Der Aufbruch hat begonnen

Paavo Järvi mit Mahlers Fünfter beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

So nah an der Stuhlkante agierten die Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich schon länger nicht mehr – so nah wie gestern Abend, als der designierte Chefdirigent Paavo Järvi beim Tonhalle-Orchester Zürich seinen vorläufigen Einstand gab. Vorläufig, weil Järvi erst von der kommenden Spielzeit an seines Amtes walten wird. In der laufenden Saison kommt er jedoch schon verschiedentlich zum Orchester. Nach drei Konzerten mit zwei Programmen in dieser Woche geht es Ende Monat auf eine zehntägige Konzertreise nach Asien. Im Januar und im April kommenden Jahres wird Järvi dann weitere Male ans Pult treten.

Und nun ist sie da, die frische Brise. Sehr frisch wirkt sie, und sie durchzieht das Orchester von A bis Z – bis hin in die Administration, wie aus deren Reihen zu vernehmen war. Ohne Scheu packt Järvi den Stier bei den Hörnern. Zielt er auf das Erbe, das David Zinman hinterlassen hat. Und zeigt er, wie es auch anders gehen kann – bei Gustav Mahler und bei Ludwig van Beethoven. Womit er den Wesenskern des musikalischen Kunstwerks herausstellt. Das nur existiert, wenn es immer und immer wieder gespielt und damit ins klingende Leben versetzt wird. Und das so einem kontinuierlichen Transformationsprozess unterworfen ist.

Wer die Gesamtaufnahme der Sinfonien Beethovens kennt, die Järvi mit der von ihm geleiteten Kammerphilharmonie Bremen erarbeitet hat, wird sich leicht ausmalen können, dass Beethoven mit dem Tonhalle-Orchester und Järvi etwas ganz Anderes sein wird als Beethoven mit dem Tonhalle-Orchester und Zinman. Dass das auch für Mahler gilt, war jetzt am Beispiel von dessen fünfter Sinfonie zu erleben – höchst eindrücklich war das. Auffallend zunächst die Spielfreude: die Lust, Musik zu machen und genau diese Musik zu machen. Mit kräftigem Körpereinsatz ging Paavo Järvi dem Orchester voran, die Musikerinnen und Musiker wiederum reagierten mit höchster Aufmerksamkeit, letztem Engagement und glänzender Leistung – im Einzelnen wie im Gesamten.

Mit seinem untadeligen, von Järvi nicht dirigierten Einstieg in den Kopfsatz setzte der Solo-Trompeter Philippe Litzler die Vorgabe für diese Aufführung von Mahlers Fünfter. Ihm folgte später der Solo-Hornist Ivo Gass, der im Scherzo die Partie des corno obligato, für die er eine eigene Position am rechten Rand des Orchesters einnahm, auf der Höhe seines Könnens blies – mit prallem Ton und strahlender Geschmeidigkeit. Überhaupt liessen die Bläser hören, welches Potential in ihnen steckt – wobei der Dirigent die Balance zwischen Kraftentfaltung und Einbettung ins Ganze optimal herzustellen verstand. Die Streicher wiederum – sie waren nach deutscher Manier aufgestellt, mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten und den Bässen als Keil hinter den Celli und erreichten so eine Präsenz sondergleichen. Das berühmte Adagietto gelang ihnen (zusammen mit der zugezogenen Harfenistin Anne-Sophie Bertrand) ganz ausgezeichnet; es war von warmer Expressivität getragen, ohne dass je auch nur eine Spur von Kitsch gedroht hätte.

