Der Leuchtturm in Genf

Besuch beim Orchestre de la Suisse Romande

 

Von Peter Hagmann

 

Die Konzertsäle und Opernhäuser hätten Mühe, ihr Publikum zurückzugewinnen, die Musik als Kunst sei am Ende, sie müsse aktiv und mit allen, auch mit ungewöhnlichen Mitteln unter die Leute gebracht werden, unter die jungen Leute vor allem, denn die älteren wiesen nicht das notwendige Potential auf. So wird geschrieben, so wird gesprochen, aber wohl doch eher von Menschen, die nicht in die Oper, nicht ins Konzert gehen, bestenfalls Statistiken lesen. Wer die Branche kennt, wird wissen, dass sich eine zwei Jahre dauernde Zwangspause nicht von heute auf morgen bereinigt, dass es also verfehlt ist, vom aktuellen Zustand im Vergleich mit den Verhältnissen vor dem Ausbruch der Pandemie auf die Zukunft zu schliessen. Und wer ihn und wieder ein Konzert anhört oder eine Opernaufführung besucht, wird gut und gerne von vollen Rängen berichten können – Momentaufnahmen, gewiss, aber doch Wirklichkeit. Bruckners Fünfte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Herbert Blomstedt, «Rheingold» in der Inszenierung von Andreas Homoki und unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda im Opernhaus Zürich stehen als zwei beliebige Beispiele aus jüngerer Zeit dafür, dass von einem allgemeinen, grundlegenden Zerfall keine Rede sein kann.

So gedacht auch eben erst in der Genfer Victoria Hall, wo das Orchestre de la Suissse Romande mit seinem Chefdirigenten Jonathan Nott aufgetreten ist: im Abschlusskonzert der Saison und mit einem Programm eher konventionellen Zuschnitts (was ja keineswegs verboten ist).  Gut besucht war der Saal, das Publikum durchaus gemischt, die Stimmung ausgezeichnet. Vielleicht ist es, so der spontane Gedanke dazu, doch ganz einfach eine Frage der Qualität. Das Genfer Orchester hat eine Stufe der Kompetenz erreicht, die sich vergleichen lässt mit den dank der Schallplatte noch immer lebendigen Ära mit dem Gründer Ernest Ansermet und später dem Goldenen Jahrzehnt mit Armin Jordan.

Nott hat das klangliche Profil der Formation entschieden geschärft, und die Ausstrahlung des Dirigenten im Moment des Konzerts trägt ganz wesentlich zum Gelingen der künstlerischen Projekte bei. Notts Handschrift ist jedenfalls klar und auf Anhieb erkennbar, das bezeugt auch die sehr spezielle, in ihrer Weise sensationelle Doppel-CD mit einer von Nott erstellten Suite aus der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy und der gleichnamigen Tondichtung Arnold Schönbergs (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 12.01.22) – kein Wunder, ist die CD-Produktion durch den Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden.

Die besondere Qualität trat an besagtem Abend im angestammten Genfer Konzertsaal beim Violinkonzert von Johannes Brahms heraus. Frank Peter Zimmermann bewältigte den Solopart auf seiner ihm so sehr ans Herz gewachsenen, inzwischen wieder zur Verfügung gestellten Stradivari mit dem Namen «Lady Inchquin» mit einer Souveränität sondergleichen. Üppig und warm der Ton, innig die Musikalität der Wiedergabe. Das Orchester wiederum stand dem vom Publikum gefeierten Solisten in grossartiger Übereinstimmung und geradezu kammermusikalischer Flexibilität zur Seite.

Besonderes Aufsehen erregte jedoch die zu Beginn des Abends gespielte Sinfonie Nr. 5 von Jean Sibelius. Im Norden Europas hat der Bannstrahl Theodor W. Adornos, der die Musik Sibelius’ aus den Konzertsälen des deutschsprachigen Kulturbereichs verbannte, weniger Wirkung entfaltet. Gleich Simon Rattle, Brite wie jener, geht Jonathan Nott vorurteilslos und unverkrampft an Sibelius heran. Nicht weil er eine ganz natürliche Neigung für Pathos und Pomp hätte, wie sie etwa in der Musik von Edward Elgar zum Ausdruck kommt. Sondern weil er das Moderne bei Sibelius hört, die seelische Verlorenheit, das hilflose Kreisen, im musikalischen Ausdruck aber auch die Anklänge an den Impressionismus und die harmonischen Wagnisse.

