Weisheit des Alters, Kraft der Jugend

Ein ertragreicher Monat mit dem Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Seine Aufgabe als Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich nimmt Paavo Järvi mit allem Engagement wahr. In den Monaten, da die Tonhalle Maag der Pandemie wegen geschlossen bleiben musste, blieb er unverbrüchlich an der Seite des Orchesters, machte mit ihm CD-Aufnahmen und erarbeitete er mit ihm Konzerte, die vor leerem Saal stattfanden, aber aufgezeichnet und über die Streaming-Plattform Idagio oder über der Website des Orchesters an eine virtuelle Öffentlichkeit weitergegeben wurde. Als zu Beginn der Saison 2021/22 die Einschränkungen etwas gelockert wurden, konnte Mitte September unter Järvis musikalischer Leitung die Wiedereröffnung der rundum erneuerten Tonhalle am See feierlich begangen werden – mit Mahlers Dritter von 1896 und darauf mit einem Fest für die neue Orgel, dessen Höhepunkt die Dritte von Camille Saint-Saëns aus dem Jahre 1886 bildete, die sogenannte Orgel-Sinfonie. Mit zwei Werken übrigens, die stilistisch denkbar weit voneinander entfernt sind, die sich in ihren Schlusstakten mit den mächtigen Paukenschlägen jedoch überraschend gleichen.

In der Folge blieb Järvi an Bord; er ging Beethoven an (die «Eroica»), er legte Brahms aus, beide Sinfonien Teil des Programms einer notgedrungen abgesagten Tournee nach Japan – doch dann war Pause. Kam es zu einer Phase mit Gastdirigenten, traten unterschiedliche Handschriften heraus, blieb sich das Orchester treu und klang doch immer wieder anders, selbst der renovierte, akustisch verbesserte Saal zeigte sich von verschiedenen Seiten. Dies letztere wahrzunehmen war von besonderem Interesse. So wie ein Orchester mit jedem Dirigenten anders klingt, so verändert sich das akustische Profil eines Saals je nach den auf dem Podium wirkenden Interpreten – und das Mass, in dem das in der Grossen Tonhalle möglich ist, spricht für die exzellente Qualität des aufgefrischten, vom Staub der Jahrzehnte befreiten und mit einem neuen, wieder schwingenden Fussboden versehenen Zürcher Saals. Gewiss, die Differenzen gehen nicht ins Grundsätzliche, sie werden durch minimale Verschiebungen erzeugt. Und die Wahrnehmung dieser Verschiebungen ist natürlich subjektiv geprägt, so dass diesbezüglich keine Wahrheiten verkündet, bloss Denkanstösse vermittelt werden können.

Bei John Eliot Gardiner etwa, der Ende November mit dem Monteverdi Choir beim Tonhalle-Orchester gastierte und «L’Enfance du Christ», das selten gespielte Weihnachtsoratorium von Hector Berlioz, mitgebracht hatte – bei John Eliot Gardiner erhielten die vier eingesetzten Kontrabässe ausserordentliche Präsenz, jedenfalls mehr als die geringe Anzahl der beteiligten Musiker erwarten liess. Nicht dass der Saal vibriert hätte, es ergab sich einfach eine gut fundierte und klar zeichnende Basswirkung – dies im Rahmen eines aufgelichteten, farbenreichen Klangbilds. Keine Frage, dass diesem Effekt Gardiners Erfahrungen im Bereich der alten Musik und der historischen Praxis zugrundliegen, wo ein einzelner Violone bisweilen mehr Fundament zu erzeugen vermag als eine stärker besetzte Gruppe von Kontrabässen herkömmlicher Bauart. Umgekehrt konnte das Tonhalle-Orchester seinerseits von seinen Annäherungen an das historisch informierte Spiel ausgehen, wie es sie mit Frans Brüggen und Ton Koopman erprobt und entwickelt hat. Differenzierter Einsatz des Vibratos bei den Streichern ist hier kein Thema mehr.

Das alles bot beste Voraussetzungen für eine exzellente Wiedergabe eines eigenartigen, in seiner Weise tief berührenden Werks. Es erzählt nicht die Weihnachtsgeschichte in herkömmlicher Art, sondern setzt nach der Geburt Jesu an, da der degenerierte, in seinen wahnhaften Ängsten gefangene König Herodes auf der Suche nach dem ihn bedrohenden Knaben vor nichts zurückschreckt, da Maria und Josef zur Flucht gezwungen sind und in Ägypten um ein Haar kein Nachtlager finden – was wäre aktueller? Es gibt einen Erzähler (Andrew Staples), dazu kommen die sehr plastisch, geradezu opernmässig geformten Figuren von Herodes (William Thomas), Maria (Ann Hallenberg) und Joseph (Ashley Riches), während das Orchester die drei Teile des Werks in vielschichtiger Weise einkleidet. Zwischenspiele gliedern das Geschehen, illustrieren es aber auch nach der Art von Programmmusik – wie etwa in dem reizenden Duo für zwei Flöten und Harfe, das im Haus des ismaelitischen Gastgebers erklingt. Und es fehlt nicht an Chornummern, die von dem staunenswerten Monteverdi Choir in grandioser Weise ausgeführt wurden. Und wie es bei John Eliot Gardiner gerne geschieht, wurde auch mit dem Raum ausserhalb des Konzertsaals gearbeitet; dorthin zog sich die Musik am Ende in einem immer ferner wirkenden Pianissimo zurück.

