Neue Bahnen

Das Brahms-Festival des Musikkollegiums Winterthur

 

Von Peter Hagmann

 

Als Schweizer Komponist kann er nicht gelten: Johannes Brahms ist in Hamburg geboren und hat in Wien den zentralen Ort seines Wirkens gefunden. Zur Schweiz hatte er jedoch sein Leben lang ein enges, um nicht zu sagen: ein Herzensverhältnis. Vierzehn Mal ist er in die Schweiz gekommen – für Reisen, für die Sommerfrische, für Konzertauftritte. In Basel und Zürich hatte er seine Kreise, in denen er als Gast geschätzt wurde. An den Thunersee zog es ihn; in den Jahren 1886 bis 1888 verbrachte er die Sommermonate in einer geräumigen Wohnung in Thun, von wo aus er lange Wanderungen unternahm. Eine ganz besondere Beziehung bestand aber zu Winterthur, wo er in Jakob Melchior Rieter-Biedermann, dem Spross einer begüterten Unternehmerfamilie, seinen ersten Verleger und einen grosszügigen Gastgeber fand und in Joseph Viktor Widmann, der später Redaktor bei der Tageszeitung «Der Bund» wurde, einen guten Freund.

Das Brahms-Festival, mit dem das Musikkollegium Winterthur seine Saison beschloss, war darum nicht die schlechteste der Ideen. Zumal es eng mit der Spielzeit des Orchesters verbunden war. Die vier Sinfonien von Johannes Brahms hat es mit seinem Chefdirigenten Thomas Zehetmair im Verlauf der vergangenen neun Monate einstudiert, im Konzertsaal des Winterthurer Stadthauses aufgeführt und schliesslich auf CD aufgenommen. Im Brahms-Festival sind sie dann an drei aufeinanderfolgenden Tagen noch einmal erklungen – ergänzt durch die beiden Klavierkonzerte, bei deren erstem der Solopart dem jungen Stürmer und Dränger Cédric Tiberghien anvertraut war, während im zweiten der alte Hase Nelson Freire in die Tasten griff. Das Angebot des Wiederhörens verband sich hier mit dem Versuch, Energien einer Saison zu einem Schwerpunkt zu bündeln und damit auch ein wenig auf überregionale Resonanz zu zielen.

Zu den drei Hauptkonzerten traten zahlreiche Kammerkonzerte und eine Fülle an Nebenveranstaltungen – alles zusammen von Samuel Roth, dem Direktor des Musikkollegiums, und seinem Team mit Phantasie erdacht und mit Liebe durchgeführt. Im ehemaligen Sitzungszimmer des Stadtrats mit seinem majestätischen runden Tisch gab es eine kleine, sehr instruktive Ausstellung von Sibylle Ehrismann und Verena Naegele über Brahms und die Schweiz. Ihre Fortsetzung fand sie im «Rothen Igel», ja, in dem Wiener Gasthaus, das Brahms so gern aufsuchte und das für das Brahms-Festival nach Winterthur verlegt worden war, genauer: in einen ehemaligen Kopierraum des Stadthauses, ebenfalls einen sehr stattlichen Salon, wo es etwas zu essen und etwas zu trinken gab – vielleicht ein Anstoss für ein zukünftiges Konzert-Café des Musikkollegiums? Auch Herr Rieter-Biedermann, der als ältester Sohn die Geschäfte im Unternehmen der Familie seinem jüngeren Bruder überlassen hatte, um sich dem Schöngeistigen, nämlich seinem Musikverlag, widmen zu können, gesellte sich zum Publikum; witzig verkörpert durch Andrea Tiziani führte der Verleger, als wären wir an einem frühsommerlichen Samstag des Jahres 1866, durch die Stadt zum Schanzengarten, dem Sommersitz der Familie, wo Johannes Brahms wie befürchtet gerade nicht zu einem Signierstündchen bereit war.

