Ein ertragreicher Monat mit dem Tonhalle-Orchester Zürich
Von Peter Hagmann
Seine Aufgabe als Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich nimmt Paavo Järvi mit allem Engagement wahr. In den Monaten, da die Tonhalle Maag der Pandemie wegen geschlossen bleiben musste, blieb er unverbrüchlich an der Seite des Orchesters, machte mit ihm CD-Aufnahmen und erarbeitete er mit ihm Konzerte, die vor leerem Saal stattfanden, aber aufgezeichnet und über die Streaming-Plattform Idagio oder über der Website des Orchesters an eine virtuelle Öffentlichkeit weitergegeben wurde. Als zu Beginn der Saison 2021/22 die Einschränkungen etwas gelockert wurden, konnte Mitte September unter Järvis musikalischer Leitung die Wiedereröffnung der rundum erneuerten Tonhalle am See feierlich begangen werden – mit Mahlers Dritter von 1896 und darauf mit einem Fest für die neue Orgel, dessen Höhepunkt die Dritte von Camille Saint-Saëns aus dem Jahre 1886 bildete, die sogenannte Orgel-Sinfonie. Mit zwei Werken übrigens, die stilistisch denkbar weit voneinander entfernt sind, die sich in ihren Schlusstakten mit den mächtigen Paukenschlägen jedoch überraschend gleichen.
In der Folge blieb Järvi an Bord; er ging Beethoven an (die «Eroica»), er legte Brahms aus, beide Sinfonien Teil des Programms einer notgedrungen abgesagten Tournee nach Japan – doch dann war Pause. Kam es zu einer Phase mit Gastdirigenten, traten unterschiedliche Handschriften heraus, blieb sich das Orchester treu und klang doch immer wieder anders, selbst der renovierte, akustisch verbesserte Saal zeigte sich von verschiedenen Seiten. Dies letztere wahrzunehmen war von besonderem Interesse. So wie ein Orchester mit jedem Dirigenten anders klingt, so verändert sich das akustische Profil eines Saals je nach den auf dem Podium wirkenden Interpreten – und das Mass, in dem das in der Grossen Tonhalle möglich ist, spricht für die exzellente Qualität des aufgefrischten, vom Staub der Jahrzehnte befreiten und mit einem neuen, wieder schwingenden Fussboden versehenen Zürcher Saals. Gewiss, die Differenzen gehen nicht ins Grundsätzliche, sie werden durch minimale Verschiebungen erzeugt. Und die Wahrnehmung dieser Verschiebungen ist natürlich subjektiv geprägt, so dass diesbezüglich keine Wahrheiten verkündet, bloss Denkanstösse vermittelt werden können.
Bei John Eliot Gardiner etwa, der Ende November mit dem Monteverdi Choir beim Tonhalle-Orchester gastierte und «L’Enfance du Christ», das selten gespielte Weihnachtsoratorium von Hector Berlioz, mitgebracht hatte – bei John Eliot Gardiner erhielten die vier eingesetzten Kontrabässe ausserordentliche Präsenz, jedenfalls mehr als die geringe Anzahl der beteiligten Musiker erwarten liess. Nicht dass der Saal vibriert hätte, es ergab sich einfach eine gut fundierte und klar zeichnende Basswirkung – dies im Rahmen eines aufgelichteten, farbenreichen Klangbilds. Keine Frage, dass diesem Effekt Gardiners Erfahrungen im Bereich der alten Musik und der historischen Praxis zugrundliegen, wo ein einzelner Violone bisweilen mehr Fundament zu erzeugen vermag als eine stärker besetzte Gruppe von Kontrabässen herkömmlicher Bauart. Umgekehrt konnte das Tonhalle-Orchester seinerseits von seinen Annäherungen an das historisch informierte Spiel ausgehen, wie es sie mit Frans Brüggen und Ton Koopman erprobt und entwickelt hat. Differenzierter Einsatz des Vibratos bei den Streichern ist hier kein Thema mehr.