Die Kunst der hochdifferenzierten Gelassenheit führte auch Marek Janowski vor – und das in einem Programm mit Wagner und Strauss. In grosser Besetzung versammelte sich das Tonhalle-Orchester – aber interessant: Die Bässe trugen weniger auf, als sie es in der kleineren Besetzung bei Gardiner taten. Das war nun eindeutig eine interpretatorische Entscheidung des Dirigenten. Janowski ist bekannt für einen unaufgeregten, nüchternen Zugang zur Musik, die beiden vorbildlichen Gesamtaufnahmen von Wagners «Ring des Nibelungen» sprechen davon; Wagner lebt bei ihm nie von wuchtigem Pathos, schon gar nicht von donnernden Bässen. Das heisst nicht, dass seine Auslegungen sachlich oder gar flach wirkten; die Expressivität entsteht bei Janowski nicht durch interpretatorisches Wollen, sondern gleichsam von selbst aus den vom Komponisten angelegten Strukturen. Dazu kommt eine Souveränität, die sich aus der reichen Erfahrung des 82-jährigen Dirigenten gerade in diesem Repertoire speist. Janowski muss da niemand mehr etwas vormachen, er dirigierte auch praktisch das ganze Programm auswendig. Das Orchester spendete ihm am Schluss denn auch seinen eigenen Beifall.

Vor allem aber pflegt Janowski bei der Musik der deutschen Spätromantik einen feingliedrigen, in hohem Masse durchhörbaren Ton – dem die Akustik der Grossen Tonhalle allen Raum liess: Nach den Momenten der gehobenen, vom Saal problemlos getragenen Lautstärke in den Tagen der Wiedereröffnung erwies sich hier, dass der erneuerte Raum auch die klangliche Kompaktheit relativiert, also auch besser ins Innere der musikalischen Verläufe hineinhören lässt. Welchen Gewinn das bringt, liess beim Abend mit Janowski Richard Wagners «Siegfried»-Idyll hören, das nicht solistisch besetzt war, aber solistisch wirkte; dabei verband sich das ziselierte Klangbild mit einer meisterlich kontrollierten Steigerung des Grundzeitmasses, was zu einer hinreissenden Wiedergabe dieses einzigartigen Geburtstagsgeschenks führte. Ähnlich zurückhaltend, gleichzeitig enorm klangschön gelang Janowski und dem Orchester Vorspiel und Bacchanale aus Wagners «Tannhäuser» – wobei hier auch zutage trat, dass Noblesse und Temperament sich keineswegs ausschliessen. Besonders zum Vorteil gereichte der Verzicht auf Druck und Unterstreichung der Musik von Richard Strauss. Bei «Vier letzten Liedern» war das darum weniger zu spüren, weil Hanna-Elisabeth Müller, die für Anja Harteros eingesprungen war, ihre zugegebenermassen sehr schöne Stimme exponierte und zu wenig vom Wort her agierte. Die Tondichtung «Tod und Verklärung» jedoch gelang vorbildlich.

In der Woche danach folgte auf den Altmeister ein Jungspund. Antonello Manacorda ist zwar auch schon über fünfzig, aber er nimmt sein Podest im Sprint, und seine Zeichengebung strahlt ungeheuer Energie aus. An diesem Abend vielleicht ein wenig zu viel, denn das Tonhalle-Orchester klang bisweilen etwas harsch. Auch das gehört zu den Eigenheiten des Saals: Die im Rahmen der akustischen Neuausrichtung vorgenommene leichte Anhebung der Obertöne führt dazu, dass das Fortissimo rasch scharfkantig wird, dass hier also besonders sorgfältig dosiert werden muss – für einen Gastdirigenten, der beim Tonhalle-Orchester debütiert, keine leichte Sache. Tatsache ist gleichwohl, dass Manacorda, er entstammt der Schule Claudio Abbados, zu den bemerkenswertesten Dirigenten seiner Generation gehört, an seiner jüngst erschienenen Aufnahme der drei letzten Sinfonien Mozarts mit der von ihm als Chefdirigent geleiteten Kammerakademie Potsdam lässt es sich nachvollziehen. Zu hören war es auch bei der Kammersinfonie Nr. 2 von Arnold Schönberg, einem etwas spröden Stück, das Erich Schmid 1950 erstmals zum Tonhalle-Orchester gebracht hat, das seitdem dort aber nie mehr erklungen ist. Manacorda hauchte dem konventionell gebauten, in sehr erweiterter Tonalität gehaltenen Dreisätzer erstaunlich viel Leben ein.

Besonders vital wirkte Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzert in d-moll KV 466. Das lag zuallererst an Francesco Piemontesi, dem nach Mitsuko Uchida und Leif Ove Andsnes dritten der für diesen Abend vorgesehenen Solisten. Der Einstieg in das Konzert wirkte sehr gepflegt, in einem natürlichen, schlanken Ton, doch trotz dem frischen Tempo fast etwas brav. Bald manifestierten sich freilich andere Facetten. Wurde deutlich, wie Piemontesi im Solopart Dialoge zwischen einzelnen Stimmen entdeckt und ans Licht bringt – was Manacorda mit dem Orchester brillant aufnahm. Im Mittelsatz griffen dann phantasievolle Verzierungen Raum, auch Nuancierungen des Tempos und quirliges Konzertieren mit dem Orchester, mit dem der Solist jederzeit in engem Kontakt stand. So frisch hört man ein so bekanntes Werk selten. Etwas mehr Mühe machte die Sinfonie Nr. 8, C-dur, von Franz Schubert. Himmlische Längen gab es keine, denn Manacorda schlug in allen Sätzen sehr flüssige Tempi an, das verlieh der klar ins Grosse zielenden Sinfonie einen spezifischen Zug. Nicht restlos überzeugend gemeistert war die Balance; vor allem im Finale traten Trompeten und Posaunen auf Kosten der übrigen Register zu sehr hervor und gerieten die zahlreichen Akkordwiederholungen zu lärmigem Stampfen – ein Problem, das bekannt und schwer zu lösen ist. Nicht auszuschliessen, dass es Antonello Manacorda eines Tages gelingt.

