In der Reality-Box

«Die Sache Makropulos» von Leoš Janáček in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Anwalt Dr. Kolenatý (Tómas Tómasson) und sein Klient Albert Gregor (Sam Furness), dazwischen die Titelheldin als Emilia Marty (Evelyn Herlitzius) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Wunderschön der gründerzeitliche Salon, den die Bühne zeigt. Weinrote Seidentapeten, erlesenes Mobiliar, im Hintergrund ein hohes Fenster mit Blick auf einen vom Herbstwind leis bewegten Baum. Einiges freilich will nicht stimmen. Zum Beispiel die in die Zimmerdecke eingelassenen Halogenleuchten, der moderne Telefonapparat auf dem Wandtischchen, der Rollkoffer aus Aluminium; sie verweisen auf die Gegenwart. Tatsächlich wollte Dmitri Tcherniakov als Regisseur und Bühnenbildner «Die Sache Makropulos» von Leoš Janáček näher an die Jetztzeit heranholen und den Stoff psychologisch fassbar machen. Deshalb erscheinen zur Ouvertüre auf dem noch geschlossenen Vorhang Auszüge aus einem Patientendossier, in dem von inoperablen Metastasen und einer verbleibenden Lebenszeit von zwei Monaten die Rede ist. In der neuen Produktion von Janáčeks Spätwerk am Opernhaus Zürich soll Emilia Marty nicht oder nicht nur die 337 Jahre alte Elina Makropulos sein, sondern auch eine Frau von heute mit einem argen Krebs im Leib.

Der deutende Ansatz bleibt jedoch stecken, denn in der Folge lässt der Regisseur das Stück als jene Groteske ablaufen, die es in Tat und Wahrheit ist. Alle werden sie von Emilia Marty vorgeführt, die Alten wie die Jungen, die Bürger wie die Unangepassten. Mit einem Zynismus sondergleichen lässt die undurchsichtige Primadonna einen nach dem anderen auflaufen, indem sie mit ihrem rätselhaften Wissen um Geschehnisse aus weit zurückliegenden Jahrhunderten den Boden ins Wanken bringt. Das wirkt umso erheiternder, als Evelyn Herlitzius in dieser Partie zu blendender Form aufläuft. Äusserst scharf zeichnet sie die Figur der exaltierten Starsängerin, der alles gleichgültig ist, seien es die Verehrer mit ihren Blumensträussen, seien es die Männer in ihrem erotischen Verlangen. Nur eines will sie: jenes Dokument, das des Rätsels Lösung birgt – doch wie sie es in Händen hält, ist ihr auch dieses Schriftstück egal. Die Bruchlinien in der grossartigen Theaterfigur führt sie mit ihrem enormen Darstellungsvermögen und ihrem Mut, an die Grenzen zu gehen, zu einem Ganzen von umwerfender Wirkung zusammen.

Schade nur, dass viele der Akteure rund um die Hauptfigur in dieselbe Hektik verfallen wie die Strippenzieherin selbst. Wenn durchgehend die Hände verworfen werden, wie es Tómas Tómasson als Advokat Dr. Kolenatý so grossartig tut, nivelliert sich das Geschehen und verkehrt es sich in sein Gegenteil, in billiges Chargentheater. Gewiss, Baron Prus, der Gegenspieler Kolenatýs, bewahrt lange sein viriles Selbstbewusstsein, am Ende muss aber auch Scott Hendricks mit seinem sonoren Bariton aus der Fassung geraten. Erst recht gilt das für den bedrängten und bedrängenden Albert Gregor, als der Sam Furness gleichermassen auf den Putz haut wie sein Anwalt Kolenatý. Dabei herrscht fast durchgehend jener verzopfte Starkgesang, der an der Oper Zürich so gern gepflegt wird. Wenn Kevin Conners als Archivar der Kanzlei Kolenatý zu Beginn des Abends in den Unterlagen blättert und dazu monologisiert, geschieht das mit ohrenbetäubender Kraft. Auch die gross besetzte Philharmonia Zürich dreht mächtig auf; unter der Leitung von Jakub Hrůsa findet das Orchester freilich auch zu einer phantastischen Vielfalt an Klangfarben und einem herrlich warmen Forte.

