Jugendsturm? Altersweisheit?

Lucerne Festival:
Das BR-Symphonieorchester mit Simon Rattle,
das Orchestre de Paris mit Klaus Mäkelä

 

Von Peter Hagmann

 

Das Lucerne Festival ist zwar noch keineswegs vorbei. Dennoch lässt sich annehmen, dass das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München und sein neuer Chefdirigent Simon Rattle für den Höhepunkt in der diesjährigen Sommerausgabe gesorgt haben. Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 6 stand auf dem Programm des Münchner Gastspiels im Konzertsaal des KKL Luzern – eine Schicksalssinfonie für den Komponisten und ein Zentralwerk für den Dirigenten. Mahler hat die Partitur 1903 bis 1906 unter dem Eindruck endzeitlicher Gefühle geschaffen – in eigenartiger Vorausahnung dreier schwerer Schicksalsschläge. 1907 starb, noch nicht fünf Jahre alt, seine erste Tochter Maria Anna, im selben Jahr verlor er seine Position als Direktor der Wiener Hofoper, und zugleich empfing er die Diagnose jener unheilbaren Herzkrankheit, die 1911 zu seinem Tod führte.

Bei Simon Rattle wiederum, so berichtet es die Ankündigung im Gesamtprogramm des Festivals, habe die frühe Begegnung mit Mahlers Sechster zur Entscheidung für eine Laufbahn als Dirigent geführt. Als er 1987, 32 Jahre alt, bei den Berliner Philharmonikern debütierte, tat er es mit Mahlers Sechster, mit demselben Werk verabschiedete er sich von diesem Orchester, und nun, zum Auftakt der verheissungsvollen Partnerschaft in München: Mahlers Sechste, sie ist inzwischen auch schon auf CD erschienen. Verheissungsvoll ist die neue Partnerschaft, weil die Orchestermitglieder und ihr Chefdirigent intensiv am Aufbau einer gemeinsamen Basis arbeiten. Das war in Luzern zu sehen, vor allem aber zu hören. Mit seiner detailreichen Zeichensprache ging Rattle sehr konkret auf das Orchester zu, die Musikerinnen und Musiker antworteten ihm mit Einsatz und Spiellust. Ganz besonders jedoch mit emotionaler Resonanz. Über die langen Jahre seines Wirkens ist Simon Rattle zu einem Ausdrucksmusiker erster Güte geworden; bei den BR-Symphonikern mit ihrer ausgeprägten Orchesterkultur ist er damit bestens aufgehoben – weshalb die neue Konstellation zu einer glücklichen Ära werden könnte wie weiland jene mit Lorin Maazel oder Mariss Jansons.

Die Luzerner Aufführung von Mahlers Sechster wurde jedenfalls zu einem tief berührenden, ja aufwühlenden Ereignis. Unerhört heftig, angespannt bis zur letzten Faser, klanglich zugespitzt nahm Rattle den Anfang, das zweite, liebliche Thema kam dagegen ganz ruhig und still daher, wie die ebene Fläche eines Sees – nicht Kunst war das, sondern Leben, eins zu eins. Welche Weiterungen der Beginn nehmen würde, war in diesem Augenblick noch nicht zu ahnen, zu hören bekam man es dann im Finale. Beängstigend, wie die Spannung in einem düsteren Kontinuum anzog, bis sie sich im ersten Hammerschlag löste. Drei dieser Schläge hatte Mahler vorgesehen, nach der von ihm 1906 dirigierten Uraufführung ersetzte er den dritten durch einen Beckenschlag. Rattle reagierte auf des Komponisten Eingriff, indem er für diesen dritten Schlag nicht weniger als drei Perkussionisten aufbot: ein Effekt der Sonderklasse, aaber eben klar in des Komponisten Biographie verankert. Für die beiden Binnensätze wählte Rattle die spätere Reihenfolge mit dem Andante vor dem Scherzo. Farbenreich entwickelte sich der langsame Satz aus einem prononcierten Pianissimo heraus – nicht nur hier, hier aber ganz besonders konnte man an Leonard Bernsteins Mahlers-Bild denken. Im Scherzo frappierte vor allem das Trio mit seiner markigen Artikulation und den krass ausgestellten Farben, etwa jene der Klarinette.

