Im Zeichen stolzer Vergangenheit

Welches der heute aktiven Streichquartette blickt auf eine Geschichte von hundert Jahren zurück? Das Winterthurer Streichquartett kann es.

 

Von Peter Hagmann

 

Dass das Gespräch unter vier vernünftigen Leuten vernünftig wird, hängt sehr von den vier Leuten ab – das hat Goethe mit seiner Charakterisierung des Streichquartetts scharf ins Wort gefasst. Darum weisen Streichquartette in der Regel – und auch hier: keine Regel ohne Ausnahme – feste Besetzungen auf, weshalb die Lebenszeit einer solchen Formation ganz ursächlich mit der seiner Mitglieder zusammenhängt. Wenige Jahre nach dem Tod seines Bratschers Thomas Kakuska gab etwa das Alban Berg-Quartett seine Tätigkeit auf. Beim Winterthurer Streichquartett ist das anders. Es gehört zum Musikkollegium Winterthur, dessen Stimmführer der beiden Geigengruppen, der Bratschen und der Celli sich sozusagen ex officio zu diesem Ensemble zusammenfinden – immer und immer wieder. So blickt das Winterthurer Streichquartett auf sage und schreibe hundert Jahre des Bestehens zurück. Es ist damit aller Wahrscheinlichkeit nach das weltweit älteste unter den heute aktiven Streichquartetten.

Gegründet wurde das Winterthurer Streichquartett von Ernst Wolters, der 1918 als Erster Konzertmeister zum damaligen Stadtorchester Winterthur gekommen war. Als Wolters ab 1925 zunehmend am Dirigentenpult in Erscheinung trat, gab er seine Position als Erster Konzertmeister des Orchesters ab, blieb dem Quartett aber als Sekundgeiger verbunden. Eine grosse Zeit erlebte das Winterthurer Streichquartett mit dem 1938 eingetretenen Primarius Peter Rybar, dem Sekundgeiger Clemens Dahinden, der 1934 die Nachfolge von Wolters angetreten hatte, sowie den beiden Gründungsmitgliedern Oskar Kromer (Viola) und Antonio Tusa (Violoncello). Obwohl das Ensemble, da seine Mitglieder ja in erster Linie im Orchester verpflichtet waren, nicht jene Kontinuität und Ausschliesslichkeit leben konnte, die den grossen, reisenden Formationen selbstverständlich waren und sind, stand das Winterthurer Streichquartett damals für eine ganz eigene, wirkungsmächtige Qualität – eine Winterthurer Qualität sozusagen. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass neben der hochstehenden Pflege des klassisch-romantischen Kernrepertoires die Musik der Moderne stand – dies auch unter dem Einfluss des Mäzens Werner Reinhart.

Beide Aspekte, die Teilzeitlichkeit des Tuns und der weite ästhetische Horizont, prägen das Winterthurer Streichquartett bis heute. Als Primarius wirkt inzwischen Roberto Gonzáles Monjas, der 2013 zum Winterthurer Orchester gekommen ist, an der Bratsche tritt seit nicht weniger als 27 Jahren Jürg Dähler auf, am Cello seit 1989 Cäcilia Chmel. Die Position des Zweiten Geigers ist seit dem Altersrückritt von Pär Näsbom vakant. Dasselbe wird demnächst auch für jene des Ersten Geigers gelten, da Roberto Gonzáles Monjas von der kommenden Saison an als Chefdirigent vor dem Musikkollegium Winterthur stehen und darum seine Aufgabe als Erster Konzertmeister zurücklegen wird. Eine gewisse Unsicherheit liegt somit über der ehrenwerten Institution, zumal auch an der Bratsche und am Cello in relativ absehbarer Zeit Wechsel fällig werden dürften. Neue Zusammensetzungen hat das Winterthurer Streichquartett freilich immer wieder erlebt. Es ist deswegen nicht untergegangen, im Gegenteil.

