«Médée» von Charpentier in Genf
Von Peter Hagmann
Dass das Stück vergleichsweise selten aufgeführt wird, ist ein Fehler. Allerdings ein verständlicher. «Médée» von Marc-Antoine Charpentier, eine Tragédie en musique aus dem Jahre 1693, bietet zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist die Oper sehr lang, so lang wie Wagners «Tristan» – und die Länge rührt daher, dass die Partitur zahlreiche Balletteinlagen enthält, die damals, der Gattung entsprechend, ganz selbstverständlich dazu gehörten, die heute aber jeden Regisseur vor heikle Aufgaben stellen. Zum anderen wird der Knoten sehr lange geschürzt, bevor er nach einer dramatischen Steigerung sondergleichen in einem Ende von denkbar schrecklicher Tragik aufgelöst wird. Mit beiden Schwierigkeiten muss man leben – und man sollte es unbedingt tun, denn die Musik Charpentiers ist von hinreissender Schönheit.
Die Sonnen- wie die Schattenseiten dieser Oper sind jetzt in einer ebenso berührenden wie problematischen Produktion des in neuem Glanz erstrahlenden Genfer Grand Théâtre zu erleben: der letzten Neuinszenierung der Intendanz von Tobias Richter. Unter der Leitung von Leonardo García Alarcón gibt sich die Cappella Mediterranea, ein mit Genf verbundenes, nach den Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis agierendes Ensemble, den Klängen Charpentiers mit Können und Engagement hin. Gleichwohl bleibt der Klang merkwürdig verhalten, bisweilen geradezu dumpf, jedenfalls auf die Mittellage fokussiert. Geht es auf die Akustik im Genfer Grand Théâtre zurück? Auf die etwas spezielle Besetzung, die für das Stück gefordert ist? Oder auf die Auslegung durch den Dirigenten? Die zwei Jahre zurückliegende Aufführung in der Zürcher Oper mit dem Barockorchester La Scintilla unter der Leitung von William Christie hat jedenfalls wesentlich belebter gewirkt.
Nicht zu überhören ist indessen, dass die Instrumentalisten in dem auf die höchste Position hochgefahrenen Orchestergraben an der unglaublichen Verdichtung des musikalisch-dramatischen Geschehens in den Akten vier und fünf wesentlichen Anteil haben. Genauso wie das nicht unproblematisch besetzte Ensemble. Als Medea erscheint Anna Caterina Antonacci hier noch einmal als eine Tragödin grossen Formats; schauerlich konkret lässt sie erfahren, wie Medea nach dem Verrat Jasons, mit dem zusammen und für den sie ihr Heimatland verlassen hat, die Fäden in die Hand nimmt und zu einer Rache von unvorstellbarer Gründlichkeit ansetzt. Stimmlich steht es jedoch nicht zum Besten. Als eine fabelhafte Cassandre in den «Troyens» von Berlioz oder eine gefährlich verführerische Carmen in Erinnerung, ringt sie inzwischen mit einem unsicher gewordenen Stimmsitz und einem argen Registerbruch. Den Prinzipien des Barockgesangs steht sie ohnehin denkbar fern.
In dieser Hinsicht zeugt die Genfer «Médée» von einem Status quo antem. Als die historisch informierte Aufführungspraxis aufkam, machte sie im Instrumentalen bedeutende Entwicklungsschritte, während das Vokale der hergebrachten italienischen Ästhetik mit ihrem Dauervibrato und dem gepressten Ton verhaftet blieb. Dieser Zwiespalt ist heute überwunden. Inzwischen gibt es Sängerinnen wie Lucile Richardot, die ihre Aufgaben aus historischem Wissen heraus angehen und damit nicht weniger Aufsehen erregen. Aber das entspricht nicht den Auffassungen des Genfer Intendanten Tobias Richter. Er hält es – in Genf geht es vielleicht nicht anders – mit den grossen Namen, zum Beispiel mit jenem von Willard White (Kreon), der mit seinem schweren Bass aus einer gänzlich anderen Welt zu kommen scheint als die Cappella Mediterranea. Dass es Annäherungen zwischen traditioneller Technik und historischer Praxis geben kann, erweisen in Genf Cyril Auvity in der Partie des Jason und Keri Fuge in jener der Kreusa, der von ihrem Vater als Lockvogel missbrauchte Tochter Kreons.
So unterschiedlich sie vokal wirken: Als szenische Verkörperungen erscheinen in der Inszenierung von David McVicar alle Figuren griffig ausgeformt. In den Divertissements allerdings, die von den Balletteinlagen der Choreographin Lynne Page geprägt werden, drängen sich Anleihen an die Revue mächtig in den Vordergrund – mag sein, dass das auch der English National Opera London geschuldet ist, von wo die Produktion übernommen worden ist. Vielleicht hat es aber auch seinen Sinn, zumal dort, wo der zwielichtige Oronte (Charles Rice) ein riesenhaft hohles Spektakel veranstaltet, um Kreusa einen Hochzeitsantrag zu machen. In der Ausstattung von Bunny Christie erscheint die erschütternde Geschichte von Medea nämlich in einem Umfeld, das von Männlichkeitswahn, kriegerischer Gewalt und militärischem Hierarchiedenken bestimmt wird – die protzigen Unformen, in die sich die Herren Offiziere am Hofe Kreons zu stürzen belieben, sagen diesbezüglich alles. Verfehlt ist das nicht, es ist ja andauernd von Kriegen die Rede, und als das Stück herauskam, stand der dreissigjährige Krieg mit der tiefgreifenden Verwundung Europas durchaus noch in Erinnerung. So liegt auf der Hand, dass eine Frau, die nach einer schweren seelischen Verletzung ihr Gesicht wahren will, noch zu ganz anderen Mittel greifen muss, als es sich die Männer in ihrer Umgebung vorstellen können – das stellt Anna Caterina Antonacci in dieser Genfer «Médée» meisterlich dar.
Am Donnerstag, 2. Mai 2019, gab Aviel Cahn, Intendant des frisch renovierten Genfer Grand Théâtre ab 1. Juli 2019, das Programm seiner ersten Spielzeit bekannt. Dazu ein spezieller Beitrag (Szenenwechsel in Genf).