Am Schluss wird das Dokument mit der Rezeptur für das lebensverlängernde Elixir nicht, wie es Janáček vorgesehen hat, verbrannt. Vielmehr öffnen sich die Wände geben den Blick frei auf das Setting für eine Reality-Show aus einem wunderschönen gründerzeitlichen Salon. Ach so, alles nur ein Spiel? Warum?

Golaud et Mélisande

Pelléas
Golaud (Kyle Ketelsen) und Mélisande (Corinne Winters) in der Zürcher Oper / Bild Toni Suter T + T Fotografie, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Männerwirtschaft, schonungslos demaskiert

«Pelléas et Mélisande» von Debussy im Opernhaus Zürich

 

Im Grunde gibt es nur zwei Wege, das Stück auf die Bühne zu bringen: so, wie es Claude Debussy auf den Text von Maurice Maeterlinck ersonnen hat, oder eben nicht so. Beide Wege haben ihre Gültigkeit – besonders dann, wenn sie kompromisslos und konsequent ausgeschritten werden. Als in den frühen neunziger Jahren Peter Stein «Pelléas et Mélisande» herausbrachte, er tat das in der Abgeschiedenheit der Welsh Opera von Cardiff, aber doch zusammen mit Pierre Boulez am Dirigentenpult, entschied er sich für eine Lesart, welche die Bühnenanweisungen eins zu eins in szenische Realität überführte. Der Turm war der Turm, Mélisande trug ihre Haare so lang, dass sie tatsächlich auf Pelléas herniederfallen konnten, und selbst die Tauben, die in diesem Augenblick aus dem Gemäuer emporfliegen, waren Tauben, richtige nämlich. Das wirkte klassizistisch, ein wenig leblos vielleicht, in seiner Geradlinigkeit vermochte es aber durchaus zu packen.

Genau das Gegenteil davon ist jetzt im Opernhaus Zürich zu erleben: in einer konzis durchdachten und fabelhaft ausgearbeiteten Produktion von «Pelléas et Mélisande», die sich radikal von der originalen Einkleidung der Geschichte verabschiedet, das Thema des Stücks vielmehr in ganz eigener Weise aufbereitet. In der Sicht des Regisseurs und Bühnenbildners Dmitri Tcherniakov ist das Schloss Allemonde eine moderne Villa, durch deren Fenster jener dichte, tiefe Wald sichtbar wird, von dem an verschiedenen Stellen des Stücks die Rede ist. Es ist der Wald des Unbewussten, und betrachtet wird er von einer Familie, in der die Kunst der Psychotherapie gelebt wird. Das obligate Glas Wasser steht immer bereit, Hypnose gehört dazu, und selbst Yniold, der jüngste Spross, übt sich früh, wenn er den Schäfer auf die Couch zwingt und sich protokollierend danebensetzt. Dominiert wird der Clan durch Arkel, der vom Alter sichtlich gebeugt ist, deshalb an Charisma und Autorität jedoch nicht das Geringste eingebüsst hat. Wie Brindley Sherratt das verkörpert und wie er es mit seinem festen, voluminösen Bass in Klang setzt – allein schon das ist ein Erlebnis.

Ein Trauma und seine Wirkung

Zu Beginn sitzt die Familie im Hintergrund am Esstisch beim Tee – bis, ein veritabler coup de théâtre, das Licht auf einen Schlag erlischt und das Haus in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Zu den ersten Klängen aus dem Graben erscheint eine Schrift, ein wenig wie im epischen Theater Bertolt Brechts. Der Psychiater Golaud, heisst es sinngemäss, habe sich in seine Patientin Mélisande verliebt und bringe sie nach Hause, um die Therapie dort fortzusetzen. Womit alles gesagt ist und das Unglück seinen Lauf nehmen kann. Golaud, sonst gerne auf eine Nebenrolle als Bösewicht reduziert, erscheint hier als der eigentliche dramatische Täter, Pelléas tritt später und eher zufällig auf und stiehlt sich am Ende fast unbemerkt davon – nichts von dem tödlichen Hieb Golauds, den das Libretto erwähnt. Und erst noch Mélisande. Sie ist in Zürich alles andere als die geheimnisvolle, zartgliedrige Schönheit mit langem blondem Haar, als die sie in der Regel erscheint. Nein, sie ist ein kratzbürstiges Strassenmädchen ganz in Schwarz, mit schwerem Schuhwerk, zerschlissenen Jeans und dunklen Ringen um die Augen. Dass diese junge Frau eine schwere Bürde trägt, ist nicht zu übersehen.