Das Jubiläum des hundertjährigen Bestehens ist nun mit einem sehr charakteristischen, sehr würdigen Konzert im Saal des Winterthurer Stadthauses begangen worden. Der Pandemie wegen musste es vor einem Häuflein von fünfzig Aufrechten stattfinden, denen das Glück in der Verlosung der Plätze gewinkt hatte; für die Öffentlichkeit insgesamt blieb das Streaming. Ergänzt wurde das Konzert durch eine kleine Ausstellung im Foyer des Stadthauses sowie durch eine CD mit Aufnahmen aus der Geschichte des Winterthurer Streichquartetts. Nützlich ausserdem, dass die Konzerteinführung, in der die Historikerin Verena Naegele Stationen aus der Geschichte des Quartetts umreisst, auf der Webseite des Musikkollegiums verfügbar ist. Früher hätte es zu dem doch einzigartigen Jubiläum ein Buch oder wenigstens eine erweiterte Konzert-Broschüre gegeben. Sic tempora mutantur.

Das erste Konzert des Winterthurer Streichquartetts vom 2. Februar 1920 hatte das «Rosamunde-Quartett Franz Schuberts (D 804) mit dem Streichquartett op. 51 Nr. 2 von Johannes Brahms kombiniert; beide Werke stehen in a-Moll. Dazwischen gestellt war das Finale aus dem dritten der «Rasumowsky-Quartette» Ludwig van Beethovens (op. 59, Nr. 3), ein äusserst virtuoser Satz in C-Dur – eine nicht nur tonartlich schöne Abfolge. Auch das Jubiläumskonzert hatte seinen besonderen Mittelteil, nämlich ein «Entr’acte» der New Yorker Geigerin und Komponistin Caroline Shaw. Einen nicht ganz todernsten Zeitvertreib bot das Stück der Pulitzer-Preisträgerin, ein Sammelsurium an Versatzstücken, die wie in einem Kaleidoskop durcheinandergeschüttelt und zu immer wieder neuen Konstellationen gefügt werden. Klassisches bildete dagegen den Rahmen: das «Lobkowitz-Quartett» in F-Dur, Hob. III:82, von Joseph Haydn und, dies als Hommage an das Debütkonzert vor hundert Jahren, das zweite der «Rasumowsky-Quartette» Beethovens, jenes in e-Moll, op. 59 Nr. 2.

Bei Haydn war die Position der Zweiten Geige mit Agata Lazarczyk besetzt, der jungen Polin, die im Sinfonieorchester St. Gallen sowie im Carmina-Quartett spielt. Für Beethoven dagegen sass neben dem Primarius Olivier Blache aus dem Orchestre de chambre de Lausanne. Die beiden Jungen sahen sich in einer Art Probespiel und machten einen einigermassen nervösen Eindruck, sie immerhin etwas weniger als er. Schon das führte zu einem gewissen Ungleichgewicht. Erst recht sorgte dafür aber die unerhörte Präsenz des Primarius Roberto Gonzáles Monjas, dem bei Haydn nicht alles gelang, der bei Beethoven aber seine ganze Höhe erreichte. Jürg Dähler und Cäcilia Chmel an Bratsche und Cello waren zuverlässigste Stützen – nein, mehr noch: sie liessen sich vom Feuer des Primarius voll anstecken und versahen ihre Partien mit grossartiger Energie. Nur schade, dass sie sich stilistisch auf einem anderen Stern befanden als der Primarius, der in hohem Masse sprechend, in kleingliedriger Phrasierung und mit wenig Vibrato spielte. Diesem Ansatz gehört die Zukunft.

Auf neuem Weg

Violinsonaten Mozarts beim Musikkollegium Winterthur

 

Von Peter Hagmann

 

