«Die Sache Makropulos» von Leoš Janáček in Zürich
Von Peter Hagmann
Wunderschön der gründerzeitliche Salon, den die Bühne zeigt. Weinrote Seidentapeten, erlesenes Mobiliar, im Hintergrund ein hohes Fenster mit Blick auf einen vom Herbstwind leis bewegten Baum. Einiges freilich will nicht stimmen. Zum Beispiel die in die Zimmerdecke eingelassenen Halogenleuchten, der moderne Telefonapparat auf dem Wandtischchen, der Rollkoffer aus Aluminium; sie verweisen auf die Gegenwart. Tatsächlich wollte Dmitri Tcherniakov als Regisseur und Bühnenbildner «Die Sache Makropulos» von Leoš Janáček näher an die Jetztzeit heranholen und den Stoff psychologisch fassbar machen. Deshalb erscheinen zur Ouvertüre auf dem noch geschlossenen Vorhang Auszüge aus einem Patientendossier, in dem von inoperablen Metastasen und einer verbleibenden Lebenszeit von zwei Monaten die Rede ist. In der neuen Produktion von Janáčeks Spätwerk am Opernhaus Zürich soll Emilia Marty nicht oder nicht nur die 337 Jahre alte Elina Makropulos sein, sondern auch eine Frau von heute mit einem argen Krebs im Leib.
Der deutende Ansatz bleibt jedoch stecken, denn in der Folge lässt der Regisseur das Stück als jene Groteske ablaufen, die es in Tat und Wahrheit ist. Alle werden sie von Emilia Marty vorgeführt, die Alten wie die Jungen, die Bürger wie die Unangepassten. Mit einem Zynismus sondergleichen lässt die undurchsichtige Primadonna einen nach dem anderen auflaufen, indem sie mit ihrem rätselhaften Wissen um Geschehnisse aus weit zurückliegenden Jahrhunderten den Boden ins Wanken bringt. Das wirkt umso erheiternder, als Evelyn Herlitzius in dieser Partie zu blendender Form aufläuft. Äusserst scharf zeichnet sie die Figur der exaltierten Starsängerin, der alles gleichgültig ist, seien es die Verehrer mit ihren Blumensträussen, seien es die Männer in ihrem erotischen Verlangen. Nur eines will sie: jenes Dokument, das des Rätsels Lösung birgt – doch wie sie es in Händen hält, ist ihr auch dieses Schriftstück egal. Die Bruchlinien in der grossartigen Theaterfigur führt sie mit ihrem enormen Darstellungsvermögen und ihrem Mut, an die Grenzen zu gehen, zu einem Ganzen von umwerfender Wirkung zusammen.
Schade nur, dass viele der Akteure rund um die Hauptfigur in dieselbe Hektik verfallen wie die Strippenzieherin selbst. Wenn durchgehend die Hände verworfen werden, wie es Tómas Tómasson als Advokat Dr. Kolenatý so grossartig tut, nivelliert sich das Geschehen und verkehrt es sich in sein Gegenteil, in billiges Chargentheater. Gewiss, Baron Prus, der Gegenspieler Kolenatýs, bewahrt lange sein viriles Selbstbewusstsein, am Ende muss aber auch Scott Hendricks mit seinem sonoren Bariton aus der Fassung geraten. Erst recht gilt das für den bedrängten und bedrängenden Albert Gregor, als der Sam Furness gleichermassen auf den Putz haut wie sein Anwalt Kolenatý. Dabei herrscht fast durchgehend jener verzopfte Starkgesang, der an der Oper Zürich so gern gepflegt wird. Wenn Kevin Conners als Archivar der Kanzlei Kolenatý zu Beginn des Abends in den Unterlagen blättert und dazu monologisiert, geschieht das mit ohrenbetäubender Kraft. Auch die gross besetzte Philharmonia Zürich dreht mächtig auf; unter der Leitung von Jakub Hrůsa findet das Orchester freilich auch zu einer phantastischen Vielfalt an Klangfarben und einem herrlich warmen Forte.
Am Schluss wird das Dokument mit der Rezeptur für das lebensverlängernde Elixir nicht, wie es Janáček vorgesehen hat, verbrannt. Vielmehr öffnen sich die Wände geben den Blick frei auf das Setting für eine Reality-Show aus einem wunderschönen gründerzeitlichen Salon. Ach so, alles nur ein Spiel? Warum?