Vielleicht musste sich der Komponist auch vom Schreck erholen, der ihm zu Beginn seines ersten Klavierkonzerts, d-Moll, op. 15, in die Glieder gefahren war. Mit einem Knall sondergleichen setzte da die Pauke ein; dass dieses eröffnende d auch von Hörnern, von Bratschen und Kontrabässen intoniert wird, blieb unhörbar. Es war leider kein Einzelfall. Vor allem am ersten Abend mit dem d-Moll-Konzert und der D-Dur-Sinfonie, der lieblichen Zweiten, kam es immer wieder zu Unsauberkeiten in der klanglichen Balance, legten sich die Blechbläser über die Streicher und zerstörten damit die Transparenz des musikalischen Geschehens. Die Zwischenfälle dieser Art haben nichts mit dem Brahms-Bild von Thomas Zehetmair zu tun, sie gehen auf den zu wenig kontrollierten Moment der Aufführung zurück, vielleicht auch auf die nach wie vor problematische Körpersprache des Winterthurer Chefdirigenten. Am besten ist Thomas Zehetmair noch immer, wenn er Geige spielt; der Abend mit dem Beethoven-Konzert 2018, bei dem Zehetmair das Orchester als Solist leitete, ist unvergessen.

Der Ansatz, den Zehetmair bei seiner Auslegung der vier Sinfonien von Johannes Brahms verfolgt, ist allerdings von hohem Interesse. Er führt Brahms weg vom süffigen Sound und der massiven Lineatur früherer Tage (die dadurch nicht ausser Kraft gesetzt ist, wenn man sich der eindrucksvollen Brahms-Deutungen Claudio Abbados erinnert). Wesentliche Anregung bot ihm die sogenannte Meininger Tradition. Im späten 19. Jahrhundert galt die Meininger Hofkapelle als eines der besten Orchester Deutschlands; Brahms hat sie mehrfach dirigiert, er hat auch mit dem Meininger Hofkapellmeister Fritz Steinbach zusammengearbeitet und ihm zahlreiche Hinweise zur Interpretation seiner Musik gegeben – Hinweise, die Steinbachs Schüler Walter Blume aufgezeichnet und für die Nachwelt erhalten hat. Angesprochen sind da Fragen der Besetzung, der Klanglichkeit und der Ausformung der musikalischen Gesten. Im Gegensatz zur Interpretationskultur aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Brahms für seine Musik den leichten, hellen Ton vorgezogen; den Dirigenten Felix Weingartner, von dem es frühe Brahms-Aufnahmen in diesem Stil gibt, hat er ausdrücklich gelobt. In der jüngeren Vergangenheit ist die Meininger Tradition von verschiedenen Dirigenten in Betracht gezogen worden, zum Beispiel von Nikolaus Harnoncourt oder Bernard Haitink. In seiner Gesamtaufnahme der Sinfonien Brahms’ mit der Tapiola Sinfonietta beschritt auch Mario Venzago diesen Weg – äusserst erfolgreich übrigens.

Beim Winterthurer Brahms-Festival gab es gleichwohl einige Sorgenfalten. Die CD-Aufnahme der vier Sinfonien wirkt um einiges besser, als es die Konzertaufführungen taten – und nicht etwa deshalb, weil bei der Einspielung die von Brahms vorgeschriebenen, allerdings umstrittenen Wiederholungen der Expositionen ausgeführt, bei den Konzerten dagegen ausgelassen wurden. Aber muss Brahms so harsch klingen, wie es Zehetmair wollte? So rauh, so heftig gegen den Strich gebürstet? In gewisser Weise schien der Orchesterklang der interpretatorischen Absicht im Weg zu stehen. Thomas Zehetmair liess das Musikkollegium in der deutschen Aufstellung mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten spielen, doch brachte das nur wenig, da die Durchhörbarkeit begrenzt war. Das farblich reizvolle Kontrafagott etwa, das zu Beginn der Sinfonie Nr. 3, F-Dur, die Bässe unterstützt, es war nicht wahrzunehmen – vielleicht auch deshalb, weil um Gottes Willen nicht zu viel Bass sein darf, das erinnerte ja an Karajan. So blieben denn manche Zweifel; mit einigen von ihnen räumt die bei Claves erschienene Einspielung auf.