An Wolfgang Amadeus Mozarts Sonaten für Klavier und Violine wagen sich nur die allermutigsten, um nicht zu sagen: die allerbesten Geiger, und für die Pianisten gilt dasselbe. Aus jüngster Zeit sind etwa Alina Ibraghimova zu nennen, welche die insgesamt 35 Stücke mit ihrem Klavierpartner Cédric Tiberghien aufgenommen hat, oder ihre Kollegin Isabelle Faust, die zusammen mit Alexander Melnikov für das Label Harmonia mundi an einem bemerkenswerten CD-Projekt mit dieser Musik arbeitet. Der Grund für die Probleme ist rasch genannt: Mozarts Geigensonaten sind wesentlich heikler zu spielen, als sie klingen. Sie leben von kleinen Bewegungen auf engem Raum, und sie geben sich fast durchwegs verspielt, ja unbeschwert. Vor allem stellen sie nicht ein Soloinstrument mit Klavierbegleitung in den Raum; gerade in den frühen Sonaten – die Gattung hat Mozart von Kindsbeinen an bis wenige Jahre vor seinem Tod beschäftigt – gebührt der Vorrang meist dem Klavier, an dessen Seite sich die Geige in unterschiedlichster Beziehung zum Tasteninstrument artikuliert. Das alles führt dazu, dass diese Stücke zwischen KV 6 und KV 526 nicht sonderlich beliebt sind, weder bei den Musikern noch beim Publikum, und dass sie dementsprechend selten gespielt werden.

Beim Musikkollegium Winterthur sind sie nun jedoch erklungen – nicht allesamt, aber doch die 16 berühmten unter ihnen. «Mozart-Challenge» nannte sich das Unternehmen mit Roberto González Monjas, dem Ersten Konzertmeister des Musikkollegiums, und dem Pianisten Kit Armstrong. Und wie schon in früheren Jahren, bei den Projekten mit den Violinsonaten von Beethoven und Brahms, gab es ein Rahmenprogramm, eine kleine Ausstellung und ein Wiener Kaffeehaus, in dem sogar, vom Geiger eigens hergebracht, die berühmten Mozart-Kugeln aus der Salzburger Konditorei Fürst angeboten wurden. Nicht nur das Kaffeehaus war gut besucht, beim dritten und letzten Abend im Zyklus war auch der Musiksaal im Stadthaus so gut wie voll besetzt. Abgesehen vom unvermeidlichen Geräusch eines Mobiltelephons herrschte zudem jene gespannte Aufmerksamkeit, die sich heute in Konzerten nicht mehr selbstverständlich einstellt. Am Ende sprangen die Menschen von den Sitzen auf und brach ein Jubel aus, dass es eine Art hatte. Das nach Geigensonaten von Mozart.

Nach einer Musik nämlich, die in der Darbietung durch Roberto González Monjas und Kit Armstrong gründlich anders klang als gewöhnlich, nämlich vielgestaltig, beredt und spannend. Kit Armstrong spielte einen Bechstein-Flügel, und er entlockte diesem wunderschönen Instrument Lineaturen von heller, durchsichtiger Zeichnung. Roberto González Monjas wiederum arbeitete mit ganz leichter, von jedem Druck befreiter Bogenführung und sehr dosiert eingesetztem, meist nur kleinem Vibrato; der Klang seines ebenfalls traumhaften Instruments von Giuseppe Guarneri, einer durch fünf Winterthurer Familien gekauften und durch die Rychenberg-Sitftung zur Verfügung gestellten Geige aus dem frühen 18. Jahrhundert, blieb darum jederzeit schlank und obertonreich. Dazu kam die ausgeprägte Artikulation: die ganz bewusste, vielfach ausdifferenzierte Unterscheidung zwischen dem Gebundenen und dem Gestossenen, aber auch die Aufmerksamkeit für die Differenzierung zwischen schwer und leicht innerhalb des einzelnen Taktes. So wurde zum Beispiel gleich im zweiten Takt der eröffnenden Sonate in F-dur KV 377 eine absteigende Folge von vier Vierteln zu einer aufregenden Sache. Bei den Variationen im abschliessenden Allegretto der Es-dur-Sonate KV 481 dagegen zeigte sich, zu welcher Virtuosität das bestens aufeinander abgestimmte Duo vorzudringen vermag, und wie mutig pikant die beiden Musiker das Geschehen auszulegen wagten. Kein Wunder, wurden die drei mittleren Sonaten in Es-dur KV 302, C-dur KV 303 und vor allem jene in D-dur KV 306 mit ihrer wahnwitzigen Kadenz im Finale zu einem hochgradig animierenden Erlebnis.

