Mit Mozart in Las Vegas

«Don Giovanni» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Glitzerwelt, gespiegelt / Bild Konzert-Theater Bern, Philipp Zinniker

Die Überraschung kommt am Schluss. Die «scena ultima» nämlich, das Sextett, das üblicherweise auf die Höllenfahrt Don Giovannis folgt, ist kurzerhand gestrichen. In der neuen Produktion von «Don Giovanni», die das Konzert-Theater Bern jetzt im Stadttheater zeigt, endet die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts mit dem Untergang oder vielmehr der Selbstauflösung der Titelfigur, nicht mit jenem der Tradition der Opera buffa geschuldeten Ensemble, in dem die Welt wieder zurechtgerückt wird. Das hat seine Logik. Während die Oper in der Regel als Mischung aus ihren beiden Versionen von Prag (1787) und Wien (1788) gezeigt wird, versucht das Berner Haus, sich auf die Wiener Fassung zu konzentrieren – und tatsächlich fehlt im gedruckten Libretto aus Wien die «scena ultima». Don Ottavio singt in Bern denn auch nur eine einzige Arie, nämlich «Dalla sua pace» im ersten Akt, und nicht auch noch im zweiten Akt «Il mio tesoro» aus der Prager Fassung. Ausgelassen ist allerdings auch hier die Begegnung zwischen Zerlina und Leporello, die Mozart für Wien nachkomponiert hat.

Ganz selbstverständlich ergibt sich der Verzicht auf das abschliessende Sextett auch aus der fabelhaft durchdachten und tadellos umgesetzten Inszenierung, die der in der Branche noch nicht sehr bekannte Südafrikaner Matthew Wild entwickelt hat. Das Stück spielt bei ihm in Las Vegas, woran die Bühne von Kathrin Frosch und die Kostüme von Ingo Krügler niemanden im Zweifel lassen. Zumal alles sehr genau zu sehen ist – denn wie sich der Vorhang öffnet, wird nicht nur die Spielfläche sichtbar, sondern auch ein riesiger, schräg über die gesamte Bühnenbreite gespannter Spiegel. Da sitzen sie denn an scheppernden Automaten, Häschen servieren Drinks, und wenn es ans Heiraten geht, fehlt es nicht an Cowboy-Stiefeln und den dazu passenden Hüten, an kitschigem Mobiliar und erregtem Trippeln (der von Zolt Czetner vorbereitete Chor tut da amüsant mit). Don Giovanni ist nicht so sehr ein Macho als vielmehr ein Dandy am Ende seiner Laufbahn. An Geld fehlt es ihm nicht, und weil es ihm daran nicht fehlt, nimmt er sich eine nach der anderen – Amerika, ein Präsident und ein Filmproduzent lassen grüssen. Für dieses sein Leben braucht er allerdings laufend einen Kick mehr, weshalb er sich seine Dosen Koks immer häufiger und hastiger in die Nase zieht. Am Ende fährt er nicht zur Hölle, denn da ist er schon; er besteigt vielmehr den silbernen Pegasus in seinem Casino und entflieht gen Himmel.

Todd Boyce, mit seinem hellen, leicht metallisch gefärbten Bariton, seiner agilen Gestaltungskraft und seinem blendenden Aussehen eine Idealbesetzung für die Partie des Don Giovanni, bildet das Epizentrum eines Abends, der nur so vorüberfliegt. Der zugleich aber von zahlreichen dramaturgisch sinnvollen wie sorgsam ausgearbeiteten Einzelheiten lebt. Sie stehen alle im selben Zeichen: in jenem der erstarkten Frau. Anna, Elvira, Zerlina – sie sind keine Opfer eines Grapschers, oder nicht nur, sie wissen auch genau, was sie wollen. Und sei es eben einen Mann wie Don Giovanni. Anna zum Beispiel wurde nicht verführt, sie verführte, ein mit versteckter Kamera in einem Hotelzimmer aufgezeichnetes Video bringt es an den Tag. Im Zuschauerraum weiss man davon, weil das Register, aus dem Leporello (Michele Govi) zu Beginn der Oper vorträgt, nicht als das übliche Büchlein gezeigt wird, sondern als ein Stapel Kartonschachteln mit Videokassetten. Und zufällig steht auf der Bühne ein Abspielgerät mitsamt Bildschirm bereit – so dass sich Ottavio seine Zweifel an Annas unendlich wiederholten Beteuerungen eins zu eins bestätigen lassen kann. Er nimmt es als der Gentleman, der er an diesem Abend ist.

In der Tat erscheint Ottavio, Andries Cloete formt da wieder eine seiner durchs Band packenden Bühnenfiguren, nicht als der weinerliche Antiheld, zu dem er so oft wird, nein, der vornehm gelassene Adlige bleibt ganz sich selbst – auch in jenem Moment, da er das diskriminierende Video mit einem raschen Griff ins Bandmaterial unbrauchbar macht. Anna wiederum ist nicht die der Opera seria entstiegene Leidensfigur, sondern eine Frau, die eben erwacht ist und nun gegen ihr loderndes Begehren ansingt – Elissa Huber bringt das glaubwürdig zur Geltung. Nicht weniger fasslich die sitzengelassene Elvira, der Evgenia Grekova keine hysterischen Züge verleiht, der hier vielmehr eine verletzliche und verletzte Seite zugestanden wird. Und dann die Zerlina von Eleonora Vacchi: ein hochschwangeres Temperamentsbündel, das ihren etwas waschlappigen Masetto – das liegt nicht an Carl Rumstadt, sondern an der Partie – am liebsten einmal kräftig durchschütteln würde. Bemerkenswert auch der Commendatore, den Young Kwon mit einer für diese Rolle auffallend leichten, aber mit Durchschlagskraft versehenen Stimme gibt: ein Mann, ein Mensch, keine Statue.

Sehr schön ist das Personal in dieser Produktion gezeichnet. Und auf durchwegs hohem Niveau wird das szenische Konzept umgesetzt: von Darstellerinnen und Darstellern, die fast alle fest dem Haus verbunden sind; sie zeugen davon, dass der Ensemblegedanke leben kann – wenn Besetzung und Geist stimmen. In diesen Kontext gehört auch das Berner Symphonieorchester, das am Premierenabend ausgezeichnete Eindrücke hinterliess. Kevin John Edusei, Chefdirigent im Bereich des Musiktheaters und fraglos ein Mann mit Zukunft, liess erkennen, worin der Mozart-Ton unserer Tage besteht: in flüssigen Tempi (überraschend schon in der Ouvertüre) und einem Zug, der jenem der Inszenierung entsprach, in griffiger Phrasierung, ja überhaupt deutlich herausmodellierten Ausdruckszuständen und in einem aufgehellten, farbenreichen Klang, zu dem auch das von Anne Hinrichsen gespielte Hammerklavier gehörte.