehr ganz Gegenwart ist, das bewegt und berührt, nachdenklich macht und in gleichem Mass beglückt zurücklässt.

Dass dieser Eindruck im Zürcher Fraumünster aufkam, geht auf eine Aufführung zurück, die höchsten professionellen Massstäben genügte und zugleich von einer ganz besonderen Emotionalität war. Am Werk war La Cetra, die Formation aus dem Umkreis um die Schola Cantorum Basiliensis, dem 1933 gegründeten Lehr- und Forschungsinstitut für alte Musik an der Musikhochschule Basel. Von Andrea Marcon künstlerisch geleitet, umfasst sie ein Orchester, das klar hörbar der historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet ist, also alte Instrumente (oder entsprechende Nachbauten) verwendet und die Erkenntnisse der Forschung in das Tun einbezieht, sie führt aber auch ein Vokalensemble mit professionell geschulten, ebenfalls spezialisierten Sängerinnen und Sängern, die zum Teil solistische Aufgaben übernehmen. Für die Zürcher Aufführung der Johannes-Passion war eine Besetzung vorgesehen, wie sie Bach gepflegt haben könnte. Das Klangbild wirkte daher hell und transparent, getragen von agilen Singstimmen, von milden Streichern, farbigen Bläsern und einem reichen Generalbass.

Wie der ausladende Eingangschor anhob, trat ein Moment des Erschreckens ein. Andrea Marcon setzte nicht nur auf ein flüssiges Tempo, er sorgte auch für markante Akzentsetzung, was die drängende Achtelbewegung im Instrumentalbass unterstrich. Ein dramatischer Zug trat da heraus, was das Passionsgeschehen mit Ecken und Kanten versah – nicht ganz einfach darum, weil die Juden in dieser Erzählung ausgesprochen schlecht wegkommen und man das in diesen Tagen weniger wegzustecken vermochte als gewöhnlich. Nicht geringen Anteil an der zugespitzten Dramatik hatte der vorzügliche Tenor Jakob Pilgram als Evangelist (und hier zugleich für die Einstudierung des Vokalensembles zuständig); äusserlich ganz ruhig, führte er mit agilem Ton, perfekter Diktion und packender Empathie durch die Geschichte. Neben ihm Christian Wagner, der mit seinem weichen Bass einen milden, ohne Aufhebens in sich ruhenden und gerade dadurch provozierenden Jesus gab, in den Bass-Arien allerdings zeigte, dass er auch anders kann. Eindrücklich auch Guglielmo Buonsanti aus den Reihen des Vokalensembles als Pilatus. Was Wahrheit sei, die Frage des römischen Prokurators stand beiläufig geäussert, aber in schneidender Schärfe im Raum – sie hätte nicht aktueller sein können als in diesen Tagen.

Jenseits dessen gab es musikalische Glanzlichter noch und noch. Das Vokalensemble, mit vier Mitgliedern pro Stimme besetzt, verströmte Homogenität und Beweglichkeit in einem. Bisweilen etwas beiläufig wirkten die Choräle. Natürlich bilden sie Ruhepunkte im aufgeladenen Geschehen, sie müssen deswegen jedoch nicht zwangsläufig so wenig phrasiert durchgezogen werden, wie es hier geschah; das mag allerdings auf das Konzept des Dirigenten zurückgehen, dem insgesamt weniger am Atmen als am steten Vorangehen lag. Sehr schön besetzt die vokalen Solopartien. Mit der wunderbaren, souveränen Altistin Sara Mingardo war eine Grande Dame verpflichtet, während ihr mit Shira Patchornik eine junge Sopranistin von zauberhafter stimmlicher Ausstrahlung gegenüberstand; überzeugend, wenn auch mit etwas viel Druck der Tenor Mirko Ludwig, der ebenfalls aus dem Vokalensemble kam.

Für besondere Effekte sorgten die Musikerinnen und Musiker in den Arien mit konzertierenden Instrumenten, etwa die Konzertmeisterin Eva Saladin und ihr Kollege Germán Echeverri Chamorro an den Violen d’amore oder Teodoro Baù an der Viola da gamba. Und fantasievoll der Basso continuo mit dem Cellisten Jonathan Pešek, dem Cembalisten Johannes Keller, dem Organisten Joan Bonat Sanz und der Lautenistin Maria Ferré. Auch als Ganzes, als Klangkörper insgesamt, liess La Cetra keinen Wunsch offen. An Barockorchestern herrscht ja kein Mangel; in diesem Kosmos kann sich die Basler Formation sehr wohl hören lassen. Jetzt geht diese formidable Johannes-Passion auf Reisen nach Spanien und Frankreich. Und das Forum für Alte Musik Zürich kann sich einen weiteren Grosserfolg ins Stammbuch schreiben.