Neue Bahnen

Das Brahms-Festival des Musikkollegiums Winterthur

 

Von Peter Hagmann

 

Als Schweizer Komponist kann er nicht gelten: Johannes Brahms ist in Hamburg geboren und hat in Wien den zentralen Ort seines Wirkens gefunden. Zur Schweiz hatte er jedoch sein Leben lang ein enges, um nicht zu sagen: ein Herzensverhältnis. Vierzehn Mal ist er in die Schweiz gekommen – für Reisen, für die Sommerfrische, für Konzertauftritte. In Basel und Zürich hatte er seine Kreise, in denen er als Gast geschätzt wurde. An den Thunersee zog es ihn; in den Jahren 1886 bis 1888 verbrachte er die Sommermonate in einer geräumigen Wohnung in Thun, von wo aus er lange Wanderungen unternahm. Eine ganz besondere Beziehung bestand aber zu Winterthur, wo er in Jakob Melchior Rieter-Biedermann, dem Spross einer begüterten Unternehmerfamilie, seinen ersten Verleger und einen grosszügigen Gastgeber fand und in Joseph Viktor Widmann, der später Redaktor bei der Tageszeitung «Der Bund» wurde, einen guten Freund.

Das Brahms-Festival, mit dem das Musikkollegium Winterthur seine Saison beschloss, war darum nicht die schlechteste der Ideen. Zumal es eng mit der Spielzeit des Orchesters verbunden war. Die vier Sinfonien von Johannes Brahms hat es mit seinem Chefdirigenten Thomas Zehetmair im Verlauf der vergangenen neun Monate einstudiert, im Konzertsaal des Winterthurer Stadthauses aufgeführt und schliesslich auf CD aufgenommen. Im Brahms-Festival sind sie dann an drei aufeinanderfolgenden Tagen noch einmal erklungen – ergänzt durch die beiden Klavierkonzerte, bei deren erstem der Solopart dem jungen Stürmer und Dränger Cédric Tiberghien anvertraut war, während im zweiten der alte Hase Nelson Freire in die Tasten griff. Das Angebot des Wiederhörens verband sich hier mit dem Versuch, Energien einer Saison zu einem Schwerpunkt zu bündeln und damit auch ein wenig auf überregionale Resonanz zu zielen.

Zu den drei Hauptkonzerten traten zahlreiche Kammerkonzerte und eine Fülle an Nebenveranstaltungen – alles zusammen von Samuel Roth, dem Direktor des Musikkollegiums, und seinem Team mit Phantasie erdacht und mit Liebe durchgeführt. Im ehemaligen Sitzungszimmer des Stadtrats mit seinem majestätischen runden Tisch gab es eine kleine, sehr instruktive Ausstellung von Sibylle Ehrismann und Verena Naegele über Brahms und die Schweiz. Ihre Fortsetzung fand sie im «Rothen Igel», ja, in dem Wiener Gasthaus, das Brahms so gern aufsuchte und das für das Brahms-Festival nach Winterthur verlegt worden war, genauer: in einen ehemaligen Kopierraum des Stadthauses, ebenfalls einen sehr stattlichen Salon, wo es etwas zu essen und etwas zu trinken gab – vielleicht ein Anstoss für ein zukünftiges Konzert-Café des Musikkollegiums? Auch Herr Rieter-Biedermann, der als ältester Sohn die Geschäfte im Unternehmen der Familie seinem jüngeren Bruder überlassen hatte, um sich dem Schöngeistigen, nämlich seinem Musikverlag, widmen zu können, gesellte sich zum Publikum; witzig verkörpert durch Andrea Tiziani führte der Verleger, als wären wir an einem frühsommerlichen Samstag des Jahres 1866, durch die Stadt zum Schanzengarten, dem Sommersitz der Familie, wo Johannes Brahms wie befürchtet gerade nicht zu einem Signierstündchen bereit war.

