«Salome» von Richard Strauss zur Eröffnung der Saison am Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Es ist kaum zu glauben, aber jetzt geht es wieder los im Opernhaus Zürich. Mit Masken zwar, aber vor vollbesetzten Rängen, mit der in den Orchestergraben zurückgekehrten Philharmonia und Darstellern auf der Bühne, die vor dem auf der Bühne unabdingbaren Körperkontakt nicht mehr zurückzuschrecken brauchen. Möglich macht es das Zertifikat, will sagen: die Impfung, und darüber hinaus die regelmässige Testung. Und wie wenn das Lebenszeichen nicht hätte stark genug sein können, fanden sich zur Saisoneröffnung mit «Salome» von Richard Strauss auf dem edel versteinerten Sechseläutenplatz gut fünftausend Menschen ein, um sich bei allerschönstem Altweibersommerwetter die Übertragung der im Inneren durchgeführten Premiere zu Gemüte zu führen. Die Stimmung war ausgezeichnet. Das tat Not nach den gut eineinhalb Jahren der Einschränkungen – denen das Opernhaus Zürich, das darf wiederholt werden, mit Phantasie und Mut begegnet ist.
Nun ist das Feld wieder etwas freier, und so kann das Theater wieder zeigen, was es sein kann. Der Moment der Befreiung hinterlässt in der Zürcher «Salome» durchaus seine Spuren. Unerhörte Spannung trägt den Abend. Die hundert Minuten dieses Einakters gehen ja ohnehin schnell vorbei, aber so rasch wie jetzt in Zürich, so meine Empfindung, liegt der Kopf selten auf der Silberschüssel. Kaum hat die Prinzessin die Bühne betreten, macht sie deutlich, dass sie nur eines kennt: sich und ihre Wünsche. Elena Stikhina ist weder Girlie noch Matrone, vielmehr eine junge Frau von heute. Ihre Stimme hat einen samtenen Grund, lässt aber gewaltige Expansion zu. Und ihr Drängen nimmt derart obsessive Züge an, dass Narraboth, Mauro Peter gibt ihn als einen sensiblen, ehrlichen Soldaten, geradewegs handgreiflich werden muss – erst gegen die Prinzessin, die er in Verletzung der Etikette von ihrem Vorhaben förmlich zurückzureissen versucht, später mit fataler Folge gegen sich selbst.
Nicht nur von Salome geht elementare Kraft aus, dasselbe gilt für Jochanaan, den Kostas Smoriginas mit glänzendem, dabei nie monochromem, sondern grossartig wandelbarem Metall singt. In seiner Darstellung ist der heilige Mann aus der Zisterne gewiss ein Heiliger, vor allem aber ein Mann. Einer, der über ungeheure Ausstrahlung verfügt; und einer, der nicht lange fackelt. Während sein Erscheinen üblicherweise so bedrohlich wie elektrisierend gezeigt, vor allem aber mit Distanzierung versehen wird, ist er in Zürich fast tierischer Körper, jedenfalls ungezügelter Trieb und damit Salome verwandt. Bevor er die Prinzessin mit Donnerstimme verdammt, spreizt er ihr die Beine – unvermittelt und roh. Eine Vergewaltigung? Eine Bestrafung? Oder gar eine Projektion Salomes, auf der Bühne sichtbar gemacht? Die gleiche Frage stellt sich im Schleiertanz, an dessen Ende Herodes seiner Stieftochter einen Slip unter dem Jupe herunterziehen darf, nachdem Herodias zuvor von Jochanaan brutal genommen worden ist. Jochanaan also doch der rächende Prophet? Mag sein; hat er nicht dem nach dem Suizid noch röchelnden Narraboth den finalen Schnitt durch die Kehle zugefügt?
Darüber darf nachgedacht werden. Herodes und Herodias dagegen, das Paar sorgt auch in Zürich für Amusement. Sie, die auf ihre adlige Abkunft pocht, hat von der Kostümbildnerin Mechthild Seipel eine üppige Abendrobe in der Königsfarbe Rot auf den Leib geschneidert bekommen und ist die Domina: Michaela Schuster bringt das ausgezeichnet über die Rampe. Er, restlos übergekippt, aber durchaus noch seiner (angemassten) Funktion bewusst, zieht sich nicht mehr an, ihm genügt der seidene, mit aufgemalten Federn der über hundert königlichen Pfauen dekorierte Schlafanzug – was alles andere als daneben ist, wenn man bedenkt, wie beim Wiener Kongress 1815 die Herren Diplomaten ihre Verhandlungspartner im Schlafzimmer empfingen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist die Traumbesetzung für diese Partie, die hell-klare Lineatur, die perfekte Diktion, das Understatement im Ausspielen der Demenz gelingen ihm perfekt. Überhaupt lebt die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki von scharf gezeichneten Figuren, zugleich aber von feinsinnig durchdachtem Kontext. Wenn Salome davon singt, dass sie seinen Mund küssen möchte, nimmt sie Joachanaans Kopf exakt so in die Hände, wie sie es dann am Ende der Oper, wenn dieser Kopf nicht mehr auf seinem Leib sitzt, tun wird – so werden mit Gesten szenische Subtexte geschaffen.
Zum gedanklichen Beziehungsreichtum trägt auch das Bühnenbild von Hartmut Meyer bei. Zwei Halbmonde, einer oben, einer unten, stehen im Mittelpunkt – so wie in «Salome» immer wieder auf den Mond angespielt wird. Es ist nicht der Mond in romantischer Verklärung, sondern jener des Expressionismus, die Metapher des Nächtlichen, die für Angstzustände und Grenzerfahrungen steht. Warum kommt an diesem Abend gar nicht selten die Erinnerung an Edward Munchs Gemälde «Der Schrei» auf? Es wird des Orchesters wegen sein, der Philharmonia Zürich, die von der Gastdirigentin Simone Young zu beinah schmerzvollem Dröhnen angetrieben wird. Wüst klingt die Partitur, auch in den Passagen, wo sie sinnliches Piano verlangt und sich die Dirigentin mit trockenem Mezzoforte begnügt. «Salome» als expressionistisches Musikdrama und, wie die Dirigentin durchaus zu Recht findet, als Sinfonische Dichtung mit eingelegten Singstimmen in Ehren, doch ein Gepolter, wie es von der in Grossbesetzung angetretenen Philharmonia zu hören ist, muss nicht sein. Zuspitzung braucht, zumal in einem kleinen Haus wie der Zürcher Oper, nicht oder nicht nur Lautstärke, sie braucht mehr noch Schärfungen in der Farbgebung, der Artikulation, der Akzentsetzung. Dass das geht und wie es geht, hat Michael Gielen vorgemacht: im Frankfurter «Ring des Nibelungen» aus den Jahren 1986/87, der mit instrumentaler Kraft nicht sparte und doch der Stimme wie dem Wort ihre Rechte beliess.