Über jeden Zweifel erhaben, nämlich jeder von ihnen in seiner Weise hinreissend, waren die beiden Solisten in den Klavierkonzerten. Als Nelson Freire das Podium betrat, wirkte der 74-Jährige Brasilianer fast etwas hinfällig; wie er aber am Steinway sass, war er wie verwandelt. Kraftvoll und doch herrlich kantabel, dabei restlos souverän und gesegnet mit lebenslanger Erfahrung durchmass er das B-Dur-Konzert, das Zweite. Und mit bestimmender Kraft, jedoch ohne jedes Dominanzgehabe, zog er das Orchester und seinen Dirigenten mit – besonders im Allegro appassionato des zweiten Satzes, bei dem er in packender Spannungssteigerung auf das Ende hinzielte. Füllig und obertonreich der Klavierklang, etwa im dritten Satz, wo ihm das Orchester in präziser Phrasierung und sorgfältiger Tongebung in geheimnisvoll erfüllte Sphären folgte. Ganz und gar gegenteilig Cédric Tiberghien, der im ersten der beiden Klavierkonzerte Brahms’ als ein feuriger Jungspund erschien, obwohl er doch auch schon seine 44 Jahre alt ist. Mit dem leisen Brahms hatte er etwas Mühe, im Umgang mit dem piano vermochte er Zehetmair und dem Musikkollegium nicht ausreichend zu folgen. Wie er aber im Kopfsatz dieses d-Moll-Konzerts das langsame Tempo, das der Dirigent anschlug, mit Leben zu erfüllen verstand, wie er dem gerade von amerikanischen Pianisten so gern gepflegten Bass-Gedonner aus dem Wege ging und wie er dank mässigen Pedalgebrauch Klarheit in seinen Part brachte, das alles war von unwiderstehlicher Wirkung.

Brahms von heute – hier klang es an. Erst recht kam es zur Geltung bei dem Rezital, in dem Roberto Gonzáles Monjas, der Erste Konzertmeister beim Musikkollegium Winterthur, und der noch sehr junge, unglaublich begabte Pianist Kit Armstrong die drei Sonaten für Klavier und Violine zur Aufführung brachten. Gonzáles ist, dies zuerst, ein phänomenaler Geiger, der mit seinem Instrument förmlich verwachsen ist. Er verfügt ausserdem über eine ganz einzigartige Ausstrahlung, die ihm beispielsweise erlaubt, als dirigierender Konzertmeister die jungen Leute des Iberacademy Orchestra aus Kolumbien in unerkannte Gefilde des musikalischen Daseins zu entführen. Vor allem aber steht er ästhetisch absolut auf der Höhe der Zeit. Das Vibrato differenziert einzusetzen, eine klare Artikulation und eine sprechende Phrasierung zu pflegen, ist ihm auch bei Brahms eine Selbstverständlichkeit – und sein schlanker, leuchtender Ton unterstützt das. Entwicklungspotential gibt es noch bei der Sauberkeit des Spiels; Glissandi bei Lagenwechsel sind nicht nur unschön, sie erscheinen auch als ein Relikt aus alten Zeiten. Kein Wünsche offen lässt er als Kammermusikpartner; mit Kit Armstrong lebt er eine musikalische Partnerschaft von seltener Einmütigkeit – zumal dem jungen Pianisten die drei im Klavier hochgradig anspruchsvoll gesetzten Sonaten gleichsam aus dem Ärmel zu fliessen schienen. Wie Tiberghien setzt Armstrong auf den lichten, eher trockenen Klang, was die kontrapunktische Faktur in der Handschrift Brahms’ wundervoll heraustreten liess. Nicht zuletzt darum geriet dieser Abend zum Höhepunkt des Winterthurer Brahms-Festivals.

Johannes Brahms: Sinfonien Nr. 1 bis 4. Musikkollegium Winterthur, Thomas Zehetmair (Leitung). Claves 1916/19 (2 CD, Aufnahme 2018).

