Ein wundervolles Album ist das, reich an Poesie, getragen von dichter Atmosphäre, musikalisch auf höchstem Niveau. Ein Album, wie es in Zeiten des Streamings als Ausdruck bewusster Programmgestaltung leider wenig zur Geltung kommt, wie es aber bei ECM unentwegt produziert wird. Die Anlage ist denkbar einfach: Jörg Widmann mit seiner Klarinette und András Schiff am Klavier spielen die beiden späten Klarinettensonaten op. 120 von Johannes Brahms, dazwischen setzt Schiff die fünf Intermezzi für Klavier in Klang, die Widmann, bekanntlich Komponist wie Interpret, 2010 zu Papier gebracht hat.
Aufgeschrieben hat Widmann, was ihn als Nachklang an Musik von Brahms begleitet und was er dann weitergedacht hat. So wie es Wolfgang Rihm tat, als er 2011/12 im Auftrag des Luzerner Sinfonieorchesters seine Assoziationen an die vier Sinfonien Brahms’ in vier kurze Orchesterstücke mit dem Titel «Nähe Fern» einfliessen liess. Brahms’ Musik kann einem nicht nur sehr nahegehen, sondern eben auch lange und nachhaltig im Ohr bleiben, das weiss die Zuhörerin so gut wie der Musiker. In seinen Intermezzi – der Titel schliesst an Brahms’ späte Intermezzi op. 117 an – lässt sich Widmann von Gesten und strukturellen Verfahren aus der musikalischen Handschrift Brahms’ anregen. Gleich das erste, ohne Bezeichnung versehene Stück, zeugt davon; eine knappe Minute lang lebt es von einem kleinen, drei Mal in absteigender Folge wiederholten Motiv und der kontrapunktischen Antwort darauf. Was András Schiff aus dieser Miniatur (und aus den darauf folgenden) macht, schon allein das lässt staunen.
Vollends gilt das für die Auslegung der beiden Klarinettensonaten. Sie werden in umgekehrter Reihenfolge präsentiert: die melancholische Nummer zwei in Es-dur erscheint auf der CD an erster Stelle, die etwas offenere erste in f-moll mit ihrem volkstümlichen Allegretto im Dreivierteltakt und ihrem spritzigen Finale zum Ausklang. Das wirkt vom Spannungsverlauf her plausibel, widerspricht jedoch den biographischen Umständen. Durch die Begegnung mit dem seinerzeit ausserordentlich berühmten Klarinettisten Richard Mühlfeld, von dessen Spiel sich der Komponist verzaubern liess, kam Brahms noch einmal zu einem letzten Schaffensschub, der freilich bald wieder in düstere Gefilde führte. Mit welcher Sensibilität Schiff und Widmann diese Musik in die Hand nehmen, lässt keine Wünsche offen. Mit dunklem, jederzeit geschmeidigem Ton wartet der Pianist auf, weite Bögen und sanfte Artikulation bringt der Klarinettist ein, und beides geschieht in vollkommener Übereinstimmung.
Ganz besonders gelungen ist in dieser Aufnahme die zarte Es-dur-Sonate op. 120 Nr. 2. Beide Musiker sind eben Meister des Leisen, und genau das ist hier gefragt. Hauchzart das Pianissimo, zu dem Jörg Widmann in der Lage ist – ein Pianissimo, das sich vom Piano noch durchaus abhebt. Und in weicher, sinnlicher Kantabilität gehalten das Dolce, das András Schiff seinem von der Bauart her perkussiven Instrument entlockt. Auch in diesem Stück hat der Pianist immer wieder so vollgriffig zu wirken, wie es nun einmal zu Brahms gehört – nur geschieht das hier ohne jeden Lärm, ohne jeden Druck, sondern in schlanker Schönheit des Tons. Und in aller Klarheit der Stimmführung; das Kontrapunktische im Klaviersatz arbeitet Schiff sehr schön heraus, so dass es selbst in dem wie ein Monolog angelegten Kopfsatz dieser Sonate zu lebhaftem Dialog mit Widmann kommt. Nicht zuletzt lässt sich auch in dieser Aufnahme erleben, mit welch diskreter Selbstverständlichkeit Schiff Spielmanieren des späten 19. Jahrhunderts pflegt, das Vorschlagen der Basstöne etwa, das leichte Arpeggieren oder die Simulation einer dynamischen Steigerung durch eine Modifikation des Tempos. Das alles belebt den leisen Ton in hinreissender Weise.