Das alles bot beste Voraussetzungen für eine exzellente Wiedergabe eines eigenartigen, in seiner Weise tief berührenden Werks. Es erzählt nicht die Weihnachtsgeschichte in herkömmlicher Art, sondern setzt nach der Geburt Jesu an, da der degenerierte, in seinen wahnhaften Ängsten gefangene König Herodes auf der Suche nach dem ihn bedrohenden Knaben vor nichts zurückschreckt, da Maria und Josef zur Flucht gezwungen sind und in Ägypten um ein Haar kein Nachtlager finden – was wäre aktueller? Es gibt einen Erzähler (Andrew Staples), dazu kommen die sehr plastisch, geradezu opernmässig geformten Figuren von Herodes (William Thomas), Maria (Ann Hallenberg) und Joseph (Ashley Riches), während das Orchester die drei Teile des Werks in vielschichtiger Weise einkleidet. Zwischenspiele gliedern das Geschehen, illustrieren es aber auch nach der Art von Programmmusik – wie etwa in dem reizenden Duo für zwei Flöten und Harfe, das im Haus des ismaelitischen Gastgebers erklingt. Und es fehlt nicht an Chornummern, die von dem staunenswerten Monteverdi Choir in grandioser Weise ausgeführt wurden. Und wie es bei John Eliot Gardiner gerne geschieht, wurde auch mit dem Raum ausserhalb des Konzertsaals gearbeitet; dorthin zog sich die Musik am Ende in einem immer ferner wirkenden Pianissimo zurück.
Die Kunst der hochdifferenzierten Gelassenheit führte auch Marek Janowski vor – und das in einem Programm mit Wagner und Strauss. In grosser Besetzung versammelte sich das Tonhalle-Orchester – aber interessant: Die Bässe trugen weniger auf, als sie es in der kleineren Besetzung bei Gardiner taten. Das war nun eindeutig eine interpretatorische Entscheidung des Dirigenten. Janowski ist bekannt für einen unaufgeregten, nüchternen Zugang zur Musik, die beiden vorbildlichen Gesamtaufnahmen von Wagners «Ring des Nibelungen» sprechen davon; Wagner lebt bei ihm nie von wuchtigem Pathos, schon gar nicht von donnernden Bässen. Das heisst nicht, dass seine Auslegungen sachlich oder gar flach wirkten; die Expressivität entsteht bei Janowski nicht durch interpretatorisches Wollen, sondern gleichsam von selbst aus den vom Komponisten angelegten Strukturen. Dazu kommt eine Souveränität, die sich aus der reichen Erfahrung des 82-jährigen Dirigenten gerade in diesem Repertoire speist. Janowski muss da niemand mehr etwas vormachen, er dirigierte auch praktisch das ganze Programm auswendig. Das Orchester spendete ihm am Schluss denn auch seinen eigenen Beifall.
Vor allem aber pflegt Janowski bei der Musik der deutschen Spätromantik einen feingliedrigen, in hohem Masse durchhörbaren Ton – dem die Akustik der Grossen Tonhalle allen Raum liess: Nach den Momenten der gehobenen, vom Saal problemlos getragenen Lautstärke in den Tagen der Wiedereröffnung erwies sich hier, dass der erneuerte Raum auch die klangliche Kompaktheit relativiert, also auch besser ins Innere der musikalischen Verläufe hineinhören lässt. Welchen Gewinn das bringt, liess beim Abend mit Janowski Richard Wagners «Siegfried»-Idyll hören, das nicht solistisch besetzt war, aber solistisch wirkte; dabei verband sich das ziselierte Klangbild mit einer meisterlich kontrollierten Steigerung des Grundzeitmasses, was zu einer hinreissenden Wiedergabe dieses einzigartigen Geburtstagsgeschenks führte. Ähnlich zurückhaltend, gleichzeitig enorm klangschön gelang Janowski und dem Orchester Vorspiel und Bacchanale aus Wagners «Tannhäuser» – wobei hier auch zutage trat, dass Noblesse und Temperament sich keineswegs ausschliessen. Besonders zum Vorteil gereichte der Verzicht auf Druck und Unterstreichung der Musik von Richard Strauss. Bei «Vier letzten Liedern» war das darum weniger zu spüren, weil Hanna-Elisabeth Müller, die für Anja Harteros eingesprungen war, ihre zugegebenermassen sehr schöne Stimme exponierte und zu wenig vom Wort her agierte. Die Tondichtung «Tod und Verklärung» jedoch gelang vorbildlich.