Orchesterfrühling in Winterthur

Konzerte mit dem Musikkollegium und Thomas Zehetmair

 

Von Peter Hagmann

 

Seit Samuel Roth als Direktor das Heft in die Hand genommen hat und seit der Geiger Thomas Zehetmair, der immer häufiger auch zum Taktstock greift, als Chefdirigent gewonnen werden konnte, kommt das Musikkollegium Winterthur zusehends in Fahrt. Die Programme erhalten mehr und mehr Profil, das Orchester steht auf bemerkenswerter Höhe, die Stimmung im Saal ist ausgezeichnet. Vor kurzem, als Thomas Zehetmair zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Winterthurer Stadthaus Beethovens Violinkonzert darboten, kam es zu Jubel und Stehapplaus. Zu Recht. Zehetmair gab den Solopart nicht nur so gut wie makellos, sondern auch stilistisch ganz auf der Höhe der Zeit – kein Wunder, hat der Geiger das Konzert doch mit Frans Brüggen erarbeitet und 1997 auf CD aufgenommen. Dazu gesellte sich eine Intensität des musikalischen Empfindens, die in ganz sonderbarer Weise gefangen nahm. Das Orchester war voll bei der Sache, der Auftritt ohne Dirigent scheint ihm vertraut, und es trug seinen als Solist präsenten Chefdirigenten auf Händen.

Tatsächlich hat Zehetmair enorm Energie ins Orchester gebracht – und dass er an seiner Seite Roberto Gonzáles Monjas, einen grossartigen, ambitionierten Geiger und Dirigenten, als Konzertmeister wirken lässt, ist aussergewöhnlich genug. Bei Beethoven war er aus verständlichen Gründen nicht dabei, wohl aber bei Bruckners dritter Sinfonie, die Zehetmair eine Woche vor dem Auftritt mit Beethoven in einem Hauskonzert in der Stadtkirche Winterthur präsentierte. Und zwar, was nur wenige Dirigenten wagen, in der zweiten Version, nicht in der dritten, die als Fassung letzter Hand einen besonderen Status geniessen mag, aber nicht ausschliesslich von Bruckner erstellt wurde. Die zweite Fassung klingt nicht so radikal wie die erste, lässt die Intentionen des Komponisten aber doch in aller Schärfe erkennen. Zumal in einer derart frischen, auf Tempo und klangliche Transparenz ausgerichteten Interpretation, wie sie das Musikkollegium und Zehetmair zum Besten gaben. Allein schon die Besetzung, sie war kammermusikalisch gedacht, liess den Bläsern ganz selbstverständlich Raum und sorgte damit für strukturelle Klarheit. Schade nur, dass die beiden Geigengruppen nicht in deutscher Manier links und rechts vom Dirigenten sassen; da gingen einige dialogisch angelegte Momente doch im Gesamtklang unter. Die Anregung war gleichwohl hoch; Bruckners Dritte erklang weniger als weihevolle Verbeugung des Komponisten vor seinem Vorbild Richard Wagner denn als Zeugnis eines Künstlers, der scharf konzipierend seinen eigenen Weg sucht.

Dass in der Woche darauf, vor dem Violinkonzert Beethovens, die dritte Sinfonie in Es-dur von Robert Schumann erklang, hat nichts mit Zahlen zu tun. Eher spielt es auf die Tatsache an, dass sich Bruckner, wie Hans-Joachim Hinrichsen gezeigt hat, in seiner Dritten mehr oder weniger explizit auf Schumanns «Rheinische» bezieht. Der langsame Satz dieser Sinfonie beginnt in einem Ausdrucksmodus – er ist mit «feierlich» überschrieben – und in einer musikalischen Konstellation, die von Bruckner übernommen worden sind. Den grossen Ton dieses vierten Satzes trafen Zehetmair und das Musikkollegium Winterthur sehr überzeugend, obwohl der Dirigent im ganzen Stück auf Spaltklang setzte, die Instrumentalfarben also nicht so sehr ineinander übergehen liess, als dass er sie nebeneinander stellte und so das Liniengeflecht in den Vordergrund stellte. Nicht zuletzt dadurch kam auch hier beim Zuhören der Eindruck auf, einer grossen Kammermusik beizuwohnen – einer äusserst gepflegten Kammermusik mit lebendiger Phrasierung, schönen Übergängen und ausgesuchten Beiträgen einzelner Orchestergruppen, etwa der Bratschen im dritten Satz und der Trompeten im Finale. Gerne wüsste man in solchen Momenten, wer im Orchester mit von der Partie ist; wenn im Programmheft schon Gönner und Sponsoren namentlich genannt werden, warum nicht die Orchestermitglieder?