Im Zauberreich der barocken Koloratur

Händels «Alcina» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Valer Sabadus und Nicole Heaston in der Basler «Alcina» / Bild Theater Basel, Priska Ketterer

Dass die Hauptdarstellerin eine Woche vor der Premiere das Handtuch wirft, ist natürlich ein Alptraum. Wenn sich aus dem Unglück aber solches Glück ergibt, wie es jetzt am Theater Basel bei «Alcina» von Georg Friedrich Händel geschehen ist, kann man sich nur die Augen reiben. Warum die berühmte Kate Royal ausgestiegen ist, darüber lässt sich nur, aber doch trefflich spekulieren. Dass mit Nicole Heaston eine Sängerin für die Rolle der Zauberin Alcina gefunden wurde, die alles andere ist als ein Ersatz, die vielmehr innerhalb einer Woche zum Gravitationszentrum der Produktion geworden ist, das macht den Abend zum Ereignis.

Nicole Heaston wirkt wie ein Star aus der New Yorker Met – und das ist sie auch: In dem ästhetisch verschlafenen Riesentanker hat sie etwa unter der Leitung von James Levine die Pamina in Mozarts «Zauberflöte» gesungen. Die Basler «Alcina» stellt davon ungefähr das Gegenteil dar. Musikalisch steht die Produktion der Schola Cantorum Basiliensis nahe, dem von Paul Sacher gegründeten Lehr- und Forschungsinstitut für alte Musik an der Musikakademie Basel, im Graben agiert das Basler Barockorchester La Cetra und am Pult, nein am Cembalo des Kapellmeisters wirkt mit Andrea Marcon ein Mann, der genau weiss, was Sache ist. Und mehr noch: der dem Abend eine ungeheure Energie einflösst. Wie sich Nicole Heaston auf ihn einliess und sich aufmachte, ist absolut hörenswert.

Gewiss bildet die hergebrachte Gesangstechnik auch bei diesem Auftritt die Basis. Aber die amerikanische Sopranistin arbeitet am Dauervibrato, fügt da und dort gerade Töne ein und versieht die Verläufe so mit besonderer Spannung. Und wie sie in den Dacapos, die an diesem Abend allesamt ausgeführt werden, wie sie in diesen Wiederholungen der Hauptteile nach einem Nebenteil mit den Verzierungen umgeht, kann nur bewundert werden. Dazu kommen das ausserordentliche Charisma und die packende Bühnenpräsenz der Sängerin. Die Figur der Alcina entfernt sich hier vom Rollenklischee der bösen Zauberin und erhält Züge einer liebenden Frau – einer vielleicht tragisch, ja krankhaft, aber doch wahrhaftig liebenden Frau.

Grundlage dafür ist ein ganz und gar selbstverständlicher, sehr spontan wirkender Umgang mit den Prämissen der historisch informierten Aufführungspraxis. Das Orchester, in der besuchten Vorstellung bei blendender Laune, ist klein besetzt; wenn einmal die Oboen, die Blockflöten oder die Hörner eingreifen, macht das ordentlich Effekt. In dem klanglich eng abgesteckten Raum vermögen die zwei Cembali und zwei Lauten, die durchgehend explizit gespielt werden, prächtige Abwechslung zwischen glanzvoller Ausstaffierung und hochemotionaler Unterstreichung zu erzeugen. Und dass sprechend artikuliert, dass auch klar zwischen schweren und leichten Taktteilen unterschieden wird, versteht sich hier von selbst.

Dazu kommt, jenseits der Hauptrolle der Alcina, eine Besetzung, die nicht anders als exquisit genannt werden kann – dass solches in einem Mehrspartenhaus möglich ist, mag man kaum glauben. Ruggiero, der von der Zauberin in ihren Fängen gehaltene Ritter, wird von Valer Sabadus verkörpert, einem rasch aufsteigenden Countertenor der neuen Generation mit brillanter Technik und einem nirgends scharfen, nirgends näselnden, sondern samtig weichen Timbre. Hinreissend die Koloraturensicherheit von Katarina Bradić (Bradamante) und Alice Borciani (Oberto), erstaunlich die Agilität von Bryony Dwyer (Morgana), Nathan Haller (Oronte) und José Coca Laza (Melisso), übrigens alles Mitglieder des Basler Opernstudios OperAvenir.

Etwas beliebig blieb einzig die Inszenierung, die Lydia Steier im Bühnenbild von Flurin Borg Madsen und mit den Kostümen von Gianluca Falaschi entwickelt hat. Sie spart nicht mit den Überraschungseffekten, die in dieser heute wohl erfolgreichsten der Opern Händels gefordert sind, kann aber nicht vergessen machen, dass die Lösung des zuvor geschürzten Knotens in dritten Akt gar lange auf sich warten lässt. Dramaturgisch hat das Stück hier eine Schwäche, wenigstens von heute aus gesehen – zu Händels Zeit galt der Kette der Arien mehr Aufmerksamkeit als der schlüssigen und energisch voranschreitenden Handlung. Meist wird das Stück darum gekürzt. In Basel wird es vollständig gezeigt, was immerhin auch eine Erfahrung darstellt.