Unten durch und ganz zuoberst

Zwei sehr spezielle Abende in der Tonhalle Maag Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Konzerte können ganz schön aufregend sein. So war es vor gut dreissig Jahren, als Viktoria Mullova zum ersten Mal in Zürich auftrat. Etwas über zwanzig Jahre alt, war die bei Moskau geborene Geigerin aus der Sowjetunion in den Westen geflohen und hatte dort rasch auf sich aufmerksam gemacht. Ebenso rasch wurde sie von der Plattenindustrie entdeckt und als die kühle Schlanke aus dem Osten als Gegenbild zu Anne-Sophie Mutter aufgebaut. In dichter Folge erschienen grandiose Aufnahmen aus dem Kanon der Geigenliteratur, zum Beispiel das Violinkonzert von Jean Sibelius, bei dem sie vom Boston Symphony Orchestra und seinem damaligen Chefdirigenten Seiji Ozawa begleitet wurde: ein Highlight. Des in jeder Hinsicht anforderungsreichen Lebens als reisende Virtuosin überdrüssig, zog sie sich aber nach und nach zurück. Sie begann, sich der Improvisation zuzuwenden wie auch der neuen Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis.

Jetzt ist sie in ihre Stammlande zurückgekehrt und mit dem Violinkonzert von Sibelius in die Tonhalle Maag gekommen. Das hätte sie nicht tun sollen, die Darbietung war peinlich. Schon technisch wollte es nicht klappen, wie die beträchtlichen Intonationstrübungen und die geschmacklosen Glissandi hören liessen. Ein Ton darf daneben gehen, gewiss, ein Legato mit Lagenwechsel kann zu einem Schmierer werden – wenn die Interpretation soviel attraktives Profil ausbildet, dass sie die technischen Mängel kompensiert. Genau das war bei Viktoria Mullova nicht der Fall. Lieblos und gleichgültig spielte sie ihren Part herunter, all die vielen Momente des Spannungsaufbaus, auch in der Gemeinschaft mit dem Orchester, liess sie verstreichen, das in diesem wunderbaren Stück so naheliegenden wie notwendigen Singen auf der Geige gelang ihr nicht, auch weil ihr Ton eigenartig matt blieb. Es klang, als hätte sie sich einer Pflichtübung zu entledigen. Traurig. Was Viktoria Mullova kann und mag, das erwies der als Encore nachgereichte Bach.

Dabei wären die Voraussetzungen nicht schlecht gewesen. Der Auftritt erfolgte im Rahmen einer Tournee, die das Estnische Festivalorchester und seinen Dirigenten Paavo Järvi durch Europa führt. Das vom designierten Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich gegründete Elite-Orchester darf sich in der Tat hören lassen. Im Konzert von Sibelius blieb Järvi zuverlässig bei der Stange, in der sechsten Sinfonie, h-moll, von Dmitri Schostakowitsch, die neben zwei Kompositionen des Esten Arvo Pärt erklang, kamen dann das Können und die Spiellust der meist jungen Menschen um Järvi zu bester Geltung. Der Kopfsatz war die reine Depression, im Mittelsatz begann sich das Temperament des Komponisten zu regen, und im Finale kam es zu einem höllisch überdrehten, allerdings hochvirtuos dargebotenen Kehraus. Dass das Publikum danach von den Sitzen sprang, lag nahe. Leider haben nicht ganz alle daran gedacht, was Schostakowitsch mit diesem Tsching-Bumm gemeint hat.

Übrigens war der provisorische Konzertsaal in der Tonhalle Maag dem lautstarken Auftritt der Gäste aus dem Baltikum durchaus gewachsen – wie es zwei Tage zuvor beim Requiem Giuseppe Verdis der Fall gewesen war. Mit von der Partie war dort der schlicht sagenhafte Monteverdi Choir unter der Leitung seines Gründers John Eliot Gardiner; er setzte auch in diesem Saal den Massstab, dem sich alle anderen hier auftretenden Chöre und Akademien zu stellen haben. Nach dem gehauchten, nur selten von strahlendem Forte unterbrochenen Eröffnungssatz liess Gardiner das «Dies irae», den Tag des Zorns, zu einem wahren Weltuntergang werden. Unglaublich die Kraft, die der Chor hier an den Tag legte, und die klangliche Schönheit, die er auch in den Augenblicken der Explosion zu bewahren wusste. Mit dabei war das Tonhalle-Orchester Zürich, dessen Streicher im Umgang mit dem vibratolosen Spiel nun schon bewandert sind und dementsprechend berückende Wirkung erzielten. Grossartig vor allem der Cimbasso anstelle der Kontrabasstuba – auffällig vor allem deshalb, weil die Blechbläser fürs Fortissimo aufzustehen hatten. Schade nur, einmal mehr soll es gesagt sein, dass die Mitglieder des Chors im Programm namentlich angeführt waren, dasselbe für das Orchester aber nicht galt. Das ist keine gute Entscheidung, auch wenn ist das Programmheft inzwischen kostenlos zu haben ist.