Jede Spur von Wohlanständigkeit war in dieser Auslegung getilgt, Rattle ging aufs Ganze, wie es Nikolaus Harnoncourt bei Beethovens Fünfter 2011 zu seinem Abschied von Zürich getan hatte. Das öffnete Türen zum Werk, es schuf Einsichten und Empfindungen, die sich einem tief ins Gedächtnis eingruben. Genau das ist Klaus Mäkelä am Pult des von ihm als Chef geleiteten Orchestre de Paris nicht gelungen. Kein Wunder, Mäkelä ist 27 Jahre alt und noch ganz und gar mit sich, mit seiner Wirkung vor dem Orchester und dem Publikum beschäftigt – der heisse Wirbel, der von den Agenturen und den Medien um den jungen Mann veranstaltet wird, ändert nicht das Geringste daran. Gewiss, Mäkelä ist ein genuin begabter Dirigent, vielleicht sogar einer, der dem Orchester zuhört, sein Profil als Interpret kennt indes noch reichlich Luft nach oben. Zugegeben, die Gesamtaufnahme der Sinfonien von Jean Sibelius, die er mit dem Oslo Philharmonic erarbeitet hat, erlaubt jede Menge Hoffnung, sein Luzerner Auftritt mit dem Orchestre de Paris jedoch blieb definitiv im Rahmen des Ordentlichen.

Zum Beispiel im Violinkonzert von Peter Tschaikowsky, dessen Solopart Lisa Batiashvili, in die Farben der Ukraine gekleidet und auf diesem Weg ein Zeichen der Solidarität mit dem Nachbarland ihrer ebenfalls bedrohten Heimat Georgien setzend, mit aller Brillanz gemeistert wurde – fabelhaft war das. Das Orchester war jederzeit zur Stelle, was nicht wenig ist, wenn auch nicht genug. Bei der Symphonie fantastique von Hector Berlioz hatte das schwere Folgen. In Klaus Mäkeläs Auslegung zeigte das Stück seine effektvollen Seiten, Zeichen eines persönlichen Zugangs zu dem ebenso anregenden wie umstrittenen Werk liess sie jedoch vermissen. Dafür sah man Sprünge des Dirigenten auf das Orchester zu, als gälte es Schar Schlafwandler aufzuwecken – was keineswegs der Fall war, gab sich das Orchestre de Paris seine Dirigenten doch lustvoll hin. Und dreifahrende Schläge mit dem Taktstock gab es, wie wenn der Dirigent den Hammer aus Mahlers Sechster zu betätigen hätte: vielleicht ein Ausdruck des Temperaments, in der Sache aber unnötig. Nötig gewesen wäre die Arbeit an den Instrumentalfarben, etwa an der so herrlich schnarrenden Schwärze der tiefen Blechbläser im finalen «Dies irae» – sie blieb beiläufig und unterspielt. Ein wenig Nachdenken, über sich, über die Stücke, über das Verhältnis zwischen dem Werk und dem Interpreten, wäre gewiss von Vorteil.

Verwandlungen eines Klangkörpers

Lucerne Festival (I): Das Festivalorchester mit Riccardo Chailly und Yannick Nézet-Séguin

Von Peter Hagmann

 

Da sie mit Mitgliedern aus aller Herren Ländern besetzt seien, klängen die grossen Orchester der Welt allesamt gleich, sagt der eine Pultheroe. Sie hätten ihren eigenen Ton, wer auch immer vor ihnen stehe, meint der andere. Wie falsch beide Meinungen sind, war jetzt wieder in den Abenden mit dem Lucerne Festival Orchestra zu erleben – in zwei Abenden mit drei Neuerungen. Mit dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin stand zum ersten Mal ein als solcher engagierter Gastdirigent vor dem Orchester; Pierre Boulez, Bernard Haitink und Andris Nelsons hatten als Stellvertreter für den erkrankten beziehungsweise verstorbenen Chefdirigenten Claudio Abbado gewirkt, Nelsons zudem als Kandidat für dessen Nachfolge. Und mit der Sinfonie Nr. 4 von Dmitri Schostakowitsch drang Nézet-Séguin in ein für das Orchester ganz und gar ungewohntes Repertoire vor. Riccardo Chailly dagegen, der Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, nahm sich – nach den Eröffnungskonzerten mit Werken von Rachmaninow und Tschaikowsky – die sechste Sinfonie Gustav Mahlers vor und betrat damit erstmals jenes Zentralgebiet, mit dem sich Abbado und das Orchester profiliert hatten.

Obwohl es sich seit dem Abschied von Abbado vor fünf Jahren merklich verändert hat, nicht zuletzt in seiner Besetzung, verfügt das Lucerne Festival Orchestra, so empfinde ich es, noch immer über einen eigenen Ton, über seinen Ton. Sowohl im lautesten Bereich, der seit Abbados Tod allerdings enorm an Kraft zugenommen hat, als auch in den glanzvollen solistischen Präsentationen, wie sie von Jacques Zoon an der Flöte, Lucas Macías Navarro an der Oboe, Alessandro Carbonaro an der Klarinette und Guilhaume Santana am Fagott sowie von dem Hornisten Ivo Gass, dem Trompeter Reinhold Friedrich und dem Posaunisten Jörgen van Rijen getragen werden. Dazu kommen nun aber die Handschriften der Dirigenten, die sich doch klar voneinander unterscheiden – auch wenn sowohl Riccardo Chailly als auch Yannick Nézet-Séguin ihre deutlichsten Akzente im Fortissimo setzen. Es rauscht so mächtig, wie es zu Abbados Zeiten niemals der Fall war. Ob das Laute tatsächlich so laut klingen muss, das ist allerdings eine Frage, die an dieser Stelle offen bleiben muss.