Johannes Brahms: Die zwei Klarinettensonaten op. 120, Jörg Widmann: Intermezzo. Mit Jörg Widmann (Klarinette und András Schiff (Klavier). ECM 4819512. CD, Aufnahme 2018, Publikation 2020.
Kann ein Haus tatsächlich glücklich machen? Es hat den Anschein; jedenfalls kann es einem Besucher der soeben in der Freien und Hansestadt Hamburg eröffneten Elbphilharmonie so erscheinen. Von weitem aus gesehen, fügt sich die gläserne Welle, welche die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron auf einen leerstehenden Speicher von 1963 gestellt haben, als ein Akzent in die städtische Silhouette ein, als ob es nie etwas anderes gegeben hätte. Die Elbphilharmonie gehört jetzt einfach dazu. Das zeigt sich zu nachmittäglicher Stunde schon unten vor dem schlichten, funktionalen Haupteingang. Tausende von Menschen wollen hinauf auf den Speicher, auf die Plaza in knapp vierzig Metern Höhe, von der aus sich das grosszügige Foyer erkunden oder ein Blick auf Hafen und Stadt tun lässt. Der Zutritt ist effizient organisiert, die kostenfreie Karte ist rasch bezogen, die elektronischen Schleusen sind unkompliziert durchschritten, und schon geht die Fahrt los auf der schon mit vielerlei Superlativen geschmückten Rolltreppe, die nicht gebogen ist, wie oft geschrieben, sondern durchaus gerade verläuft, aber doch eine Wölbung aufweist, so dass das Ziel erst kurz vor Ende sichtbar wird.
Ist der Moment da, öffnet sich der Tunnel, der sich während der Fahrt unmerklich verengt hat, wieder zu voller Höhe und gibt den Blick frei auf ein wohlproportioniertes Portal und ein mächtiges Fenster, durch das der Hafen sichtbar wird: eine räumliche Konfiguration und eine Verbindung zwischen Funktionalität und geradezu theatralischem Effekt, wie sie an vielen Stellen im Bau zu beobachten sind. Noch wenige Schritte, und wir sind oben – dort, wo der Aufsatz mit dem Grossen Saal (2100 Plätze) und dem Kleinen Saal (550 Plätze) sowie mit dem Hotel (244 Zimmer) und den 44 Eigentumswohnungen beginnt. 866 Millionen Euro hat der Bau verschlungen, 789 Millionen Euro gingen zu Lasten der öffentlichen Hand, zehn Mal mehr, als in den ersten Projektskizzen vor fünfzehn Jahren prognostiziert worden waren. Kein einziges Mal hätten die Stimmbürger der zweitgrössten Stadt Deutschlands zu diesem Vorhaben Stellung nehmen können, monierte der Wirtschaftsteil einer bedeutenden Schweizer Tageszeitung unter dem Titel «Hamburger Grössenwahn». Demokratie ist die einzige vertretbare politische Ordnung, versteht sich. Wer aber das Volk oder seine gewählten Parlamentsvertreter zu Kulturbauten befragt, kann arg in Teufels Küche geraten, wie der Fall der gescheiterten Salle Modulable in Luzern erwiesen hat.
Im Fall der Elbphilharmonie ist ein Projekt von einzelnen Menschen initiiert und durchgezogen worden – gewiss mit unendlich vielen, auch unendlich teuren Fehlschlägen, aber doch mit einem eindrucksvollen Ergebnis. Am Anfang stand die Idee des Architekten Alexander Gérard und seiner Partnerin, der Kunsthistorikerin Jana Marko, den leerstehenden Speicher, der heute den Unterbau der Elbphilharmonie bildet, einer neuen Nutzung zuzuführen. Sie holten die Architekten aus Basel ins Boot – es gab also keinen Wettbewerb –, schrieben sich die Finger wund und liefen sich die Füsse platt, um die Politik für die Idee zu gewinnen. Ole von Beust (CDU), damals Hamburgs Erster Bürgermeister, liess sich gewinnen und trieb das Projekt bis zu seinem Rücktritt 2010 voran. In seine Fussstapfen trat später der heutige Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), der das Vorhaben aus den Tiefen einer strukturellen und finanziellen Krise befreite und nun das rote Band durchschneiden konnte. Heute scheint der Ärger um die übermässig gestiegenen Baukosten verflogen; an ihre Stelle ist eine spürbare Euphorie getreten. Im Schaufenster prangt das neue Haus, in der Hochbahn ist die Rede davon. Und auf der Plaza hört man angeregte Gespräche und blickt man in begeisterte Augen.