Sensationelles begab sich an diesem Abend in der Reihe der an der Rampe agierenden Vokalsolisten. Sopran und Bass waren in allerletzter Minute eingesprungen; beide liessen sie empfinden, welchen Seiltanz Musizieren bedeuten kann, und beide legten sie tadellos Auftritte hin. Die Sopranistin Corinne Winters, die junge Amerikanerin, die in Zürich als Mélisande zu hören war und inzwischen, von Basel aus, als Violetta Valéry durch die Opernhäuser der Welt zieht, berückte durch ein prachtvoll ausgebautes Brustregister und eine ganz zarte, lichte Höhe, vor allem aber auch durch makellose Diktion. Während der Bass Tareq Nazmi, der in Beethovens Neunter zur Eröffnung der Tonhalle Maag mitgewirkt hatte, eine angesichts der Situation geradezu meisterliche Sicherheit erkennen liess. Grossartig die Mezzosopranistin Marianna Pizzolato, die nicht nur die Finessen der italienischen Gesangskunst souverän beherrscht, sondern auch intensiv gestaltet: mit geschmeidigem Wohlklang und aus einer ganz spontanen Musikalität heraus. Bei Michael Spyres schlösse man, wüsste man nicht, dass er Amerikaner ist, auf italienische Herkunft – so idiomatisch bewegte er sich in seinem Part. Der Saal war ausverkauft, die Stimmung aufgeheizt – so aufregend können Konzerte sein.

Theater zum Hören

Lucerne Festival III – John Eliot Gardiner und die Opern Monteverdis

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Exerzitium war das, ebenso aufschluss- wie erlebnisreich. An drei langen Abenden die drei Opern, die von Claudio Monteverdi überliefert sind, und das in strenger Kost, ohne die Wirkungen eines Bühnenbilds und ohne die Segnungen szenischer Interpretation, vielmehr ganz und gar auf die Musik konzentriert. Das war die Idee, die sich John Eliot Gardiner zusammen mit den von ihm begründeten Formationen des Monteverdi Choir und der English Baroque Soloists für den halbrunden vierhundertfünfzigsten Geburtstag des Komponisten ausgedacht – und zur Verwirklichung gebracht hat. Tatsächlich läuft das gewaltige Vorhaben seit April diesen Jahres; es macht Station in einer ganzen Reihe europäischer Städte, darunter eben Luzern.

Ohne Kompromiss

Gardiner ist nun einmal nicht Musiker allein, er wirkt auch als Unternehmer. Als sein Vertrag mit der Deutschen Grammophon auslief, dockte er nicht irgendwo anders an, sondern gründete, damals war das noch keineswegs üblich, sein eigenes Label: Soli Deo Gloria – so lautete die Zeile, mit der Johann Sebastian Bach seine Werke zu signieren pflegte. Zum dreihundertsten Geburtstag des Thomaskantors, dem er inzwischen auch ein überaus anregendes Buch gewidmet hat, brachte er dessen Kantaten zu einer Gesamtaufführung und veranstaltete damit eine Tournée durch eine Reihe bedeutender Kirchen Europas. Wenn Gardiner etwas will, will er es und bringt es auf den Punkt.

Entsprechend radikal das Monteverdi-Unternehmen – in logistischer wie in künstlerischer Hinsicht. Ein Team über fast ein Jahr für Arbeitsphasen unterschiedlicher Länge zusammenzuhalten und es bis nach Chicago und New York zu bringen, ist mit beträchtlichem logistischem Aufwand verbunden. Und unter den beteiligten Sängern waren einige, die an mehr als einem Abend in tragenden Rollen mitwirkten. Die Sopranistin Hana Blažícková zum Beispiel sang die Euridice in «L’Orfeo» sowie die weibliche Hauptrolle und die der Glücksgöttin in «L’incoronazione di Poppea» – und sie tat das mit einer hellen, überaus beweglichen Stimme und ganz selbstverständlichem Umgang mit den technischen Prämissen im Bereich der alten Gesangstechnik.

Anforderungen stellte das Monteverdi-Projekt nicht zuletzt auch ans Publikum – und da stellte sich Erstaunliches ein. Die Reihen waren dicht besetzt, die Bereitschaft, sich einzulassen und die Konzentration zu wagen, schien hoch, der Geräuschpegel hielt sich jedenfalls sehr in Grenzen, und am Ende gab es die berühmte standing ovation: das anspruchsvolle Angebot des Lucerne Festival war auf Resonanz gestossen. Wer sich den drei Werken öffnete, konnte tatsächlich eine Erfahrung der eigenen Art machen. Konnte zum Beispiel dem schöpferischen Kosmos eines Künstlers nahekommen, der vor fast einem halben Jahrtausend gelebt hat, konnte in seine musikalische Welt eintauchen und sie sich in einer Weise aneignen, wie sie im Alltag des Musikbetriebs kaum je möglich ist. Dabei konnte er ganz bewusst wahrnehmen, wie Monteverdi das Fundament baute für das, was wir heute als Oper kennen – oder anders gesagt: wie die Oper als Gattung entstand.