Vielleicht musste sich der Komponist auch vom Schreck erholen, der ihm zu Beginn seines ersten Klavierkonzerts, d-Moll, op. 15, in die Glieder gefahren war. Mit einem Knall sondergleichen setzte da die Pauke ein; dass dieses eröffnende d auch von Hörnern, von Bratschen und Kontrabässen intoniert wird, blieb unhörbar. Es war leider kein Einzelfall. Vor allem am ersten Abend mit dem d-Moll-Konzert und der D-Dur-Sinfonie, der lieblichen Zweiten, kam es immer wieder zu Unsauberkeiten in der klanglichen Balance, legten sich die Blechbläser über die Streicher und zerstörten damit die Transparenz des musikalischen Geschehens. Die Zwischenfälle dieser Art haben nichts mit dem Brahms-Bild von Thomas Zehetmair zu tun, sie gehen auf den zu wenig kontrollierten Moment der Aufführung zurück, vielleicht auch auf die nach wie vor problematische Körpersprache des Winterthurer Chefdirigenten. Am besten ist Thomas Zehetmair noch immer, wenn er Geige spielt; der Abend mit dem Beethoven-Konzert 2018, bei dem Zehetmair das Orchester als Solist leitete, ist unvergessen.

Der Ansatz, den Zehetmair bei seiner Auslegung der vier Sinfonien von Johannes Brahms verfolgt, ist allerdings von hohem Interesse. Er führt Brahms weg vom süffigen Sound und der massiven Lineatur früherer Tage (die dadurch nicht ausser Kraft gesetzt ist, wenn man sich der eindrucksvollen Brahms-Deutungen Claudio Abbados erinnert). Wesentliche Anregung bot ihm die sogenannte Meininger Tradition. Im späten 19. Jahrhundert galt die Meininger Hofkapelle als eines der besten Orchester Deutschlands; Brahms hat sie mehrfach dirigiert, er hat auch mit dem Meininger Hofkapellmeister Fritz Steinbach zusammengearbeitet und ihm zahlreiche Hinweise zur Interpretation seiner Musik gegeben – Hinweise, die Steinbachs Schüler Walter Blume aufgezeichnet und für die Nachwelt erhalten hat. Angesprochen sind da Fragen der Besetzung, der Klanglichkeit und der Ausformung der musikalischen Gesten. Im Gegensatz zur Interpretationskultur aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Brahms für seine Musik den leichten, hellen Ton vorgezogen; den Dirigenten Felix Weingartner, von dem es frühe Brahms-Aufnahmen in diesem Stil gibt, hat er ausdrücklich gelobt. In der jüngeren Vergangenheit ist die Meininger Tradition von verschiedenen Dirigenten in Betracht gezogen worden, zum Beispiel von Nikolaus Harnoncourt oder Bernard Haitink. In seiner Gesamtaufnahme der Sinfonien Brahms‘ mit der Tapiola Sinfonietta beschritt auch Mario Venzago diesen Weg – äusserst erfolgreich übrigens.

Beim Winterthurer Brahms-Festival gab es gleichwohl einige Sorgenfalten. Die CD-Aufnahme der vier Sinfonien wirkt um einiges besser, als es die Konzertaufführungen taten – und nicht etwa deshalb, weil bei der Einspielung die von Brahms vorgeschriebenen, allerdings umstrittenen Wiederholungen der Expositionen ausgeführt, bei den Konzerten dagegen ausgelassen wurden. Aber muss Brahms so harsch klingen, wie es Zehetmair wollte? So rauh, so heftig gegen den Strich gebürstet? In gewisser Weise schien der Orchesterklang der interpretatorischen Absicht im Weg zu stehen. Thomas Zehetmair liess das Musikkollegium in der deutschen Aufstellung mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten spielen, doch brachte das nur wenig, da die Durchhörbarkeit begrenzt war. Das farblich reizvolle Kontrafagott etwa, das zu Beginn der Sinfonie Nr. 3, F-Dur, die Bässe unterstützt, es war nicht wahrzunehmen – vielleicht auch deshalb, weil um Gottes Willen nicht zu viel Bass sein darf, das erinnerte ja an Karajan. So blieben denn manche Zweifel; mit einigen von ihnen räumt die bei Claves erschienene Einspielung auf.