Schuhschachtel und Weinberg
Zu Recht. Der Bau ist ein Wurf erster Güte: eine ausserordentlich starke Geste – wie, wenn auch in ganz anderer Weise, das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Ganz besonders gilt es für den grossen Konzertsaal. Er ist nicht nach dem Modell der Schuhschachtel gebaut, gleicht also weder dem Goldenen Saal im Wiener Musikverein noch dem Konzertsaal im KKL. Vorbild gibt vielmehr die Berliner Philharmonie von Hans Scharoun ab, in der die Zuhörer auf Segmente verteilt sind, die sich, Weinbergen gleich, rund um das Orchesterpodium anordnen. Der Vorteil dieser Anordnung liegt darin, dass sich die Distanz zwischen dem Orchester und dem Publikum trotz der vergleichsweise hohen Zahl der Sitzplätze in Grenzen hält. Tatsächlich stellt sich, hat man Platz genommen, der Eindruck einer eigenartigen räumlichen Nähe ein, einer Gemeinschaft im Zeichen der Musik. Indes, was modern erscheint, ist es nicht wirklich. Anders als der Konzertsaal in der neuen Philharmonie von Paris ist der Grosse Saal der Elbphilharmonie keine Salle Modulable; die Bestuhlung ist fix. Und wenn mit dem Weinberg-Prinzip die sozialen Unterschiede, welche die Trennung zwischen Parkett und Balkon schaffen mag, aufgehoben oder wenigstens relativiert werden sollen, so wird in der Elbphilharmonie eine neue Abstufung herbeigeführt: die zwischen guten und weniger guten Plätzen.
Nach der Eröffnung des neuen Saals fielen die Reaktionen auf seine Akustik jedenfalls auffallend unterschiedlich aus. Während aus den Proben zum Eröffnungskonzert berichtet wurde, die Orchestermusiker hätten geweint vor Glück, bemängelte «Die Welt» Verzerrungen bei den Singstimmen und Schwierigkeiten mit der klanglichen Transparenz und befand die «Frankfurter Allgemeine», die akustische Konzeption des Japaners Yasuhisa Toyota sei für Überwältigungsmusik gemacht. Auch vonseiten einzelner Zuhörer gab es kritische Äusserungen; das Fortissimo, hiess es zum Beispiel, wirke erschlagend. Wer das Glück hat, an einem der guten Plätze zu sitzen, kann das alles nicht teilen. Ich hatte dieses Glück, und ich gebe zu, von der Akustik im Grossen Saal der Elbphilharmonie restlos hingerissen zu sein. Wobei stets im Auge zu behalten ist, in welchem Mass die akustische Wahrnehmung von Subjektivität geprägt ist.
Welche Stille in dieser riesigen, auf Federn ruhenden, zweischalig gebauten und darum von Umweltgeräuschen abgeschirmten Kapsel herrschen kann, habe ich nicht erlebt, dazu herrschte an dem von mir besuchten Abend zu viel Aufregung. Das Gegenteil aber, die grösstmögliche Lautstärke einer grösstmöglichen Besetzung mit Soli, Chören, Orchester und Orgel, wirkte grandios: voll und warm, riesig, aber nicht schmerzhaft – Mahlers Achte und die «Gurre-Lieder» Schönbergs, die beide noch in dieser Saison folgen werden, kann man sich hier ausgezeichnet vorstellen. Der Raum erzeugt eine Art fast stofflicher Umhüllung, das gilt gerade auch für die herrliche Klais-Orgel, zu deren Titularin die vierzigjährige Lettin Iveta Apkalna berufen worden ist. Zur Fülle des Klangs gesellt sich jedoch eine ganz einzigartige Transparenz; obwohl Teil eines gerundeten Ganzen, treten die einzelnen Instrumente, wenn es ihr Moment ist, klar und deutlich, auch räumlich lokalisierbar heraus. Verankert ist das in den grossartigen Proportionen des Raums mit seinen fliessenden Formen und den Abertausenden molluskenartiger Gipselemente in beiger Farbe. Der Hamburger Saal bildet in jeder Hinsicht ein Gegenteil zu seinem Pendant in Luzern. Ob Äpfel besser seien als Birnen, wer vermöchte es zu sagen?
