Peripher, aber nicht provinziell – Musiktheater in St. Gallen

 

lohengrin
Braut, gefangen: «Lohengrin» in St. Gallen / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

 

Peter Hagmann

Elsa träumt «Lohengrin»

Wagners Romantische Oper in St. Gallen

 

Nicht «Lohengrin», «Elsa» sollte die Romantische Oper Richard Wagners heissen – so postuliert es der Regisseur Vincent Boussard, der das Werk am Theater St. Gallen einer anregungsreichen szenischen Deutung unterworfen hat. Im Licht steht nicht der Schwanenritter – obwohl der Schwan, dessen Abwesenheit in modernen Inszenierungen gern beklagt wird, hinter dem Zwischenvorhang immer wieder diskret vorüberzieht. Auch nicht Lohengrins Kontrahent Telramund, der umso eher zum Schwert greift, als er in den Streitgesprächen, die Wagner schon hier mit einiger Virtuosität ausgeformt hat, nicht eben durch Schlagfertigkeit glänzt. Nein, in dieser Produktion von «Lohengrin», der ersten in St. Gallen seit 1912, gilt die Aufmerksamkeit den Frauen, der schwärmerischen Elsa, aber auch der heidnischen, mit Zauberkräften operierenden Ortrud. So steht im Zentrum der suggestiven Bühne von Vincent Lemaire nicht nur eine mächtige, marmorglänzende Schräge, die andeutet, wie in diesem Brabant Waagrechte und Senkrechte aus dem Lot geraten sind, sondern vor allem ein Bett, auf dessen Matratze das Gehen nicht leicht fällt, aber manch anderes möglich ist.

Die andere Frau

Träumen zum Beispiel. Elsa träumt «Lohengrin». Zum sehr leisen, sehr hohen Beginn des Vorspiels nähert sich die junge Frau zögernd dem Bett; mit einem raschen Griff reisst sie das zerknüllte Duvet weg – und erblickt den darunter versteckten toten Schwan. Lohengrin ist wieder abgereist, ihr Bruder Gottfried wieder am Leben, womit die Verhältnisse wieder in Ordnung wären, hätte Elsa nicht ihre Hoffnung verloren. Die Hoffnung auf den vollendeten Mann, dem sie ganz und gar angehören will. Dies aber auch als ganzer Mensch, mit ganzer Persönlichkeit, nicht als Weibchen unter der Kontrolle des Mannes und als dessen Werkzeug – weshalb auf der Hand liegt, dass sie die verbotene Frage nach Name und Herkunft des Gatten stellen muss. Ja mehr noch: Wie Telramund in der Hochzeitsnacht ins Gemach eindringt, ist es nicht, wie von Wagner festgelegt, Lohengrin, sondern Elsa, die den entscheidenden Streich mit dem Schwert ausführt. Wagner, so die St. Galler Inszenierung, hat sich schon hier, nicht erst in den reifen Musikdramen, seine ideale Frau und einen radikalen Gegenentwurf zu den gängigen Auffassungen seiner Zeit geschaffen. Wie die junge Norwegerin Elisabeth Teige das umsetzt, kann man nur bewundern. Zielstrebigkeit und Enthusiasmus kommen in ihrer Körpersprache gleichermassen zur Geltung, und dabei bleibt ihre strahlkräftige Stimme in einem festen Kern verankert.

Lohengrin wiederum – Martin Muehle versieht die Partie mit herrlichem tenoralem Glanz, gerät nie unter Druck und wirkt als Darsteller jederzeit gelassen – bleibt konsequenterweise etwas aussen vor. In dem silberglänzenden Kostüm, das ihm Christian Lacroix entworfen hat, ist er klar als eine übernatürliche Erscheinung zu erkennen – und: als eine weitere Projektion des Komponisten. Als Wagner «Lohengrin» schrieb, kam es zur gesellschaftspolitischen Explosion von 1848. Wagner hatte sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen und musste voneinem Steckbrief verfolgt in die Schweiz fliehen – über Rorschach und St. Gallen, woran das Theater mit einer kleinen Ausstellung im Foyer erinnert. Dass sich der politische Flüchtling in der Figur des Lohengrin als allseits akklamierter, gottähnlich über jeder gesellschaftlicher Hierarchie stehender Künstler zeichnet, ist aus den Lebensumständen Wagners nur allzu verständlich. Die Inszenierung unterstreicht das insofern, als sie die Aufzüge, an denen es in «Lohengrin» nicht fehlt, radikal reduziert und ihres Kolorits beraubt. Heinrich der Vogler, der verunsicherte König Deutschlands, der nach Brabant gekommen ist, um nach Soldaten zu rufen, tritt als ein Bürger des mittleren 19. Jahrhunderts in einem etwas grobstoffigen Dreiteiler auf; seine Krone ist ersetzt durch einen einfachen schwarzen Herrenhut. Während das Volk hier repräsentiert ist durch die Schicht der Royalisten, die, in schwarze Fräcke mit überhohen Zylindern gekleidet, nichts so sehr fürchten als die Veränderung.

Orchestrale Oper

Was die Romantische Oper Wagners zur Grossen Oper macht, ist nicht gestrichen, bisweilen auch szenisch da, aber doch deutlich unterspielt. Nicht selten wirken der Chor des Theaters St. Gallen, der Opernchor St. Gallen und der Theaterchor Winterthur, allesamt vorbereitet von Michael Vogel, aus dem Untergrund heraus. Bei dem grossen Tableau, welches das letzte Bild der Oper einleitet, kommt es nicht zu grossen Aufmärschen, der König (Steven Humes) steht vielmehr einsam auf der Bühne, während für die Pracht des Moments das Orchester allein zuständig ist. Und hier gibt es eine ausnehmend gelungene Präsentation zu erleben. Das Sinfonieorchester St. Gallen agiert in Bestform und in enger Verbindung mit seinem Chefdirigenten Otto Tausk: explizit, aber nicht zu laut für den Raum, in schwungvoller Spontaneität, klanglich mit aller Sorgfalt ausgearbeitet. Dass Tausk in seinem Phrasieren eher instrumental als vokal denkt, mag hie und da zu etwas wenig ausgekosteten Übergängen führen, betont dafür aber das Metrische des musikalischen Verlaufs. Ohnehin hat Wagner in «Lohengrin» längst den Weg hin zum Musikdrama eingeschlagen, wo das Orchester definitiv zum Protagonisten wird.

Aufgeheizt wird das Drama durch die Spannung zwischen Gut und Böse, zwischen einer Art Glauben in christlichem Sinn und den heidnischen Kräften früherer Zeiten, wie sie Ortrud und Telramund verkörpern. Das ehrgeizige Paar, ganz in Schwarz und sehr theatralisch eingekleidet, agiert meist auf jener unteren Ebene, die vor der grossen Schräge gelegen und vollständig mit Schwanenfedern ausgelegt ist. Ortrud ist die keineswegs unterwürfige, keineswegs dienende, sondern vielmehr das Geschehen nach der Art einer gefährlichen Hexe vorantreibende Frau, vor der Mann durchaus Angst haben kann – Elena  Pankratova führt das mit grosser Stimme und ebensolcher Gestik vor. Und Mann ist in diesem Fall der Telramund von Simon Neal, der sich mächtig ins Zeug legt, aber ein Wadenbeisser bleibt. Hinreissend, mit welcher Genauigkeit in den Einzelheiten von Kostüm und Gestik auch diese Figur ausgestaltet ist. St. Gallen liegt zwar peripher, ist aber, was die Kunst des Musiktheaters betrifft, alles andere als provinziell.

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