Riccardo Chailly führt das Lucerne Festival Orchestra an straffem Zügel; entschieden ist seine Zeichengebung und, wie es der aus der Oper stammenden italienischen Tradition entspricht, oft in kleinen Einheiten des Schlags gehalten. Auf dieser Basis legte Chailly Mahlers Sechste ganz und gar im Denken und im Klang der Moderne aus. Wuchtig eröffnete der Kopfsatz mit seinem Schicksalsmotiv, mit den markanten Paukenschlägen und dem Dreiklang, der von Dur nach Moll schreitet – doch trotz der muskulösen Klanglichkeit herrschte ein hohes Mass an Transparenz. Dass darauf das Andante moderato des dritten Satzes folgte – die Reihenfolge der Sätze bleibt in Diskussion –, erschien als logisch; weniger überzeugend wirkte dagegen die gezügelte Emphase, ja die Nüchternheit dieser so berührenden Musik. Das wilde Scherzo und das sich mächtig aufbäumende Finale bildeten dann fast eine Einheit bis hin zudem gewaltigen Schluss, in dem das Schicksalsmotiv noch einmal anklingt, diesmal allerdings ohne die Erlösung nach Dur. Ausgefeilt die Lesart des Dirigenten, hervorragend die Präsentation des Orchesters – und gleichwohl blieb jener Rest an Distanz, der nun einmal zu Chailly gehört.

Vor der Macht des Schicksals die ganz einfache, brutale Macht der Mächtigen – nämlich Schostakowitschs Vierte. Sie stammt aus der Zeit, da der Komponist, nicht zuletzt mit seiner Oper «Lady Macbeth von Mzensk», seine ästhetische Position erfolgreich konsolidiert hatte, und in der er zugleich die heftigsten Schläge vonseiten der Staatsmacht entgegennehmen musste, zum Ausdruck gebracht durch den berühmt-berüchtigten Artikel «Chaos statt Musik» in der «Prawda». Genau in diesem Licht, mithin von einem biographischen Ansatz aus, scheint mir Yannick Nézet-Séguin seine Deutung dieser weit ausgreifenden, riesig besetzten Sinfonie angelegt zu haben. Die brutale Repression durch den Staatsapparat und dessen Demaskierung im grellen Operettenton, die Zartheit der in der Komponierstube keimenden Individualität und die immer wieder durchbrechende Verzweiflung – all das kam an diesem Abend im Luzerner KKL zu beklemmendem Ausdruck. Gleichzeitig blieben jedoch auch hier Zweifel bestehen. Unter der Leitung Nézet-Séguins, der äusserst agil ohne Taktstock dirigierte, blieben Reste an Äusserlichkeit, die das musikalische Geschehen nicht wirklich seinem Eigentlichen vordringen liess. Das Fortissimo klang grell und nahm damit amerikanische Züge an – wie überhaupt viele Momente der orchestralen Farbgebung plakativ wirkten. Ein Gastdirigent an der Seite des Chefdirigenten wäre vielleicht das Richtige für das Lucerne Festival Orchestra. Nur müsste es ein höchst qualifizierter, scharf profilierter Künstler sein.

Zur Überraschung des Abends mit Nézet-Séguin geriet allerdings das Vorspiel vor der Sinfonie Schostakowitschs, das in seiner unerhört deutlichen Aussage zur Hauptsache wurde: das Violinkonzert Ludwig van Beethovens mit Leonidas Kavakos, dem vielbeschäftigten «artiste étoile» dieses Sommers, als Solisten. Kavakos bot das Konzert als das Gegenteil dessen dar, was heute angesagt ist. Es kam in einer zutiefst restaurativen Interpretation daher, geriet im Rahmen dieser Prämisse aber zu einem wahren Wunderwerk. Sehr warm, aus der Tiefe heraus leuchtend der Ton der Stradivari, die Kavakos spielt. Und sehr langsam die Tempi, denkbar weit entfernt von dem, was man heute für ein originales Tempo bei Beethoven hält. Innerhalb der sehr gemässigten Verläufe herrschten jedoch eine musikalische Natürlichkeit und ein Reichtum an Ausgestaltung im Einzelnen, die wahrhaft staunen liessen. Dazu kamen die Kadenzen, die Kavakos der Klavierfassung des Konzerts entnommen, aber phantasievoll und verspielt angereichert hat. Zusammen mit Yannick Nézet-Séguin folgte das Lucerne Festival Orchestra dem Solisten bis in kleinste Regungen hinein. Für mich ein Höhepunkt im bisherigen Verlauf des Festivals.