Zweimal dasselbe, aber ganz anders

Mendelssohns Oktett für Streicher in und um Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wem der Sinn nach einem Konzerterlebnis mit dem Oktett von Felix Mendelssohn Bartholdy steht, braucht Geduld. In den Angeboten der Veranstalter erscheint der Geniestreich des erst sechzehnjährigen Komponisten äusserst selten. Kein Wunder, gehört das Werk doch zum Heikelsten im kammermusikalischen Repertoire. Für vier Geigen, zwei Bratschen und zwei Celli geschrieben, ist es nicht nur hochvirtuos gesetzt, sondern auch äusserst dicht gewoben; es lebt in hohem Mass von kontrapunktischem Reiz. Über das Strukturelle hinaus zeigt das Oktett aber auch orchestrale Klangwirkung im kammermusikalischen Format und vitale Frische des Tons – beides nicht einfach zu treffen.

Umso erstaunlicher darum, dass das Oktett Mendelssohns übers vergangene Wochenende in Zürich und der Region gleich zweimal im Konzert zu hören war – und dies beide Male auf höchstem Niveau, wenn auch unter denkbar unterschiedlichen Voraussetzungen. Zunächst erschien das Werk bei einem Auftritt des Merel Quartetts, das im Rahmen einer kleinen Schweizer Tournée zur Konzertreihe Top Klassik Zürcher Oberland in die Aula der Kantonsschule Wetzikon gekommen war. Zusammen mit dem Castalian String Quartet führt das Schweizer Ensemble das Oktett Mendelssohns seit zwei Jahren im Gepäck – glücklich über die Seelenverwandtschaft mit den etwas jüngeren Musikerinnen und Musikern aus London. Inzwischen ist diese Interpretation auch auf CD erschienen.

Keine 24 Stunden später gab es Mendelssohns Oktett ein weiteres Mal, nun aber ganz anders, nämlich im Licht der historisch informierten Aufführungspraxis. Dem «Bogenspiel» war das 31. Festival für Alte Musik Zürich gewidmet, und so lag es nahe, dass die zwei Wochen mit Streichermusik älterer Provenienz in einer Aufführung des Oktetts Mendelssohns durch das Quatuor Mosaïques und das Edding Quartet kulminierten. Beide Ensembles sind als profilierte Vertreter der historischen Praxis bekannt. Das eine, seit dreissig Jahren im Geschäft und berühmt geworden, stammt aus dem Kreis um Nikolaus Harnoncourt, das andere, jüngere, ist seit 2007 am Werk und steht Philippe Herreweghe nahe. Angesagt waren also Darmsaiten, eine etwas tiefere Stimmung, dosiertes Vibrato und sprechende Phrasierung.

Die Eindrücke an diesem Abend in der Zürcher Kirche St. Peter waren von ganz besonderer Art. Die Darmsaiten ergeben einen leichteren, helleren, obertonreicheren Klang als gewohnt, was dem elfenhaften Allegro leggierissimo im Scherzo besonders zugutekam, was die herausgehobene Stellung der ersten Geige im Kopfsatz, einem verkappten Violinkonzert, aber etwas unterspielte. Überhaupt brachten Erich Höbarth und Andrea Bischof, Anita Mitterer und Christophe Coin sowie Baptiste Lopez und Caroline Bayet, Pablo de Pedro und Ageet Zweistra die acht Stimmen weniger als ein Geflecht von Individualitäten denn als ein belebtes, aus dem Inneren heraus leuchtendes Ganzes zur Geltung. Etwas Schwebendes lag über der Wiedergabe, gerade im Allegro des Kopfsatzes, das eher moderato als con fuoco genommen wurde, aber auch im Scherzo, wo sich federleichte Pizzicati mit liegenden, in geradem Ton gespielten Akkorden verbanden. Das Finale geriet zu einem wahrhaft fulminanten Presto – ohne Rücksicht darauf, dass in diesem durchaus plausiblen Tempo das Hauptthema des Satzes in den beiden Celli, von wo aus es bis in die Geigen aufsteigt, unverständlich bleibt.