Beide Abende enthielten, auch das versteht sich nicht von selbst, einen Kern mit neuer Musik. Zwischen Schumann und Beethoven standen, als Uraufführung eines Auftragswerks, die «Steinwellen» des Berners Daniel Glaus. Und vor Bruckners Dritter glänzte der Winterthurer Solobratscher Jürg Dähler im Bratschenkonzert Friedrich Cerhas, einem geheimnisvollen, klangschönen Stück von 1993, das nicht nur mit Alban Berg zu tun hat, sondern auch mit Anton Bruckner – was auszusprechen nicht ehrenrührig ist, auch wenn der Komponist den Satz mit strikter Ablehnung quittierte.

Das Musikkollegium Winterthur im Aufbruch

 

Peter Hagmann

Es ist etwas im Werden

Konzerte besonderer Art beim Musikkollegium Winterthur

 

In Winterthur ist etwas los. Wer abends, nach einem Konzert beispielsweise, durch die Marktgasse nach Hause schlendert, kann sich mit einem Mal freundlichst eingeladen sehen, ein Delikatessengeschäft zu betreten und, mit einem Becher Moscato versehen, von den über zwei Dutzend Sorten Panettone zu probieren, die auf dem Tresen ausgebreitet sind – eine eigene Sinnlichkeit tut sich da auf. Nicht weniger einladend präsentiert sich das Musikkollegium Winterthur, bei dem mit dem soeben installierten Chefdirigenten Thomas Zehetmair und dem schon etwas länger amtierenden, aber anhaltend tatendurstigen Direktor Samuel Roth ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Das Programm für die Saison 2016/17 spricht diesbezüglich eine klare Sprache.

Nicht nur in seinem stimmungsvollen Konzertsaal des Stadthauses will das Orchester auftreten, es geht auch hinaus – auf die Menschen zu und an ungewohnte Orte. Zum Beispiel ins Sulzerareal oder ins Theater Neuwiesenhof, wo es szenische Konzerte gibt, etwa den «Pierrot lunaire» von Arnold Schönberg zusammen mit einigen der fürwahr verrückten Klavieretüden von György Ligeti. Oder in die Kirche St. Peter in Zürich, wo sich das Musikkollegium Winterthur als eines der ältesten Orchester der Schweiz der Konkurrenz stellen (und seine für Winterthur erarbeiteten Konzertprogramme ein zweites Mal spielen) will. Gleichzeitig macht das Orchester sich und seinen Zuhörern aber auch die jüngere glanzvolle Vergangenheit bewusst, die auf das engste mit dem mäzenatischen Wirken Werner Reinharts verbunden ist. In der Villa Rychenberg finden Salonkonzerte statt, und über das ganze Programm verteilt finden sich Werke, die unter dem Einfluss Reinharts entstanden sind.

Vom ewigen Wandern

Nicht zuletzt aber gibt es mit Richard Dubugnon einen «composer in residence» und überdies einen «artist in residence», nämlich keinen Geringeren als Ian Bostridge. Der berühmte britische Tenor sorgt nicht nur für Glanz, er bringt auch neues Repertoire ein, zum Beispiel Franz Schuberts «Winterreise» in der komponierten Interpretation von Hans Zender. Dreissig Jahre lang trat Bostridge mit der originalen «Winterreise» auf, jetzt hat er sich der hochinteressanten, für Tenor und Instrumentalensemble gesetzten Fassung des achtzigjährigen deutschen Komponisten zugewandt – und das Ergebnis seiner Bemühungen nach Winterthur gebracht: in ein ausserordentlich gut besuchtes, mit letzter Aufmerksamkeit aufgenommenes Konzert im Stadthaus. Wenn sich grosse Interpreten für sie einsetzen, findet neuere Musik ganz selbstverständlich ihr Publikum.

