Andris Nelsons als Gewandhauskapellmeister in Leipzig
Von Peter Hagmann
Da haben sich zwei gefunden. Seit Andris Nelsons im Februar 2018 sein Amt als Gewandhauskapellmeister angetreten hat, hängt am Leipziger Augustusplatz der Himmel voller Geigen. Und das, obwohl das Gewandhausorchester teilen muss: mit dem Boston Symphony Orchestra, dem der heute vierzigjährige Lette seit Herbst 2014 ebenfalls als Musikdirektor vorsteht. Die Intensität, mit der Nelsons rund um ein kleines Festival zum 275-jährigen Bestehen des Leipziger Spitzenorchesters in sein Amt eingeführt worden ist, liess allerdings darauf schliessen, dass hier eine grosse Liebe ausgebrochen ist. Die ersten CD-Produktionen, Live-Aufnahmen von Sinfonien Anton Bruckners aus dem Gewandhaus, bestätigen das nachdrücklich. Ganz besonders gilt das für die Einspielung der 1884 in Leipzig uraufgeführten Siebten Sinfonie; sie ist im März 2018 entstanden, stammt also aus der Zeit der Amtseinführung.
Im Kopfsatz dieser Sinfonie gibt es gleich zu Beginn eine Stelle, die auf Anhieb zu erkennen gibt, ob die Chemie zwischen dem Orchester und dem Dirigenten stimmt – oder anders gesagt: ob die Interpretation auf solidem Fundament steht. Es handelt sich um den Augenblick, da das Hauptthema, das mit einem gebrochenen, nach oben aufsteigenden Dreiklang in E-dur anhebt, ein zweites Mal vorgestellt wird. Dieser zweite Aufstieg ist nicht nur etwas üppiger instrumentiert als der erste ganz zu Beginn, er mündet auch in einen sehr leise ins Geschehen eintretenden E-dur-Akkord der vier Hörner. Wenn das gelingt, wenn die Hörner im gebotenen Pianissimo, jedoch zum genau richtigen Zeitpunkt und ausserdem in der hier erforderlichen Reinheit einsetzen, ergibt sich ein Moment magischer Wirkung. In der Aufnahme mit Nelsons und dem Gewandhausorchester ist die Stelle phänomenal gelungen – so ausgezeichnet, dass sich leuchtende Glücksgefühle einstellen.
Ja, die Chemie scheint zu stimmen. Die Tradition des in der Tiefe verankerten, dunklen, von Wärme getragenen Klangs, die mit dem Gewandhausorchester verbunden ist, und die ästhetischen Vorstellungen Andris Nelsons’, die nicht zuletzt auf seinen langjährigen Mentor Mariss Jansons zurückgehen, sie sind so gut wie deckungsgleich. Anders als bei Nelsons’ Vorgänger Riccardo Chailly, der das Gewandhausorchester zu einem modernen Klangkörper zu formen versuchte – und damit gescheitert ist. Nelsons ist kein Bilderstürmer. Die Aufnahme von Bruckners Siebter, für die er die problematische alte Ausgabe von Robert Haas aus dem Jahre 1994 benützt, stürzt nichts um, sie sucht auch nicht das Unerhörte, sie bleibt vielmehr im Rahmen des Hergebrachten; dort aber will sie das Beste, nicht weniger. Phantastisch, wie Nelsons mit dem klanglichen Angebot, das ihm das Gewandhausorchester macht, umzugehen weiss. Er ist ja ein Farbenmagier der ersten Qualität, in den Proben versteht er die klanglichen Qualitäten äusserst differenziert gegeneinander auszutarieren, und im Konzert ergibt sich eine Art organischer Osmose, die im Fall des Gewandhausorchesters zu aufregenden Ergebnissen führt – die Aufnahme von Bruckners Siebter lässt es hören.
Und dann die Bögen. Hatte Andris Nelsons bei seinen Auftritten mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem er einen Korb gab, und mit dem Lucerne Festival Orchestra, von dem er verschmäht wurde, bisweilen überemphatisch, wenn nicht gar hektisch gewirkt, so verbreitet er jetzt, rein akustisch wahrgenommen, alle denkbare Ruhe. Und spannt er auf der Basis einer ebenso spontan wirkenden wie ausgeklügelten Tempodramaturgie Bögen von unerhörter Weite. Und dies in durchaus langsamen Grundtempi. Mit einer Konsequenz sondergleichen werden sie durchgehalten, so dass es etwa am Ende des ersten Satzes zu majestätischer Erhabenheit kommt. Sorgfältig werden sie aber auch nuanciert; dem überraschenden Harmoniewechsel im zweiten Satz begegnet Nelsons mit liebevoller Achtsamkeit, weshalb sich vibrierende Emotionalität einstellt. Dazu kommt vor allem aber die Klangkultur des Gewandhausorchesters, die hier einzigartige Höhe erreicht. Herrlich präsent und zugleich wunderbar eingebettet die Blechbläser, unter denen die vier Wagner-Tuben und die Kontrabasstuba besonders vorteilhaft auffallen. Gerundet und homogen, strahlt das Fortissimo Kraft aus, ohne dass sich Grelles einmischte. Und die einzelnen Orchestergruppen stellen sich mit äusserst charakteristischen Beiträgen ins Licht. Ein starker Auftritt, fürwahr.
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-dur. Richard Wagner: Trauermarsch aus der «Götterdämmerung». Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung). Deutsche Grammophon 4798494 (1 CD).