Das war auch bei Merel und Castalian so. Es ist nicht die Schuld der Interpreten, vielmehr jene des Komponisten, der den Anfang des als weit ausholende Fuge komponierten Finales nicht so sehr von den Streichinstrumenten als vom Klavier aus gedacht hat – wer je Gelegenheit hatte, den von Mendelssohn selbst erstellten Klavierauszug zu vier Händen zu hören, wird das bestätigen. Allerdings legten Mary Ellen Woodside und Edouard Mätzer, Alessandro D’Amico und Rafael Rosenfeld sowie Sini Simonen und Daniel Roberts, Charlotte Bonneton und Christopher Graves in Wetzikon den Akzent klar auf die jugendliche Lebensfreude und die stupende Virtuosität des Stücks, weshalb ihre Tempi noch eine Stufe höher lagen. Ohne Verluste freilich – im Gegenteil: Die Agilität der Stimmführung liess das konzertante Moment im Kopfsatz deutlich heraustreten, die ausgeprägten Handschriften der Ensemblemitglieder verliehen den durch die Instrumente wandelnden Motiven spannende Konturen, und vor allem herrschte mitreissende Lust am gemeinsamen Tun. In bestem Sinne musikantisch wirkte das und zugleich in hohem Masse strukturbewusst – die CD-Aufnahme bestätigt es.

Neben dem Oktett Mendelssohns gab es beim Festival für Alte Musik Zürich sinnreich, von der Tonartenfolge her allerdings weniger schön, zwei Werke Wolfgang Amadeus Mozarts. Nämlich Adagio und Fuge in c-moll  (KV 546) als ein weiteres Beispiel für die Bewunderung, die nachrückende Komponisten für Johann Sebastian Bach hegten, sowie das ebenfalls im Zeichen des Kontrapunkts stehende Streichquartett in d-moll (KV 421), in beiden Fällen mit dem Quatuor Mosaïques. Über einige Schwächen am ersten Pult konnte man wie beim Oktett Mendelssohns hinweghören, so anregend geriet die Auslegung – nicht zuletzt darum, weil sich hier die Vorzüge der historisch informierten Aufführungspraxis glücklich mit der Inspiration des Moments verbanden.

Am anderen Abend präsentierten sich vor dem Oktett Mendelssohns die beiden Quartette mit je einem eigenen Beitrag. Wie auf seiner neuen CD hob das Merel Quartett das Streichquartett Nr. 1 in Es-dur (op. 12) von Mendelssohn ans Licht. In einer ungewohnten Aufstellung, sie erinnerte an die deutsche Orchestertradition mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten, gab das Ensemble zu erkennen, mit welchem Gewinn sich Erkenntnisse der historischen Praxis ins hergebrachte Klangbild integrieren lassen. Das Castalian Quartet dagegen wandte sich dem Streichquartett in F-dur (op. 41, Nr. 2) von Robert Schumann zu, einem harmonisch wie rhythmisch ungeheuer anspruchsvollen Werk, das die zwei Damen und die zwei Herren grandios bewältigten – mit warmem, grundtönigem Klang und bestechender intonatorischer Präzision.

Für das Merel Quartett geht es demnächst weiter mit dem Kammermusikfestival Zwischentöne im Kloster Engelberg, das von seinem Cellisten Rafael Rosenfeld und seiner Primaria Mary Ellen Woodside geleitet wird. «Ainsi la nuit» heisst das Thema hier, und auch diesen Herbst folgen sich phantasievoll konzipierte Programmen mit ganz unterschiedlichen Besetzungen. Den Anfang macht «Il tramonto» für Stimme und Streichquartett von Ottorino Respighi, in der Mitte folgt das Streichquartett «Ainsi la nuit» von Henri Dutilleux, während im Abschlusskonzert die «Verklärte Nacht» Arnold Schönbergs nicht fehlen darf. Eines der jüngeren Schweizer Streichquartette hat offenkundig Tritt gefasst und ist in eine vielversprechende Zukunft aufgebrochen.

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Streichquartett Nr. 1 in Es-dur op. 12 (1829), Oktett für Streicher in Es-dur op. 20 (1825). Merel Quartett und Castalian String Quartet. Solo Musica 293 (Aufnahme 2019).