Bei Docteur Golaud ist sie allerdings an den Falschen geraten. Mit seinem virilen Bariton und dem eleganten Outfit, das ihm die Kostümbildnerin Elena Zaytseva auf den Leib gezaubert hat, gibt sich Kyle Ketelsen als der berühmte Mann in den besten Jahren zu erkennen. Er denkt zuerst an sich und dann nochmals an sich. Doch je länger ihm der Erfolg versagt bleibt – und er bleibt ihm versagt, obwohl ihm Mélisande am Ende eine Tochter gebiert –, desto krasser gerät er auf die schiefe Bahn, die bestialische Demütigung Mélisandes, für die es in dieser Inszenierung kein Schwert braucht, sagt diesbezüglich alles. Pelléas ist kein Haar besser. Jacques Imbrailo hat stimmlich wie darstellerisch das Zeug zum jugendlichen Liebhaber und Sympathieträger, aber er macht Worte, unendlich viele Worte, er zögert, obwohl sich ihm Mélisande wieder und wieder an die Brust wirft – und wenn es am Ende doch zum Kuss kommt, wirkt dieser scheue Höhepunkt der Oper fast wie ein Zufall. Zum Titelhelden taugt dieser Pelléas nicht, daran lässt Tcherniakov keinen Zweifel; «Golaud et Mélisande» müsste das Werk Debussys hier heissen.

Oder vielleicht einfach: «Mélisande». Durch ihr Trauma gebrochen und damit elementar auf sich selbst zurückgeworfen, trägt diese junge Frau eine unsichtbare Schutzhülle um sich. So wie Golaud als Täter erscheint, der zum Opfer (seiner selbst) wird, so tritt Mélisande als Opfer auf, das gerade in seiner Unberührbarkeit von stärkster Wirkung ist. Die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde – als Geneviève hat Yvonne Naef zwar einen wirkungsvollen Auftritt, doch bleibt die Mutter Golauds eine Randfigur –, die Männergesellschaft auf Schloss Allemonde wird durch Mélisande jedenfalls kräftig durcheinandergebracht. Corinne Winters setzt das blendend um. Trotzige Ablehnung und verletzliche Zartheit sind im Spiel der jungen Amerikanerin gleichermassen präsent, und in ihrer flexiblen Stimme vermischt sich das Rauhe mit dem Sirenenhaften. Dazu kommt eine hervorragende Diktion – wobei das für alle Mitglieder dieses sehr speziellen, sehr exquisiten Ensembles gilt.

Spannung von A bis Z

Nichts an diesem Abend ist vom Regisseur dazu erfunden, er nimmt bloss den Text beim Wort. Und lässt ihn in einem ganz und gar gegenwärtigen Ambiente eine Dringlichkeit finden, wie sie bei «Pelléas et Mélisande» selten eintritt. Die Geschichte kommt einem heftig nah – auch weil der Abend, genau gleich wie Verdis «Macbeth» vor einem knappen Monat, aus einem Guss geformt ist. Die auf der Bühne erscheinenden Physiognomien spiegeln sich grossartig in deren stimmlichen Profilen, während unter der Leitung von Alain Altinoglu die Philharmonia Zürich mit jenem symphonischen Selbstbewusstsein agiert, das die Partitur nahelegt, ohne dabei aber die Sänger zu bedrängen. Gewisse Probleme der Balance werden sich noch einpendeln, und dass die Musik Debussys hier insgesamt etwas direkt wirkt, mag auch auf den vergleichsweise kleinen Raum im Opernhaus Zürich zurückgehen. Mit äusserster Sorgfalt mischt der Dirigent die Farben, so dass sich klangliche Mixturen in grosser Vielfalt ergeben – und das Geschehen auch musikalisch jenes Knistern entstehen lässt, das diese Begegnung mit einem impressionistischen Werk zu handgreiflicher Spannung bringt.