Klingende Arche
Zu erleben war das beim ersten regulären Konzert in der Elbphilharmonie, dem Debüt des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, das gewöhnlich im Graben der von Georges Delnon als Intendanten und Kent Nagano als Generalmusikdirektor geleiteten Oper Hamburg agiert. In Zukunft wird das Orchester seine zehn Philharmonischen Konzerte pro Saison an diesem neuen Ort geben. Und wie in dieser künstlerischen Konstellation nicht anders zu erwarten, gab es anlässlich dieses Debüts eine Uraufführung: «Arche», das erste Oratorium von Jörg Widmann auf eine selbst erstellte Auswahl an Texten aus der Bibel und Schriften verschiedenster Herkunft. Da lag doch einiges auf der Hand. Der 1973 geborene Münchner gilt als der repräsentative deutsche Komponist seiner Generation, in diesem Sinn als der Nachfolger Wolfgang Rihms, der seinerseits mit einem Auftrag für das eigentliche Eröffnungskonzert vom 11. Januar 2017 versehen war. Und kein Weg schien am Bild des rettenden Schiffs vorbeizuführen, kann man sich im Grossen Saal der Elbphilharmonie doch so geborgen fühlen wie im Rumpf eines stabilen, Wind, Wetter und Sintflut trotzenden Schiffs. Dass dabei und zu diesem Anlass Gott selbst und die mit Schwierigkeiten behaftete Schöpfungsgeschichte aufs Tapet kommen sollten, versteht sich da geradezu von selbst.
Fünf Teile umfasst das gut neunzig Minuten dauernde Werk – vom Entstehen des Lichts über die Sintflut, die Liebe, den Tag des Zorns bis hin zur Erlösung, die wir Menschen, so Widmann nicht zu Unrecht, uns eigenhändig herbeiführen sollen. Vielschichtig wirkt die Juxtaposition der diversen Texte, die sich im Nebeneinander gleichsam selber interpretieren – Widmann weiss interessant davon zu sprechen. Das klingende Ergebnis kommt dann freilich nicht zur selben Wirkung; mancher Moment hinterlässt da doch einen flachen, bisweilen sogar arg handgestrickten Eindruck. Es ist eben vieles in diese Partitur hineingepackt, textlich ohnehin, aber auch musikalisch – und es ist so viel, dass das Ergebnis da und dort graue Farbe annimmt. Das Stück ist so angelegt, als sollte es zeigen, wozu der neue Saal in der Lage ist. Riesig das Instrumentarium bis hin zu Glasharfe und Akkordeon, beide Instrumente bedient von so prominenten Zuzügern wie Christa Schönfeldinger und Teodoro Anzellotti. Dazu kommen wie in den Monumentalwerken des Fin de siècle zwei grosse Chöre und ein Kinderchor. Sowie, nicht zu vergessen, zwei Vokalsolisten, hier die Sopranistin Marlis Petersen, die aus den obersten Weinbergen zum Orchesterpodium herunterstieg, und der Bariton Thomas E. Bauer, der sich – es sollte wohl zur Brechung der Feierlichkeit und zur Auflockerung der Atmosphäre beitragen – immer wieder durch die Reihen der Zuhörer zu zwängen hatte. Rührend (und nebenbei: ganz ausgezeichnet) die beiden Kinder als Sprecher sowie der Knabensopran. All das hatte Kent Nagano blendend in der Hand; interpretatorisch war das ein brillanter Einstieg in das neue Leben am neuen Ort.
Dort in der Elbphilharmonie geht jetzt etwas ab; die für das halbe Jahr bis zur Sommerpause angekündigten Konzerte sind schon allesamt ausverkauft. Das dicht besetzte Programm, das Christoph Lieben-Seutter als Generalintendant vorgelegt hat, entspricht dem Mainstream dessen, was ein grosser Konzertsaal heute zu bieten hat. Von eigener Dramaturgie zeugen neben dem starken Angebot für Kinder und Jugendliche Programminseln mit thematischer Vertiefung. Porträtreihen mit Jörg Widmann, der auch als der phänomenale Klarinettist auftritt, der er ist, oder mit der Pianistin Mitsuko Uchida bilden vielleicht nicht die Spitze der Originalität. Spannender sind wohl doch Projekte wie das kleine Festival «Into Iceland» mit Esa-Pekka Salonen oder, absolut aktuell, die Begegnung mit Musik aus Syrien. Prägend wirken wird das von Thomas Hengelbrock geleitete Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks (NDR) Hamburg, das – der NDR zahlt dafür eine nicht geringe Miete – zum Residenzorchester der Elbphilharmonie wird, im neuen Haus seine Räume findet und sich auf die Eröffnung des Hauses hin zum «NDR Elbphilharmonie Orchester» umbenannt hat. Dass die Stadt von ihrem neuen Leuchtturm profitieren und dass das Konzert, ja die Kunstmusik überhaupt einen weitherum spürbaren Anstoss erhalten wird, daran ist kein Zweifel.
Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann beim Tonhalle-Orchester Zürich
Als Klarinettist ist er so gut wie unüberbietbar. Innigst ist Jörg Widmann mit seinem Instrument verbunden, es ist sozusagen Teil von ihm. Wenn er zum Beispiel, was er immer wieder tut, die Zirkuläratmung einsetzt, wenn er also einatmet, ohne dabei sein Spiel zu unterbrechen, sieht man ihm rein gar nichts an: keine aufgeblasenen Backen, kein roter Kopf, keine Zuckung – es scheint ihm selbstverständlich von der Hand zu gehen. Im (allerdings nicht sehr breiten) Repertoire klassisch-romantischen Zuschnitts gelingen ihm immer wieder Momente von grossartiger Eindrücklichkeit; Stücke wie das Klarinettenkonzert oder das Klarinettenquintett von Mozart erfahren in der Schönheit seines Tons, in der Weite seines Atems, in der natürlichen Souveränität seines Gestaltens eine interpretatorische Vertiefung, wie sie ihresgleichen sucht. Kein Wunder, gehört er zu den allseits gefragten, dementsprechend vielbeschäftigten Musikern dieser Tage.
Einer zum Anfassen
Und vielleicht auch kein Wunder, dass sich Jörg Widmann auch als Komponist profiliert. Sein Werkverzeichnis hat schon ansehnliche Dimension erreicht und umfasst viele Gattungen: Kammermusik, Orchesterwerke, aber auch die 2012 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführte Oper «Babylon» auf ein Libretto von Peter Sloterdijk. Sein Schaffen, zum Teil von ihm selbst vorgestellt, lässt sich jetzt kennenlernen beim Tonhalle-Orchester Zürich; es hat den 42-jährigen Münchner für diese Saison auf den «Creative Chair» gerufen – in die vor einem Jahr neu geschaffene Funktion für einen Musiker, der das Orchester eine Spielzeit lang als Komponist und Interpret zugleich begleitet. Ein intensiver Austausch wird da in Gang gesetzt, von dem alle Seiten profitiieren. Publikum wie Orchester können einen Musiker näher kennenlernen – als Interpreten in seinen Spielweisen, als Komponisten in seinem ästhetischen Horizont (wovon übrigens auch die Studierenden an der Zürcher Musikhochschule profitieren). Der Gast wiederum kann sich in eine Umgebung einleben, wie es ihm sonst, im Rahmen der Konzertreisen mit ihren Kurzaufenthalten, nicht möglich wäre.
Einer zum Anfassen wird da also präsentiert. Es ist freilich mit der Schwierigkeit verbunden, dass es ein Musiker von heute ist, während das, was heute komponiert wird, nicht von jedermann geschätzt wird. Ilona Schmiel, die Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich, hat diesbezüglich ein eigenes Fingerspitzengefühl entwickelt. Sie hat mit dem ganz und gar neuen, hochinteressanten Konzept des «Creative Chair» ein Format geschaffen, das Musik dieser Tage mit einem über längere Phasen anwesenden, seine Kunst persönlich vermittelnden Menschen verbindet. Zugleich ist sie stilistisch geschickt, nämlich vorsichtig vorgegangen; sie hat nicht gleich auf Heinz Holliger gesetzt, dessen Vermögen als Oboist höchsten Massstäben genügt, dessen Musik aber besonders offene Ohren verlangt. Nein, sie hat Künstler in den Blick genommen, welche die Avantgarde in gewisser Weise hinter sich gelassen haben. In der ersten Saison ihres Wirkens in Zürich war Esa-Pekka Salonen zu Gast, der als amerikanisch geprägter Finne eine in ihrer Weise zugängliche, weil ästhetisch offene, gleichwohl aber klar heutige Musik vertritt.
