Von Peter Hagmann
Wenn, so Corona will, im Herbst 2021 das Band durchschnitten und die Tonhalle am See wieder in Betrieb genommen werden kann, wird es in Zürich an Jubel gewiss nicht fehlen. Der Grosse Tonhallesaal wird sich in neuen Farben zeigen, den originalen aus dem Eröffnungsjahr 1885, das Foyer ist zwar das alte, es wird aber eine ausladende Terrasse mit Blick in die Alpen aufweisen, das Orchester ist auch noch dasselbe, doch wird es in der berühmten Akustik wieder richtig aufblühen. Neu ist nicht zuletzt die Orgel – und da scheint sich eine denkbar schöne Überraschung anzubahnen. Das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf, das so gut wie fertiggestellt ist und in der Werkstatt besichtigt werden konnte, verspricht Ausserordentliches.
Gewiss, es sind erst Versprechen. Wie die neue Orgel klingt, weiss noch niemand, darum sind Äusserungen zur Frage, welche Musik sich auf ihr überzeugend wird spielen lassen und welche nicht, Mutmassungen in dünner Luft. Zuerst nämlich muss das rund 25 Tonnen schwere Instrument an seinem provisorischen Standort in der Männedorfer Werkstatt auseinandergenommen, nach Zürich transportiert und an seinem definitiven Platz im Grossen Tonhallesaal wieder zusammengefügt werden. Dort wird dann das von Christoph Jedele entworfene Gehäuse, das sich an der Formensprache des Saals orientiert, in Übereinstimmung mit der Farbgebung im Raum bemalt. Vor allem aber wird es dort intoniert, werden die Klangfarben in ihren Eigenarten definitiv ausgestaltet und zueinander in Balance gebracht. Erst die Intonation – ein Arbeitsgang, der Handwerk und Kunst in besonderem Masse vereint – verleiht dem Instrument das klangliche Gesicht.
Heute jedoch schon möglich ist der Blick auf die Disposition. Die neue Orgel – von den äusseren Dimensionen her etwas kleiner als das Vorgänger-Instrument, was nicht zuletzt Platz auf dem Podium schafft – umfasst 67 Register auf drei Manualen und Pedal. Die einzelnen Pfeifengruppen sind auf fünf unterschiedliche Werke verteilt, auf ein Hauptwerk, ein schwellbares Orchesterwerk im Geist des spätromantischen deutschen Klangs, ein ebenfalls schwellbares Récit nach der Art französischer Instrumente, ein Solowerk für die Klangkronen und natürlich ein Pedalwerk. Die vier von den Manualen aus gespielten Werke basieren auf 16-Fuss-Registern, gehen also von Stimmen aus, die um eine Oktave tiefer klingen als der angespielte Ton, was für üppige Klangwirkungen sorgen dürfte. Das Pedal dagegen verfügt über zwei Register in 32-Fuss-Lage; es bietet somit Töne, die um zwei Oktaven tiefer klingen als die niedergedrückte Taste – an Basswirkung wird es daher nicht fehlen.
Die Disposition ist von einem Dreierteam entworfen und in enger Zusammenarbeit mit der Orgelbaufirma Kuhn entwickelt worden. Christian Schmitt, der Organist der Bamberger Symphoniker, hat seinen Hintergrund als virtuoser Interpret spätromantischer Literatur eingebracht und Martin Haselböck seinen Horizont als Orgelprofessor an der Musikuniversität Wien, während Peter Solomon, bis vor kurzem Pianist, Cembalist und Organist des Tonhalle-Orchesters Zürich und Professor für Orchesterklavier, Kammermusik und Korrepetition an der Zürcher Hochschule der Künste, seine langjährige Erfahrung als Musiker im Zürcher Saal und am Vorgänger-Instrument beisteuern konnte. Bei dieser 1988 eingeweihten Orgel von Kleuker & Steinmeyer war das anders. Damals hat ein Gönner bezahlt und den berühmten Pariser Orgelvirtuosen Jean Guillou für die Disposition beiziehen lassen. Das exzentrische Instrument hat sich rasch als problematisch erwiesen; die Bauarbeiten in der Tonhalle ermöglichten seinen Ersatz. Heute versieht es seinen Dienst in Slowenien.