Ausdrücklichkeit, das macht das Mahler-Bild aus, das Paavo Järvi an diesem Abend zu erkennen gab. Er geht anders zu Werk als Bernard Haitink, der Mahlers Neunte diesen Sommer in Luzern am Pult des Amsterdamer Concertgebouworkest allein aus seinem inneren Empfinden und seinem leuchtenden Charisma heraus erstehen liess. Anders auch als Jukka-Pekka Saraste, der das nämliche Stück mit dem Tonhalle-Orchester zur Eröffnung seiner Saison auf Nüchternheit hin zügelte (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 14.09.18). Järvi macht aus einer Betroffenheit kein Hehl. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Tempi, die er vielgestaltig nuanciert, es aber so feinfühlig tut, dass man die musikalischen Verläufe als natürlich atmendes Geschehen empfindet. Zugleich schärft er die farblichen Eigenheiten der Partitur so, dass die ironische Doppelbödigkeit und die grotesken Fratzen unüberhörbar zutage treten. Muskulös wirkt Mahler, wie er an diesem Abend in der Tonhalle Maag zu erleben war. Dabei aber auch ausserordentlich konturiert in seiner Erzählung. Für das Tonhalle-Orchester Zürich zeichnet sich da ein neuer Weg ab. Spannend, wie es weitergehen wird.

Mahlers Sechste mit David Zinman

Das Tonhalle-Orchester Zürich begegnet seinem früheren Chefdirigenten

 

Von Peter Hagmann

 

Nicht nur das neue Licht auf Ludwig van Beethoven prägte die knapp zwanzig Jahre, die David Zinman als Chefdirigent beim Tonhalle-Orchester Zürich verbracht hat. Fast noch nachhaltiger wirkte die Beschäftigung mit Gustav Mahler. Dessen Symphonien durchzogen die Programme der gesamten Amtszeit Zinmans – vom Debütkonzert mit der Dritten 1995 bis zum Abschied mit der Zweiten 2014. Immer und immer wieder liess er diese Partituren auf die Pulte legen, selbst die monumentale (und bis heute umstrittene) Achte erschien zwei Mal. Das schuf eine Kontinuität der Auseinandersetzung, bei der jede Wiederbegegnung einen Schritt nach vorn bedeutete. So war es auch mit der sechsten Symphonie, der «Tragischen», die Zinman jetzt bei seinem jährlichen Gastspiel, wie es seit seinem Rücktritt Tradition geworden ist, wieder zur Hand genommen hat.

Die stete Wiederholung des Gleichen, die der klassischen Musik so gerne vorgeworfen wird, hat eben durchaus ihre Vorteile. David Zinman bestätigt es, wenn er zur jüngsten Zürcher Aufführung von Mahlers Sechster bemerkt, er habe in der Zürcher Tonhalle nicht von vorne beginnen müssen, sondern an das Erarbeitete anschliessen und im Aufbau weiterfahren können. Das stimmt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich ein Orchester durch die personelle Fluktuation nach und nach verändert – denn implizit, im Kern des Klangkörpers, gibt es jenen Schatz an Überlieferung, der von Musiker zu Musikerin weitergegeben wird. Tatsächlich hat Zinman Mahlers Sechste mit dem Tonhalle-Orchester, Irrtum vorbehalten, drei Mal erarbeitet. Ein erstes Mal 2003, 2007 dann im Rahmen der bei Sony erschienenen Gesamtaufnahme der Symphonien Mahlers und schliesslich 2011, als das Tonhalle-Orchester nach Leipzig eingeladen war, wo Riccardo Chailly mit dem von ihm geleiteten Gewandhausorchester ein grosses Mahler-Fest veranstaltete.