Und nun eben Jörg Widmann. Bei ihm fängt es damit an, dass er sein Instrument mit verspielter Neugierde oder neugieriger Verspieltheit erkundet – das Hohe wie das Tiefe, das Laute wie das Leise, das Reine wie das geräuschhaft Angereicherte. Wie das vor sich geht, war an einem Kammermusikabend im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich zu verfolgen. Widmann trug seine Fantasie für Klarinette solo von 1993 vor, die den Zuhörer im Rahmen von kaum zehn Minuten auf einen anregenden Spaziergang durch die Klangwelt des Instruments mitnimmt. Eine Fingerübung, vielleicht; eine Harmlosigkeit, mag sein. Aber doch ein Moment attraktiven Erlebens; mucksmäuschenstill war es im Saal, hie und da wurde geschmunzelt, bisweilen gar gelacht – was könnte Besseres geschehen?
Wie Salonen pflegt auch Widmann, das mag sich bei einem Musiker seiner Generation von selbst verstehen, einen entspannten Umgang mit der Avantgarde und ihren gewiss ausser Kraft gesetzten, in den Hinterköpfen jedoch nach wie vor wirksamen Normen. Mehr als am Willen zur Erneuerung des Materials, mithin dem Gedanken an einen wie auch immer gearteten Fortschritt, nährt sich sein Komponieren sich an dem, was ihn als Interpreten umgibt. Beim Lucerne Festival zum Beispiel hat das Collegium Novum Zürich im Sommer 2009 Widmanns Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass vorgestellt, das sich in Besetzung und Tonfall hörbar an dem für dieselbe Besetzung geschriebenen Werk Franz Schuberts orientiert. Gleiches geschah in besagtem Kammermusikabend in Zürich; Bezugspunkt war dort Robert Schumann.
«Im Märchenton»
Zusammen mit dem bei Schumann klanglich etwas groben Pianisten Dénes Várjon spielte Widmann die «Fantasiestücke» op. 73 in der Fassung für Klarinette und Klavier, nachdem er zuvor, unter Mitwirkung der Bratscherin Tabea Zimmermann, die «Märchenerzählungen» op. 132 für Klarinette, Viola und Klavier gegeben hatte. Als Reflex darauf folgte die Uraufführung eines vom Tonhalle-Orchester bestellten Werks für die gleiche Besetzung. Unter dem Titel «Es war einmal…» und, wie der Untertitel suggeriert, «im Märchenton» schliesst Widmanns Trio von 2015 klar an die Musik Schumanns an. Es nimmt teils ganze Passagen, teils charakteristische Gesten auf, lässt die Strukturen dann aber zerfallen, führt sie in die Phantasie und die Handschrift Widmanns über, um sie bisweilen auch wieder zusammenzufügen – äusserst anregende Verläufe ergeben sich da.
Die charakteristischen, euphorischen Sprünge Schumanns eröffnen das fünfteilige Stück. Bald jedoch verfremden sich die Klänge, sie werden nicht nur durch Dissonanzen angereicht, sondern auch farblich verändert, nehmen Züge orientalischer Welt an oder denaturieren sich zu gläsern erstarrten Mehrfachklängen. Widmann ist kein Strukturdenker wie Brian Ferneyhough, er bewegt sich auch nicht an den Rändern des Klangs wie Helmut Lachenmann, in seiner Lust an der Wahrnehmung seiner musikalischen Umgebung und in seiner fast unersättlichen Art von deren Verarbeitung gleicht er eher Wolfgang Rihm. Mit ihm teilt er auch die überquellende Phantasie, die wohlstrukturierte Spontaneität und die Zugänglichkeit, die keinerlei Anbiederung braucht. Nicht zuletzt lebte diese Uraufführung freilich von der Höhe der Interpretation. Wie weit Jörg Widmann im Leisewerden der Klarinette gehen kann und wie stolz sein Klang aus den Tiefen des Instruments nach oben steigt, ist ebenso hinreissend wie die gestalterische Intensität und die klangliche Präsenz der Bratscherin Tabea Zimmermann, aber auch das sagenhafte manuelle Vermögen und die Reaktionsschnelligkeit des Pianisten Dénes Várjon. Im «Kegelstatt-Trio» KV 498 von Wolfgang Amadeus Mozart führte das zum interpretatorischen Höhepunkt des Abends.