Sprechend singen, singend sprechen

Der frühe «Orfeo» ist noch sehr überkommenen Modellen verpflichtet. Davon zeugt der reichliche Einsatz des Chors, wovon der Monteverdi Choir mit seiner kompakten Strahlkraft glänzendes Zeugnis ablegte. Mit den Zinken, den leicht gebogenen Blasinstrumenten mit ihrem an die Trompete erinnernden Klang, und der Gruppe der fünf Posaunisten, mit den Violini piccoli und dem schnarrenden Regal für die Sphäre der Unterwelt boten die English Baroque Soloists, das ganz und gar auf seinen Dirigenten eingeschworene Ensemble, farbliche Interventionen von hohem Reiz. Aber schon in diesem Stück trat zutage, wie individuell die Figur des Orfeo gezeichnet ist. Mit seiner Kunst vermag der Sänger angriffige Tiere, ja sogar den finsteren Caronte zu bändigen, und doch ist er ein Mensch wie alle – einer mit Selbstgewissheit wie Unsicherheit. Krystian Adam brachte das mit einem etwas engen Timbre, aber hoch entwickelter Technik packend zur Geltung. Und das mit den damals neuen, von Monteverdi entwickelten Mitteln des rezitativischen Singens: mit dem Leben der Melodielinie über einem harmonisierten Bass.

Mitten in die fröhlichen Vorbereitungen zur Hochzeit von Orfeo und Euridice platzt die Botin mit der entsetzlichen Nachricht, dass die Braut einem Schlangenbiss zum Opfer gefallen sei. Was das heisst, rezitativisches Singen, und was es vermag, liess Lucile Richardot erfahren. Von einem Lautenisten begleitet, strebte sie von hinten durch den Konzertsaal des KKL auf das Podium, wo sie Schrecken und Verzweiflung auslöste – allein durch ihr Singen. Eine grossartige Künstlerin war da kennenzulernen, eine Sängerin mit einem stupenden Stimmumfang zwischen tenoraler Tiefe und zarter Höhe und eine Darstellerin von schwindelerregender expressiver Kraft. Herzerweichend sang sie im «Ritorno d’Ulisse in patria» die im Warten auf ihren Odysseus erstarrte, am Ende wieder zur Frau werdende Penelope, erheiternd in der «Incoronazione di Poppea» die Amme der ehrgeizigen Thronanwärterin.

Da sind wir im Zentrum dieser überwältigenden Operntrilogie angelangt. Nicht nur machte sie bewusst, wie gegenwärtig diese vierhundert Jahre alten Werke sind; das kindische Stampfen des narzisstischen Kaisers Nero, das der Sopranist Kangmin Justin Kim fabelhaft umsetzte, liess durchaus an einen Präsidenten unserer Tage denken. Sie führte auch exemplarisch vor, worin die epochale Leistung Monteverdis liegt. Ohne die Monodie wäre die Oper nicht geworden, was sie wurde. Und diese Art des Singens ist, wenn sie so exemplarisch ausgeführt wird, wie es in Luzern der Fall war, von einer Kraft, dass sie auch lange Abende zu tragen vermag. Im Zentrum des Ausdrucks steht, das wurde im Durchgang durch «Ulisse» und «Poppea» immer fassbarer, das Wort – das in italienischer Sprache gehaltene Wort, das an diesen drei Abenden ohne Makel ausgesprochen und weitestgehend verständlich war.

Dem Wort schmiegt sich die Musik an – und wie das realisiert wurde, war grandios. Das Ensemble der Vokalsolisten wies nicht nur Glanzlichter auf, das schon, aber alle seine Mitglieder gaben sich mit letztem Elan dem sinnerfüllten, weil eben den Text musikalisch aussprechenden Singen hin. Und das von John Eliot Gardiner mit höchster Konzentration geleitete Instrumentalensemble stand den Sängerinnen und Sängern in einer unerhört flexiblen Präzision zur Seite. Besonderen Effekt machte hier der Generalbass, der, auf zwei Seiten des Podiums plaziert, mit zwei Cembali, zwei Orgeln und vier Lauten (zum Teil unterschiedlicher Bauart) sowie einer Gambe, einem Cello und einem Kontrabass so reichhaltig wie sparsam besetzt war. Auf dieser instrumentalen Basis kamen zum Teil hinreissende vokale Momente zustande. Im «Ulisse», wo Furio Zanasi die Titelpartie mit allem technischen Raffinement versah, gelang Robert Burt ein unglaublich komischer Auftritt des Gourmands Iro und zeigte Silvia Frigato als der das Geschehen steuernde Liebesgott, was Barockgesang sein kann. Mit von der Partie waren aber auch Sänger aus dem sozusagen konventionellen Bereich – denn auf einen so klangvollen Bass wie den von Gianluca Buratto (Caronte) mag niemand verzichten.

Oper aus Musik

Alles, was die drei Abende zu Opernabenden machte, entstand allein in der Musik und aus ihr heraus. Des Szenischen war kein Bedarf. Was John Eliot Gardiner zusammen mit Elsa Rooke, dem Lichtgestalter Rick Fisher und der Kostümbildnerin Isabella Gardiner hier einbrachte, sorgte für nette Abwechslung, wirkte bisweilen aber doch recht zufällig, wenn nicht hausbacken – in der Körpersprache wurde jedenfalls nicht dieselbe Professionalität erreicht wie im musikalischen Geschehen. Das war indessen von wenig Belang, denn an den drei Abenden, an denen das Drama aus der Musik allein entstand, ging es ums Zuhören. Schon Robert Wilson hat gezeigt, wie weit das Szenische entmaterialisiert werden kann, ohne dass die dramatische Wirkung leidet. Dasselbe, wenn auch ganz anders und unter dem Strich vielleicht noch stärker, hat das Luzerner Monteverdi-Projekt erwiesen. Oper ist auch ohne Bühne Oper. Und vielleicht sogar ohne Salle Modulable.

Zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Peter Hagmann

Würze, Anregung, Überraschung

Wenn alte Musik wie neue und neue Musik wie alte klingt

 

Das Tonhalle-Orchester Zürich ist nicht nur das Tonhalle-Orchester Zürich. Die Reihe der Konzerte, die das Orchester gibt, wird immer wieder ergänzt durch Auftritte, für die Gäste eingeladen werden – die sonntägliche Kammermusik mit dem Schwerpunkt beim Streichquartett, die Série Jeunes an Montagabenden, die Extrakonzerte wären da zu nennen. Diese Zugaben bieten Würze und Anregung, bisweilen auch Überraschung – wie sich eben dieser Tage wieder erwiesen hat. Anfang Woche war der britische Dirigent John Eliot Gardiner zu Besuch, zusammen mit den Mitgliedern des Orchestre Révolutionnaire et Romantique, das seiner französischen Bezeichnung zum Trotz aus England stammt.

Farbwirkungen und Kontraste

Das von Gardiner 1989 gegründete und bis heute von ihm geleitete Orchester zählt zu den einflussreichsten Klangkörpern im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Massstäbe gesetzt haben CD-Publikationen mit Werken von Hector Berlioz, etwa der Symphonie fantastique oder der Oper «Les Troyens», aber auch die Einspielungen der Sinfonien Beethovens in derselben Zeit. Seine Wurzeln hat das Orchestre Révolutionnaire et Romantique freilich bei einem Chor: beim Monteverdi Choir, den Gardiner, damals 31 Jahre alt, 1964 gegründet hat, und dem er vier Jahre später das Monteverdi Orchestra beigesellte. Aus dieser Formation gingen 1977, als die Musiker auf alte Instrumente und die entsprechenden Spielweisen wechselten, die English Baroque Soloists hervor – die sich später dann, im Hinblick auf die Interpretation von Musik des 19. Jahrhunderts, zum Orchestre Révolutionnaire et Romantique weiterentwickelten.

Gardiner – er arbeitet auch regelmässig mit konventionell besetzten Orchestern, hat ausserdem 2013 eine mächtige Monographie über Johann Sebastian Bach vorgelegt, die inzwischen auch auf Deutsch vorliegt, wurde im Jahr darauf zum Stiftungsratspräsidenten des Bach-Archivs Leipzig gewählt, spricht neben Englisch akzentfrei Deutsch wie Französisch und betreibt im Südwesten Englands einen Bio-Bauernhof, der Mann muss mehrere Leben gleichzeitig führen – Gardiner setzt konsequent auf Instrumente, die aus der Entstehungszeit der aufgeführten Werke stammen. Bei der Symphonie fantastique von Berlioz führte das zu frappanten Ergebnissen, weil bei den Blechbläsern Instrumente französischer Bauart aus dem späten 19. Jahrhundert zur Verwendung kamen, die weitaus leichter klingen und somit ein transparenteres Gesamtbild erzeugen, als es bei konventionell besetzten Orchestern möglich ist.

Von diesem Ansatz aus gewann die zweite Serenade, A-dur, von Johannes Brahms, die das Gastspiel des Orchestre Révolutionnaire et Romantique beim Tonhalle-Orchester Zürich eröffnete, ihr besonderes Profil. Fünf Bässe bildeten einen Riegel vor der Orgel – so wie es seinerzeit Frans Brüggen in seiner Arbeit mit dem Tonhalle-Orchester wollte und wie es die Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal zu tun pflegen. Vor ihnen die jeweils doppelt besetzten Bläser, wobei die Hörner nebeneinander wirkten, bei den Holzbläsern die beiden Instrumentalisten jedoch hintereinander sassen. Vor den Bläsern schliesslich zehn Bratschen und acht Celli; Violinen hat Brahms in diesem Stück nicht vorgesehen.

Weil die Instrumente – schade, dass im Programm nichts Genaueres dazu mitgeteilt wurde – die Praxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts spiegelten, konnten sie die Musikerinnen und Musiker voll ausspielen, ohne dass der Klang massig wurde. Die Farben traten deutlich heraus und stellten sich nebeneinander, während sie sich im konventionellen Orchester eher vermischen. Besonderen Effekt machten hier die ventillosen Hörner mit ihren gestopften Tönen und dem daraus resultierenden näselnden Klang. Jedenfalls ergaben sich lebhafte Schichtungen – und dazu kam die klar herausgearbeitete Linearität, die das Pulsieren des musikalischen Satzes spürbar machte. Sehr schön ausmusiziert die Übergänge, etwa jener zur Durchführung im eröffnenden Allegro. Und mitreissend das in frischem Tempo genommene, ganztaktig geschlagene Scherzo, dessen rhythmische Verschiebungen ganz geschmeidig wirkten, während das Menuett des vierten Satzes geradezu Swing erhielt. In dieser Auslegung wusste das Stück, das sonst gerne schwierig, wenn nicht langweilig wirkt, ganz direkt zu packen.