Der Vergleich mit der CD-Aufnahme von 2007 bringt schlagend an den Tag, wie sehr die Wiederholung des Gleichen von pulsierendem Leben zeugen, wie deutlich sich nämlich eine Interpretation bei erneutem Zugang verändern kann. Gleich geblieben ist freilich die Wahl der Fassung. Mahlers Sechste, 1903/04 komponiert, ist 1906 ja in drei kurz hintereinander erschienenen Ausgaben veröffentlicht worden. Die erste Fassung vom Anfang jenes Jahres dürfte für die Uraufführung vom 27. Mai 1906 in Essen verwandt worden sein. In der zweiten Fassung, kurz nach der Uraufführung erschienen, sind die beiden Mittelsätze vertauscht, ist das Scherzo von der ursprünglich zweiten Position auf die dritte verschoben, während das Andante moderato vom dritten zum zweiten Satz geworden ist. Die dritte Fassung aus der zweiten Jahreshälfte wiederum wartet mit nicht unbedeutenden Retouchen an der Instrumentation auf, vor allem aber mit der Streichung des dritten jener drei Schicksalsschläge, bei denen ein grosser Holzhammer auf eine Kiste niederzufahren hat. Heute wird im allgemeinen diese dritte Fassung gewählt, doch fällt diese Entscheidung in keinem Falle leicht, das betont auch David Zinman. Er nehme die Fassung letzter Hand, weil Mahler (auch bei der Uraufführung?) diese Version dirigiert habe – aber im Grunde müsste er noch viel mehr lesen, um zu einer besseren Entscheidungsgrundlage zu finden.

Während also die Wahl der Fassung gleich geblieben war, zeigte das klangliche Erscheinungsbild von Mahlers Sechster in der jüngsten Deutung durch das Tonhalle-Orchester Zürich und David Zinman bedeutende Veränderungen. Auch diesmal gaben die Musiker ihrem Chefdirigenten, was sie zu geben vermögen. Sie agierten ganz und gar auf der Stuhlkante: hingegeben an die Intentionen Zinmans, reaktionsfähig und leistungsbereit bis zum Letzten, klanglich auf bestem Niveau. Mag sein, dass sich in dieser geradezu demonstrativen Identifikation auch die derzeitige Lage spiegelt, in der sich das Orchester befindet; sie ist gekennzeichnet durch die heiklen Fragen rund um den jungen Nachfolger Zinmans, der vom Wunschkandidaten zur lame duck geworden ist. Entscheidender war aber wohl die ungebrochene Kraft, mit der Zinman, mittlerweile achtzig Jahre alt, die Fäden in der Hand hielt – auch die künstlerischen. Aus einer klaren, auch als klar erkennbaren Vorstellung heraus zeigte er an, wohin die Reise gehen sollte. Es wurde eine Reise durch zerklüftete Seelenlandschaften.

Nach wie vor war der Fokus zwar auf das Strukturelle gerichtet, das blieb auch zehn Jahre nach der Aufnahme von 2007 zu spüren. Die Transparenz des musikalischen Satzes, die Sorgfalt in der Staffelung der Farben, die rhythmische Schärfe – alles war unverändert da. Hinzu kam nun aber eine Emotionalität, die für David Zinman aussergewöhnlich ist. Der Kopfsatz, dessen marschartige Unerbittlichkeit in der Aufnahme durch die vergleichsweise leichte, federnde Attacke aufgefangen ist, fand an diesem denkwürdigen Freitagabend in der Tonhalle Zürich geradezu drastische Wirkung – davon zeugte nicht zuletzt die enorme Kraftentfaltung im Orchester. Dass auf diesen Einstieg mit seiner wahrhaft durchschüttelnden, seiner auch niederschmetternden Kraft das Andante moderato folgte, hatte seine eigene Logik. Nicht nur brachte es einen dringend benötigten Moment der Beruhigung ein; seine Kantabilität, von Zinman und dem Orchester wunderschön herausgearbeitet, schuf auch einen starken expressiven Kontrast – was umzog sinnreicher erschien, als dieser langsame Satz aus dem strengen motivischen Geflecht der Symphonie heraustritt. Für das Scherzo und noch mehr für sein Trio fand Zinman Tempi, deren Gezähmtheit von bezwingender Plausibilität war, während dann das Finale mit ungeheurer Gewalt über den Zuhörer hereinbrach. Das alles war derart packend, dass es geradewegs ans Zwerchfell ging. Darüber hinaus, und vor allem, liess es verstehen, dass die biographischen Auslegungen, die Mahlers Sechste hervorrief, nicht von ungefähr entstanden sind.