Über jeden Zweifel erhaben, nämlich jeder von ihnen in seiner Weise hinreissend, waren die beiden Solisten in den Klavierkonzerten. Als Nelson Freire das Podium betrat, wirkte der 74-Jährige Brasilianer fast etwas hinfällig; wie er aber am Steinway sass, war er wie verwandelt. Kraftvoll und doch herrlich kantabel, dabei restlos souverän und gesegnet mit lebenslanger Erfahrung durchmass er das B-Dur-Konzert, das Zweite. Und mit bestimmender Kraft, jedoch ohne jedes Dominanzgehabe, zog er das Orchester und seinen Dirigenten mit – besonders im Allegro appassionato des zweiten Satzes, bei dem er in packender Spannungssteigerung auf das Ende hinzielte. Füllig und obertonreich der Klavierklang, etwa im dritten Satz, wo ihm das Orchester in präziser Phrasierung und sorgfältiger Tongebung in geheimnisvoll erfüllte Sphären folgte. Ganz und gar gegenteilig Cédric Tiberghien, der im ersten der beiden Klavierkonzerte Brahms‘ als ein feuriger Jungspund erschien, obwohl er doch auch schon seine 44 Jahre alt ist. Mit dem leisen Brahms hatte er etwas Mühe, im Umgang mit dem piano vermochte er Zehetmair und dem Musikkollegium nicht ausreichend zu folgen. Wie er aber im Kopfsatz dieses d-Moll-Konzerts das langsame Tempo, das der Dirigent anschlug, mit Leben zu erfüllen verstand, wie er dem gerade von amerikanischen Pianisten so gern gepflegten Bass-Gedonner aus dem Wege ging und wie er dank mässigen Pedalgebrauch Klarheit in seinen Part brachte, das alles war von unwiderstehlicher Wirkung.

Brahms von heute – hier klang es an. Erst recht kam es zur Geltung bei dem Rezital, in dem Roberto Gonzáles Monjas, der Erste Konzertmeister beim Musikkollegium Winterthur, und der noch sehr junge, unglaublich begabte Pianist Kit Armstrong die drei Sonaten für Klavier und Violine zur Aufführung brachten. Gonzáles ist, dies zuerst, ein phänomenaler Geiger, der mit seinem Instrument förmlich verwachsen ist. Er verfügt ausserdem über eine ganz einzigartige Ausstrahlung, die ihm beispielsweise erlaubt, als dirigierender Konzertmeister die jungen Leute des Iberacademy Orchestra aus Kolumbien in unerkannte Gefilde des musikalischen Daseins zu entführen. Vor allem aber steht er ästhetisch absolut auf der Höhe der Zeit. Das Vibrato differenziert einzusetzen, eine klare Artikulation und eine sprechende Phrasierung zu pflegen, ist ihm auch bei Brahms eine Selbstverständlichkeit – und sein schlanker, leuchtender Ton unterstützt das. Entwicklungspotential gibt es noch bei der Sauberkeit des Spiels; Glissandi bei Lagenwechsel sind nicht nur unschön, sie erscheinen auch als ein Relikt aus alten Zeiten. Kein Wünsche offen lässt er als Kammermusikpartner; mit Kit Armstrong lebt er eine musikalische Partnerschaft von seltener Einmütigkeit – zumal dem jungen Pianisten die drei im Klavier hochgradig anspruchsvoll gesetzten Sonaten gleichsam aus dem Ärmel zu fliessen schienen. Wie Tiberghien setzt Armstrong auf den lichten, eher trockenen Klang, was die kontrapunktische Faktur in der Handschrift Brahms‘ wundervoll heraustreten liess. Nicht zuletzt darum geriet dieser Abend zum Höhepunkt des Winterthurer Brahms-Festivals.

Johannes Brahms: Sinfonien Nr. 1 bis 4. Musikkollegium Winterthur, Thomas Zehetmair (Leitung). Claves 1916/19 (2 CD, Aufnahme 2018).