Erst recht gilt das für Ludwig van Beethoven und sein viertes Klavierkonzert, jenes in G-dur, das sich durch einen ganz besonderen Lyrismus auszeichnet. Unerhört, mit welch geballter Faust im Mittelsatz der Goliath des Orchesters einfuhr, während der David am Klavier zart, ja zerbrechlich dagegenhielt. So, in dieser Art Wörtlichkeit, mit der klaren Unterscheidung zwischen Achteln und Vierteln, aber auch mit heftig zugespitzter Artikulation, ist das nie zu hören. Möglich wurde es, weil auf dem Podium eben kein Steinway stand, sondern ein Hammerflügel von Conrad Graf, ein Instrument aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, aber nicht als Original, sondern als Nachbau von Rodney Regier aus dem Jahre 1989, der von Edwin Beunk und Johan Wennick 2002 restauriert wurde. Ein wunderschönes Instrument: metallen in der Tiefe, obertonreich in der Mittellage, allerdings etwas kurzatmig im Diskant, wie es bei den Wiener Hammerflügeln nun einmal der Fall ist.

Der Tastengang offenbar sehr leicht, denn Kristian Bezuidenhout konnte die Virtuosität seiner Geläufigkeit ungeschmälert entfalten. Mit einem Arpeggio, nicht mit einem synchron angeschlagenen Akkord begann er die Einleitung des Solisten, und späterhin führte er vor, in welch phantasievoller Freiheit er mit dem Geschriebenen des Notentextes umzugehen und wie er in die Emotionalität der Musik einzudringen weiss. Allerdings: Vieles war nur in Umrissen wahrzunehmen, denn das Orchester war für den fragilen Klang des Soloinstruments eindeutig zu stark besetzt. Da und dort wurde der Zugriff doch arg handfest, was das dialogisierende Prinzip der Komposition in Schräglage brachte. Noch stärker zum Pauschalisieren und insgesamt bedauerlich enttäuschend geriet nach der Pause die Sinfonie Nr. 5 in B-dur, von Franz Schubert. Der Versuch, auch dieses gerne zur Harmlosigkeit degradierten Stück als eine grosse Sinfonie darzustellen, in Ehren, aber wenn die Musik so wenig federnde Energie bekommt, dafür so massiv auf grossen Ton getrimmt wird, verliert sie ihre inneren Dimensionen.

Sonntag und Samstag

Das war nicht das Gelbe vom Ei, nur: Kann es das im Konzert überhaupt geben? Natürlich kann es das, der Abend zuvor liess er erfahren. Was historisch informierte Aufführungspraxis im besten Fall zu erreichen vermag, führten im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich die Bläser des Ensembles «Le Concert d’Astrée» unter der Leitung von Emmanuelle Haïm vor. Dreizehn Herren, allesamt Meister ihres Fachs, waren hier versammelt, und vor ihnen stand, koordinierend und anfeuernd, eine Frau, übrigens eine herausragende Cembalistin. Und wenn da und dort ein Ton nicht ganz akkurat gelang, war das so wenig ein Thema wie bei der ebenfalls in historischer Praxis gebotenen «Entführung aus dem Serail» von Wolfgang Amadeus Mozart im Opernhaus Zürich: die Instrumente jener Zeit haben eben ihre Tücken.

Zur Einstimmung gab es einige Sätze aus «Le Nozze di Figaro», die der Oboist Alfredo Bernardini für die Besetzung mit je zwei Oboen, Klarinetten, Bassetthörnern, Fagotten, vier Hörnern und einem Kontrabass eingerichtet hatte. Hauptstück des Programms war jedoch die alles andere als alltägliche Gran Partita Mozarts, deren unbeschreiblich schönes Adagio in Miloš Formans Mozart-Film «Amadeus» von 1984 eine so besondere Rolle gespielt hat. Gerade dieses Adagio geriet ganz wunderbar tiefsinnig, dabei getragen vom Reiz der Farben, welche die alten Instrumente erzeugen. Eine wesentliche Rolle spielte hier und wie beim «Figaro» der Kontrabassist Axel Bouchaux, der jederzeit hochpräzis zur Stelle war und das musikalische Geschehen fast mehr noch als die Dirigentin in Gang hielt. Das zu beobachten war nicht weniger anregend als die Hörerlebnisse.

Gelegenheit zu ungewohnten Begegnungen bot auch das Tonhalle-Orchester selbst, und zwar Anfang November in seinem Samstag-/Sonntag-Abonnement. Äusserst speziell das Programm, so anregend wie anspruchsvoll in Werkwahl und Ablauf. Die Eröffnung machte «Scheherazade.2», eine «dramatische Sinfonie» oder vielleicht eher eine Sinfonische Dichtung für Violine und Orchester des bald siebzigjährigen John Adams, des jüngsten Komponisten aus der Trias der amerikanischen Minimalisten. Wer den Eindruck hat, die neue Musik Westeuropas habe sich in einer Sackgasse verrannt, kann bei dieser ästhetischen Richtung Trost suchen – ob er ihn findet, ist eine andere Frage. Leila Josefowicz, als Wunderkind und Geigensternchen bekannt geworden, inzwischen jedoch eine engagierte Vertreterin neuer Musik, nahm den ihr auf den Leib geschriebenen Solopart fulminant in die Hand: mit geradezu sportlicher Kraft und souverän bis in die letzten Schwierigkeiten hinein. Mit der «Scheherazade» von Nikolai Rimsky-Korsakow, dem Vorbild, hat Adams’ fast einstündiges Werk allerdings eine fatale Gemeinsamkeit: Es hat rasch seine Zenit erreicht, verliert sich bald in Redseligkeit und klingt eigenartig verbraucht.