Was an seine Stelle tritt, mag als «Universalorgel» apostrophiert werden – insofern, als das neue Instrument für die Musik von Johann Sebastian Bach bis zu György Ligeti gleichermassen geeignete Voraussetzungen zu bieten sucht. Tatsächlich fehlt es von der Disposition her an nichts, was es für barocke Orgelmusik braucht – bis hin zu einer Art Zimbelstern. Zugleich aber hält das Angebot an Klangfarben so viele Spezialitäten bereit, dass der Begriff der «Universalorgel» sehr weit gefasst werden muss. Da gibt es erheiternde Extravaganzen wie die vierteltönige Nasenflöte, die als unscheinbares Ornament im Prospekt zu sehen ist, die aus dem Archiv der Firma stammende Physharmonica mit ihren durchschlagenden Zungen oder die Starkregister mit den Namen der Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula.
Wichtiger ist jedoch der Schwerpunkt bei einem Klangideal, wie es im späten 19. Jahrhundert, der Entstehungszeit der Zürcher Tonhalle, entwickelt worden ist. Dieses Klangideal, sei es in der deutschen, sei es in der französischen Ausprägung, lebt von einem reich ausgebauten Angebot an Grundstimmen, an Registern in der 8-Fuss-Lage. Davon enthält die Disposition der neuen Orgel eine bemerkenswerte Auswahl – von Salicional bis zu Unda maris, von voix céleste bis zu voix humaine. Nicht der Terrassendynamik der Barockorgel, sondern vielmehr dem bruchlosen Übergang zwischen den Klangfarben und der geschmeidigen Steigerung der Lautstärke soll damit der Boden bereitet werden – ganz so, wie es von einem Orchester verwirklicht werden kann. Für die Orgel als eine andere Art Orchester haben in Frankreich Komponisten wie César Franck, Charles-Marie Widor oder Louis Vierne, im deutschsprachigen Kulturbereich Franz Liszt und Max Reger geschrieben. Die Orgel als zweites Orchester wird dagegen in Werken wie der Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns oder der achten Sinfonie Gustav Mahlers verlangt. Nicht zuletzt ist ein Instrument solcher Ausprägung aber auch in der Lage, sensibel auf die Erfordernisse in der Begleitung von Chören zu reagieren.
In ihrer Anlage, das ist nicht zu übersehen, repräsentiert die Disposition (wie übrigens auch manche technische Eigenheit) der neuen Zürcher Orgel einen recht eigentlichen Paradigmenwechsel. Sie tut einen Schritt zurück vom Zurück. Die Rückbesinnung auf die Prinzipien des barocken Orgelbaus, die sogenannte «Orgelbewegung» des 20. Jahrhunderts, hat die romantische Orgel nachhaltig in Verruf gebracht; zahlreiche Instrumente dieses Typs sind abgebrochen und durch solche barocker Bauart ersetzt worden. Oftmals mit Gewinn, stets aber auch um den Preis des Verlusts einer Klangkultur, für die es ein immenses Repertoire gibt. Inzwischen ist der missionarische Furor erlahmt, hat die Orgelbewegung an Wirkungsmacht eingebüsst. So wird heute manches Instrument aus dem Geist der Romantik erhalten, gar restauriert; so kann auch eine Orgel entstehen, wie sie vom nächsten Herbst an in der Tonhalle Zürich erklingen wird – und hoffentlich oft genug erklingen wird.
Dass in die Tonhalle eine Orgel aus dem Hause Kuhn kommt, hat übrigens auch seine historische Logik. Es ist gleichsam eine Rückkehr. Die erste Orgel der Tonhalle-Gesellschaft Zürich hat der Firmengründer Johann Nepomuk Kuhn auf das Jahr 1872 hin in das Kornhaus am Bellevue gesetzt. Als 1895 die damals so genannte Neue Tonhalle beim Bürkliplatz eröffnet wurde, war das Instrument dorthin transferiert worden. Zweimal wurde es erweitert, bis es 1988 durch die Orgel von Kleuker & Steinmeyer ersetzt wurde. Inzwischen die alte Orgel aus der Neuen Tonhalle im Zürcher Neumünster, wo sie seit 1995 wieder zu hören ist. Ihre Nachfolgerin in der renovierten Tonhalle am See hat es in sich. Hoffen wir das Beste.