Zenders Fassung der «Winterreise», deren Uraufführung 1993 bei den Frankfurt Festen zu einem nachhaltigen Erfolg wurde, erhebt Einspruch gegen das ältere Selbstbild des Liedbegleiters. An Liederabenden sind manche Zuhörer ganz auf die Stimme fokussiert; was das Klavier beiträgt, nehmen sie allenfalls als Zutat wahr – so wie Liedbegleiter früherer Zeiten Meister der Diskretion waren. «Bin ich zu laut?», fragte der legendäre Gerald Moore im Titel seiner Memoiren, die er in den frühen sechziger Jahren niederschrieb; er fasste damit das Grunddilemma des Partners am Klavier in einen prägnanten Satz. Inzwischen hat sich da manches verändert. Einem Sänger wie dem Bariton Christian Gerhaher ist Gerold Huber am Klavier alles andere als ein Begleiter, er prägt die Gestaltung als ein vollgültiger Partner mit – was sich nicht zuletzt darin äussert, dass der Deckel des Flügels ganz geöffnet ist.

Sänger unserer Tage sind sich bewusst, dass ein wesentlicher Teil der Wirkung, welche «Die Winterreise» bis heute erzielt, auf den Klaviersatz zurückgeht – oder besser: auf die sehr subtil ausgestaltete Balance zwischen dem Text Wilhelm Müllers, der Singstimme und dem Klavierpart. Diesen Ansatz führt Zender weiter. Den Verlauf der Singstimme lässt er im wesentlichen unverändert, den Klaviersatz überträgt er jedoch auf ein solistisch wirkendes Instrumentalensemble, das neben zweifach besetzten Holzbläsern, Blechbläsern, Schlagwerk, Harfe und Akkordeon auch ein im Winterthurer Abendprogramm nicht erwähntes Streichquintett vorsieht. In ganz unterschiedlicher Weise werden diese Instrumente eingesetzt. Dienen sie an der einen Stelle dazu, den Klaviersatz mit Farbe zu versehen, denken sie ihn an der anderen phantasievoll weiter, während sie etwa in den «Nebensonnen», dem zweitletzten Lied, den Textinhalt mit dem Material des Klaviersatzes geradezu theatralisch konkretisieren.

Von all dem war in der von Thomas Zehetmair geleiteten Winterthurer Aufführung einiges, aber wohl doch nicht genug zu erfahren. Die emotionale Grundierung des Abends war hervorragend gelungen; Schuberts Zyklus wurde hier tatsächlich zu einer bewegenden Reise durch eine Welt innerer Kälte. Die leisen Bewegungen der Musiker im Raum, gerade etwa am Anfang, wo gleich das ewige Wandern angesprochen wird, und die Einwürfe von Instrumentalisten aus räumlicher Ferne eröffneten recht eigentliche Seelenräume. Gemindert wurden diese  Eindrücke freilich durch Unzuverlässigkeiten im Technischen und, vor allem, durch einen merklichen Mangel an Transparenz. Treten die Instrumentalstimmen als solche wirklich klar heraus, werden sie als einzelne hörbar, so ergibt sich ein Geflecht, durch das man als Zuhörer in eine scheinbar unendliche Tiefe hineinblickt. Das ist hier zu wenig gelungen.

Schade war das darum, weil Ian Bostridge – so wie er es gerne tut, hier aber ganz besonders tat – auf die hochexpressive Instrumentalbegleitung mit gespannter Ausdrücklichkeit reagierte. In denkbar weitem Gegensatz zu jener Praxis früherer Zeiten, als die Liedbegleiter noch Liedbegleiter waren, dehnte er seine Stimme bis an die Grenzen und formte er den Text (in übrigens ausgezeichneter Diktion) bis in fast expressionistische Zuspitzung hinein. Nur war der Sänger eben von Klang statt von Linie umgeben und schien auch die Verstärkung, die Zender für einzelne Stellen vorschlägt, nicht wirklich zum Ziel zu führen.