In seiner Auslegung von Sibelius’ Fünfter betont er das durch einen leichten Klang, durch sensible, differenzierte Artikulation und hohe Durchhörbarkeit – all das bot ihm das Orchestre de la Suisse Romande mit seinen wunderbaren Bläsern und seinen bestens austarierten Streichern. Das Anrührende der Musik ergibt sich da von selbst: nicht durch Druck wie weiland bei Herbert von Karajan, sondern gerade umgekehrt durch Empfindlichkeit gegenüber der Struktur – und dort, in der Struktur, sind bekanntlich die Geheimnisse verborgen. Ein Beispiel dafür bietet ein kleines, aus fünf Tönen bestehendes  Motiv im zweiten Satz, das entweder mit einem Aufstieg oder mit einem Abstieg beginnt und auf der Wiederholung zweier gleicher Töne endet. Diese beiden Töne werden üblicherweise einfach wiederholt. Jonathan Nott versteht sie aber aus dem Kontext ihrer Position im Takt heraus und lässt den ersten, schweren Ton etwas länger, den zweiten, leichteren etwas kürzer und ein wenig leiser spielen. Interpretierende Arbeit am Detail, das macht es eben aus.

Ist hier beispielhaftes Niveau erreicht, zeigt sich die kulturpolitische Lage in Genf einigermassen schwierig. Nach der verlorenen Abstimmung zu der als privat finanziertes Projekt gedachten Cité de la Musique, in der die Musikhochschule wie das Orchester adäquate räumliche Verhältnisse hätten finden können, herrscht beim Orchestre de la Suisse Romande ein gewisser Katzenjammer. Der Intendant Steve Roger sieht keine Perspektiven zur erneuten Behandlung der infrastrukturellen Probleme. Es bleibt dabei, dass sich das Orchester für Proben und Konzerte in der städtischen Victoria Hall einmietet, dort aber nicht die nötige Planungsflexibilität und vor allem nicht die Nebenräume findet, die für einen vernünftigen Betrieb vonnöten wären. Schwierigkeiten gibt es aber auch beim Grand Théâtre, dessen Renovation zahlreiche Nachtragskredite erforderlich machte. Überdies wurde bekannt, dass beim Weiterverkauf der von der Comédie Française in Paris übernommenen und in Genf erweiterten Holzkonstruktion, der «Opéra des Nations», in der das Grand Théâtre die Jahre der Renovation zwischen 2016 und 2019 überdauerte, Probleme aufgetreten seien, die zu einer Klage des aus China stammenden Käufers gegen die Genfer Oper geführt hätten. Diese Klage habe nun mit Hilfe eines Vergleichs abgewendet werden können. Über die damit verbundenen Kosten erfährt die Öffentlichkeit aber nichts. Dem Vertrauen in die Kulturpolitik ist das nicht eben förderlich.

Mozarts Violinkonzerte

 

Peter Hagmann

Das Schwere am Leichten

Vilde Frang, Christian Tetzlaff und Frank Peter Zimmermann spielen Mozart

 

Zeiten kommen und gehen, auch in der klassischen Musik – das macht ihr Leben aus. Die Violinkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts (und mit ihnen die Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Es-dur, KV 364) sprechen davon. Sie im philharmonischen Gewand zu spielen, wie es etwa Herbert von Karajan 1978 mit der noch blutjungen Anne-Sophie Mutter getan hat, ist heute obsolet. Nur die Wiener Philharmoniker als die Gralshüter des Vergangenen wagen es noch. Sie taten es im Sommer 2014 beim Lucerne Festival, zusammen mit dem Konzertmeister Rainer Küchl und dem Solo-Bratscher Heinrich Koll, am Dirigentenpult begleitet von Gustavo Dudamel – ein gespenstischer Moment «à la recherche du temps perdu».