In der Woche danach folgte auf den Altmeister ein Jungspund. Antonello Manacorda ist zwar auch schon über fünfzig, aber er nimmt sein Podest im Sprint, und seine Zeichengebung strahlt ungeheuer Energie aus. An diesem Abend vielleicht ein wenig zu viel, denn das Tonhalle-Orchester klang bisweilen etwas harsch. Auch das gehört zu den Eigenheiten des Saals: Die im Rahmen der akustischen Neuausrichtung vorgenommene leichte Anhebung der Obertöne führt dazu, dass das Fortissimo rasch scharfkantig wird, dass hier also besonders sorgfältig dosiert werden muss – für einen Gastdirigenten, der beim Tonhalle-Orchester debütiert, keine leichte Sache. Tatsache ist gleichwohl, dass Manacorda, er entstammt der Schule Claudio Abbados, zu den bemerkenswertesten Dirigenten seiner Generation gehört, an seiner jüngst erschienenen Aufnahme der drei letzten Sinfonien Mozarts mit der von ihm als Chefdirigent geleiteten Kammerakademie Potsdam lässt es sich nachvollziehen. Zu hören war es auch bei der Kammersinfonie Nr. 2 von Arnold Schönberg, einem etwas spröden Stück, das Erich Schmid 1950 erstmals zum Tonhalle-Orchester gebracht hat, das seitdem dort aber nie mehr erklungen ist. Manacorda hauchte dem konventionell gebauten, in sehr erweiterter Tonalität gehaltenen Dreisätzer erstaunlich viel Leben ein.
Besonders vital wirkte Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert in d-moll KV 466. Das lag zuallererst an Francesco Piemontesi, dem nach Mitsuko Uchida und Leif Ove Andsnes dritten der für diesen Abend vorgesehenen Solisten. Der Einstieg in das Konzert wirkte sehr gepflegt, in einem natürlichen, schlanken Ton, doch trotz dem frischen Tempo fast etwas brav. Bald manifestierten sich freilich andere Facetten. Wurde deutlich, wie Piemontesi im Solopart Dialoge zwischen einzelnen Stimmen entdeckt und ans Licht bringt – was Manacorda mit dem Orchester brillant aufnahm. Im Mittelsatz griffen dann phantasievolle Verzierungen Raum, auch Nuancierungen des Tempos und quirliges Konzertieren mit dem Orchester, mit dem der Solist jederzeit in engem Kontakt stand. So frisch hört man ein so bekanntes Werk selten. Etwas mehr Mühe machte die Sinfonie Nr. 8, C-dur, von Franz Schubert. Himmlische Längen gab es keine, denn Manacorda schlug in allen Sätzen sehr flüssige Tempi an, das verlieh der klar ins Grosse zielenden Sinfonie einen spezifischen Zug. Nicht restlos überzeugend gemeistert war die Balance; vor allem im Finale traten Trompeten und Posaunen auf Kosten der übrigen Register zu sehr hervor und gerieten die zahlreichen Akkordwiederholungen zu lärmigem Stampfen – ein Problem, das bekannt und schwer zu lösen ist. Nicht auszuschliessen, dass es Antonello Manacorda eines Tages gelingt.