«Kaiser und Papst»

Aber klar, der Weg ist das Ziel. Und dieser Weg verspricht einiges. An einem Abend zwei Wochen vor der Aufführung von Schuberts und Zenders «Winterreise» gab es französische Musik – nämlich nicht weniger als die sogenannte Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns, jene dritte Sinfonie des französischen Klassizisten, die nicht gerade zum Kernrepertoire des Musikkollegiums gehört. Dazu kommt, dass im Winterthurer Stadthaus keine Orgel steht, schon gar nicht eine jener Art, die für dieses monumentale Werk benötigt wird; und ein elektronisches Surrogat mit dem Klang aus Lautsprechertürmen verbietet sich von vornherein. Was sich hingegen anbietet, ist die von 1888 stammende Walcker-Orgel in der Stadtkirche, deren Disposition viele jener Farben anbietet, die hier vonnöten sind. Zudem steht das Instrument auf einer Empore, die so geräumig ist, dass auch ein relativ ausgewachsenes Orchester Platz findet.

Gesagt, getan – und Tobias Frankenreiter, den Organisten der Stadtkirche und Veranstalter des Winterthurer Orgelherbstes ins Boot geholt. Etwas vibrierende Aufregung verbreitete sich in der ebenfalls gut besetzten Stadtkirche, als das grosse Orchester, das Saint-Saëns vorsieht, auf die Empore und in die letzten Winkel neben der Orgel drängte; für einen Flügel gab es keinen Platz, man hatte mit einem Wandklavier vorlieb zu nehmen. Zur Einstimmung gab es, in wunderschön atmender Phrasierung, das «Prélude à l’après-midi d’un faune» von Claude Debussy und dann, echt erheiternd, die pompöse, ganz auf Effekt hin komponierte Fantaisie triomphale für grosse Orgel und Orchester von Théodore Dubois. Mehr als Tonika und Dominante sowie deren Wiederholung scheint es nicht zu geben in dieser Partitur, wohl aber schildert sie eindrucksvoll die, wie es der Programmzettel nannte, Begegnung zwischen Kaiser und Papst, nämlich zwischen dem Sinfonieorchester und der ihr klanglich nachempfundenen Orgel.

Die Orgel der Stadtkirche Winterthur stammt nicht von Aristide Camille Cavaillé-Coll, an dessen Instrumente Saint-Saëns gedacht haben mag, sondern von dem Deutschen Eberhard Friedrich Walcker, dessen Orgeln deutlich grundtöniger disponiert sind als jene von Cavaillé-Coll. Das schuf Tobias Frankenreiter die grundlegende Schwierigkeit, dem Orchester wirklich auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Zudem scheinen sich der Organist und der Dirigent darauf verständigt zu haben, dass die Orgel nirgends allzu mächtig klingen solle. Was dazu führte, dass die Überraschung in der Mitte des zweiten Satzes, wo sich die päpstliche Orgel mit einem majestätischen C-dur-Akkord von ihrem Thron erhebt und sich dem kaiserlichen Orchester in voller Grösse entgegenstellt, verschenkt wurde – in gleicher Weise wie das Ende, wo Orgel und Orchester wirklich gegenseitig ihre Muskeln spielen lassen.

Von solchen Einschränkungen abgesehen kam Saint-Saëns’ Orgelsinfonie aber zu der üppigen Wirkung, die sie verdient. Sehr schön das Ineinander der Klangfarben im ersten Satz und die Ruhe der Phrasen ebendort. Etwas mehr Mut im Aussingen des Geschehens und zum Effekt wäre aber dienlich gewesen. Das Musikkollegium Winterthur bewegte sich hier freilich in Gefilden, die ihm wenig vertraut sind. Und Thomas Zehetmair, der gefeierte Geiger, steht als Dirigent doch noch spürbar am Anfang; nicht wenig erinnert er an seinen Freund Heinz Holliger, der als Oboist und Komponist auch erst zum Dirigenten werden musste. Dass es Zehetmair gelingt, ist keineswegs ausgeschlossen.