Beim Musikkollegium Winterthur

Selbst ein so ausgeprägt, aber auch bewusst der Tradition verbundener Geiger wie Frank Peter Zimmermann hält fest, dass er Mozarts Violinkonzerte keinesfalls mehr so spielen könne, wie er es in seinen Aufnahmen von 1984 (mit dem Württembergischen Kammerorchester und dem Dirigenten Jörg Faerber) und von 1995 (mit Wolfgang Sawallisch am Pult der Berliner Philharmoniker) getan habe. Tatsächlich herrscht in der Einspielung der Konzerte Nr. 1, 3 und 4, die er im letzten Jahr vorgelegt hat (Hänssler 98.039), ein neuer Ton: leichter in der Substanz und zugleich griffiger in der Artikulation. Die historisch informierte Aufführungspraxis hat ja manches an den Tag gebracht, was heute auch von Musikern, die nicht explizit für diese Richtung stehen, ganz selbstverständlich berücksichtigt wird. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht mehr als Grundlage der Tonbildung eingesetzt, sondern wieder als Verzierung verstanden wird, mag davon zeugen.

Die Verschlankung des Tons hat natürlich auch mit der Besetzungsstärke des begleitenden Orchesters zu tun. Heute werden die Violinkonzerte Mozarts im Prinzip als Kammermusik angesehen – dies im Gegensatz zu den Klavierkonzerten, die schon von der Gattung her mehr auf Repräsentanz als auf Intimität hin angelegt sind. Beispiel dafür ist das Projekt des Musikkollegiums Winterthur, das die fünf Geigenkonzerte und die Sinfonia concertante mit Christian Tetzlaff erarbeitet hat – mit ihm allein, ohne Dirigenten. Ein interessanter, auch mutiger Ansatz, der durchaus die Zeichen der Zeit aufnimmt: Das Zürcher Kammerorchester, das Kammerorchester Basel, das Freiburger Kammerorchester, aber auch grösser besetzte Klangkörper wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Les Dissonances aus Dijon oder Spira mirabilis verzichten bisweilen auf den Dirigenten.

Allein, auch das braucht Übung, das war beim Musikkollegium Winterthur zu hören. Fehlt der Dirigent, nicht nur als Koordinator, sondern auch als Energiezentrum, sind die Orchestermusiker in einer besonderen Weise gefordert, einer anderen als unter der Leitung eines Dirigenten. Der Konzertmeister – leider werden im Programmheft die Namen der an den jeweiligen Konzerten beteiligten Orchestermitglieder im Gegensatz zu jenen der Gönner nicht genannt – hielt die Fäden energisch in der Hand, die beiden Hörner und die beiden Oboen setzten leuchtkräftige Farblichter – und dennoch fehlte den Interpretation so etwas wie eine Mitte.

Das vielleicht um so mehr, als Christian Tetzlaff doch eher als Solist und nicht so sehr Primgeiger in Erscheinung trat. Ausserdem hinterliess der eine von mir besuchte Abend im Musiksaal des Winterthurer Stadthauses den Eindruck, Tetzlaff habe seine Aufgabe vielleicht doch nicht ernst genug genommen. Viel Temperament gab es da, gewiss – und das hat als Einspruch gegen das Apollinische, das Verharmlosende, das bei den Geigenkonzerten Mozarts auch heute noch gern hervortritt, Reiz wie Berechtigung. Aber es war auch ein gerüttelt Mass an Ungenauigkeit, an Verschleifungen und Beiläufigkeit wahrzunehmen. Als ob der gerade auch für seine Präzision geschätzte Geiger hier den stürmischen Naturburschen hätte geben wollen.

Arcangelo aus London

Von diesem Burschikosen ist die Vorstellung der Violinkonzerte Mozarts durch die kometenhaft aufsteigende Norwegerin Vilde Frang und das Londoner Ensemble Arcangelo mit seinem Dirigenten Jonathan Cohen ganz und gar frei. Hier herrschen so viel Innigkeit des Gefühlsausdrucks und so natürliche Musikalität, dass diese Stücke in neuer Beleuchtung erscheinen – und was die ebenfalls letztes Jahr erschienene CD (Warner 08256462776776) diesbezüglich erkennen lässt, hat der Live-Auftritt bei der Neuen Konzertreihe Zürich voll und ganz bestätigt.