Daran vermochte auch Alexander Liebreich am Dirigentenpult nichts zu ändern. Das Tonhalle-Orchester Zürich war zwar willig bei der Sache, aber vielleicht hat es dem interpretatorischen Zugriff doch an Biss gefehlt. Davon sprach das Concert Românesc, ein ganz frühes Werk von György Ligeti, dessen Witz eher hinter vorgehaltener Hand sprühte, erst recht aber «Tod und Verklärung», die Tondichtung von Richard Strauss. Hier herrschte kapellmeisterliche Tüchtigkeit. Zug und Extraversion, beides beinhaltet und fordert diese Musik ganz explizit, wollten sich aber nicht einstellen. Es war auch Samstag, nicht Sonntag.

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Zur Bach-Monographie Gardiners vgl. Gardiner über Bach in der NZZ.

Gardiner dirigiert Bach

 

Peter Hagmann

Klangsprache schönster Art

Eine erstklassige Aufnahme von Bachs h-moll-Messe

 

In der diesjährigen Osterausgabe des Lucerne Festival bildete sie einen sensationellen Höhepunkt, jetzt ist die h-moll-Messe Johann Sebastian Bachs in der Lesart von John Eliot Gardiner als CD-Aufnahme auf den Markt gekommen (Soli Deo Gloria 722). Was sich im Konzert als Sternstunde der musikalischen Interpretation eingeprägt hat, lässt sich nun medial nachvollziehen. Das ist nicht das Gleiche, aber immerhin nicht wenig, in diesem Fall sogar sehr viel. Denn hier kommt ein bald dreihundert Jahre altes Werk von höchstem intellektuellem wie kompositionstechnischem Anspruch zu einer Gegenwärtigkeit und einer sinnlichen Wirkung, wie es sich erregender kaum denken lässt. Und das aufgrund der klaren, reichen Vorstellung, die sich der Dirigent als Interpret erarbeitet hat: Auf höchstem künstlerischem Niveau lässt er das Werk in einem bruchlosen Spannungsbogen vorbeiziehen und zu einer Erzählung eigener Art werden.

John Eliot Gardiner, eine Galionsfigur der historisch informierten Aufführungspraxis wie Nikolaus Harnoncourt, kennt die Quellen und weiss, was die Entstehungszeit der Komposition vom Aufführungsstil fordert. Als Orchester sind die English Baroque Soloists nicht solistisch besetzt, sie bestehen aber aus grossartigen Solisten, wie die vielen Arien mit obligaten Instrumenten bewiesen. Dasselbe gilt für den nun wirklich professionell ausgebildeten Monteverdi Choir, aus dessen Reihen sich die acht mit solistischen Aufgaben betrauten Sänger rekrutieren. Was dieses dreissig Mitglieder zählende Ensemble an Strahlkraft wie an Beweglichkeit hören lässt, darf als ein Wunder bezeichnet werden. Der Verzicht auf das Vibrato im Verbund und dessen sehr bewusster Einsatz als Verzierung im Solo, die Reinheit der Intonation und der vokale Farbenreichtum – das führt hier zu einer Plastizität der Strukturen und einer Fasslichkeit des Ausdrucks, die beim Zuhören ganz ausserordentliche Schwingungen erzeugen.

Die vokale Ästhetik ist eine ganz andere als in herkömmlichen Aufführungen; sie orientiert sich nicht ausschliesslich, aber vielleicht doch vornehmlich am Instrumentalen. Im Vordergrund stehen also die klare Linienführung und die prononcierte Artikulation. Betont die Arbeit mit den Gewichtungen im Taktverlauf sowie mit der Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen den Sprachcharakter der Musik, so fördert die schlanke und gerade Tongebung die Klarheit der Polyphonie. Wenn die Musik Bachs zu sprechen beginnt, und wenn dieses Sprechen in durchsichtiger Vielstimmigkeit geschieht, ist man denkbar weit entfernt vom pastosen Klang des gross besetzten Bürgerchors (gegen den hiermit rein gar nichts gesagt sei) und beglückend nah an den Intentionen des Komponisten, so wie sie sich heute erkennen lassen.

Es beginnt schon mit jenem h-moll-Akkord in Terzlage, der das Werk eröffnet. Satt und prächtig klingt er, zugleich aber rein und frei von jeder Zutat. Das Instrumentale verbindet sich nahtlos mit dem Vokalen, und die Orgel, die zusammen mit dem Cembalo die harmonische Ausführung des Generalbasses besorgt, setzt mit ihrer Mixtur eine glänzende Krone auf das Geschehen. Gewiss, die eine oder andere Artikulation klingt demonstrativ – fast wie zu jenen längst vergangenen Zeiten, da Vertreter der historischen Praxis der Welt mit langem Zeigefinger weis machen wollte, wie die Musik «richtig» zu klingen habe. Das lässt sich umso eher in Kauf nehmen, als es selten geschieht und als Manier abgetan werden kann. Weitaus wichtiger ist die gestische, ja mehr noch: die geradezu körperliche Energie, die von den Chorsätzen ausgeht, seien sie homophon oder polyphon gesetzt. In den solistischen Partien kommt sie ohnehin ganz wunderbar zur Erfüllung. «Das grösste musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker» nannte der Zürcher Komponist und Musikverleger Hans Georg Nägeli Bachs h-moll-Messe. Mit seiner in langen Jahren gewachsenen Interpretation schliesst sich John Eliot Gardiner dieser Umschreibung an.