Vilde Frang gehört zu den Geigerinnen einer neuen Generation. Sie spielt nicht auf einem Instrument aus der Entstehungszeit der Kompositionen, wenn auch immerhin auf einer (übrigens sehr schönen) Geige von Jean-Baptiste Vuillaume von 1864. Aber das an sprachlichen Mustern orientierte Phrasieren statt dem möglichst weiten Bogen, die lebendige Artikulation anstelle des möglichst geschlossenen Legatos sind ihr selbstverständlich. Dazu pflegt sie einen mit feinem Pinsel gezogenen, äusserst farbenreichen Ton, der nicht das Gepresste des philharmonischen Klangs hat, aber auch nicht das Zirpende, das in der historischen Praxis da und dort auftaucht. Und nicht zuletzt verbindet sie ihre unverstellte, direkte Emotionalität mit grossartiger Präzision. Und das will etwas heissen, denn die Violinkonzerte Mozarts sind diesbezüglich nicht zu unterschätzen; das scheinbar Leichte ist hier besonders schwer.

Mit Arcangelo bildet die junge Geigerin eine sozusagen ideale Partnerschaft. Vor vier Jahren von dem Cellisten, Cembalisten und Dirigenten Jonathan Cohen gegründet und hierzulande erst wenig bekannt, gehört das Ensemble nicht im strengen Sinn der historischen Praxis an. Die Hörner arbeiten zwar ohne Ventile, die Streicher halten die Bögen so, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, also etwas weiter entfernt vom Frosch, aber der Stimmton bleibt bei 440 Hertz. Auch das, die Vermischung von Elementen aus der hergebrachten wie der historisch informierten Praxis, gehört zum neuen Stil dieser Tage. Dazu eben der Beizug eines Dirigenten – der sich hier um so vorteilhafter auswirkt, als Jonathan Cohen starke, federnde Energie aus dem klein besetzten und geschickt ausbalancierten Ensemble hervorzulocken vermag. Das verleiht auf der CD den beiden Violinkonzerten Nr. 1 (B-dur, KV 207) und Nr. 5 (A-dur, KV 219) hinreissenden Biss. Im Zürcher Konzert profilierte sich das Ensemble zudem mit der A-dur-Sinfonie, KV 201, von Mozart und der sehr eigenartigen, überaus spannend wiedergegebenen Sinfonie in G-dur, Hob. I:47, von Joseph Haydn.

Weniger gut gelang in der Zürcher Tonhalle Mozarts Sinfonia concertante. Lawrence Power war nicht der richtige Partner für diese Interpretation. Sein Ton trägt viel kräftiger auf als der von Vilde Frang und von Arcangelo, was dazu führte, dass die Bratsche sinnwidrig in den Vordergrund geriet. Die Geigerin musste sich nach Kräften dagegen wehren, an die Wand gespielt zu werden, zumal die Körpersprache des Bratschers, der sich über weite Strecken von seiner Partnerin an der Geige abwandte und seine Aufmerksamkeit den Oboen schenkte, einige Fragen in den Raum stellte. Mit Maxim Rysanov gerät das auf der CD erheblich besser. Weitaus eindrücklicher wirkte das Stück auch beim Musikkollegium Winterthur, wo der Geiger Christian Tetzlaff mit Hanna Weinmeister an der Bratsche ein echtes Duo bildete und das Orchester aktiv bei der Sache war.

Hohe Kunst und privates Engagement

Das gemeinsame Musizieren hat eben in hohem Mass mit der zwischenmenschlichen Beziehung zu tun. Das war auch vor dem Auftritt von Arcangelo bei einem Sonderkonzert im Kleinen Saal der Tonhalle zu erleben, wo Jürg Hochuli, der engagierte Unternehmer, der die Neue Konzertreihe Zürich veranstaltet, die Gründung einer Stiftung zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker bekanntgab. Geboten wurden das Klavierquartett in g-moll, KV 478, von Mozart und das Klavierquartett von Brahms, das ebenfalls in g-moll steht und die Opuszahl 25 trägt. Und das auf jenem hohen Niveau, das in den Konzerten Hochulis fast die Regel ist. Bei Mozart brachte sich der Pianist Martin Helmchen auf dem etwas grellen, für diesen Saal zu lauten Steinway derart prononciert ein, dass einem im Zuhören bewusst wurde, wie sehr dieses Stück ein heimliches Klavierkonzert ist. Bei Brahms dagegen fügte er sich ganz in den Gesamtklang ein und bildete mit der Geigerin Veronika Eberle, dem Bratscher Antoine Tamestit und der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker ein äusserst vital agierendes Ensemble. So lange es solche Musiker gibt, wird es klassische Musik geben. Der Saal war nämlich voll besetzt.