Das Sutterle und sein «Carmen»-Tod

«Annas Maske» von David Philip Heftis Oper als Uraufführung in St. Gallen

 

Von Peter Hagmann

 

Eines Tages lag sie tot auf ihrem Bett, erschossen von einem einstigen Liebhaber, der in seinem Blut neben ihr auf dem Boden lag. Sie, das war Anna Sutter, die 1871 in Wil im Kanton St. Gallen geborene Sängerin, die mit zweiundzwanzig an die Hofoper Stuttgart kam, dort bis zu ihrem Tod 1910 blieb und in dieser Zeit zu einem Publikumsmagneten erster Güte wurde. In schauerlicher Verlängerung des Bühnengeschehens nach der Wirklichkeit hin erlitt sie das Schicksal Carmens, einer Figur, welche die Mezzosopranistin besonders liebte und oft verkörperte. Zugleich bündeln sich in diesem Fall jene Männerphantasien, die sich, romantischem Geist entstammend, um die Theaterkünstlerinnen rankten – um Frauen, die sich nicht dem Gesetz der Ehe unterwarfen noch ihr Leben als Fräulein verbrachten, sondern ihren selbstbestimmten Weg verfolgten. Was damals als ungeheure und deshalb auch erotisch aufgeladene Anmassung erschien, mutet von heute aus, da diese Autonomie im Prinzip jeder Frau offensteht, ein klein wenig verzopft an. Auch etwas bieder vielleicht, denn genau so, wie es Anna Sutter in ihren rasch wechselnden Beziehungen vorgemacht haben soll, mag sich der Opernliebhaber das Leben hinter dem Vorhang ausmalen: zügellos und verrucht.

So lässt es wenigstens die Novelle empfinden, in welcher der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer 2001 den Fall Anna Sutter verarbeitet hat. Ihr Leben verlor die Sängerin durch die Hand des mässig erfolgreichen Dirigenten Aloys Obrist, der seiner Gattin überdrüssig war und nach nichts anderem dürstete als dem Besitz – ja, dem Besitz – der angebeteten Anna. Während einiger Zeit waren die beiden tatsächlich und in riskanter Verletzung ihrer Arbeitsverträge ein Paar gewesen; die Sängerin hatte sich freilich längst aus der Liaison verabschiedet, was der Dirigent in keiner Weise verstehen noch hinnehmen konnte. Keinen Akt der Selbsterniedrigung liess er aus, er machte sich zur allgemeinen Lachnummer – seine ehemalige Geliebte hatte dafür nur Hohn und Spott und zuletzt ein scharfes Nein übrig. So blieb ihm denn nichts als die Pistole: zwei Schüsse für sie, deren fünf für sich selber. Sehr melodramatisch klingt das, und tatsächlich ist «Annas Maske», so der Titel von Sulzers Novelle, zur Oper geworden. Am Wochenende ist das gleichnamige Stück des Schweizers David Philip Hefti als Auftragswerk des Theaters St. Gallen ebendaselbst zu erfolgreicher Uraufführung gekommen.

Hochästhetisch und dramatisch: «Annas Maske» in St. Gallen / Bild Iko Freese, Theater St. Gallen

Erfolgreich, weil aus der Novelle umstandslos ein packendes Libretto geworden ist. Alain Claude Sulzer ist es gelungen, die im Prosatext angelegte Struktur einer vielfach verschachtelten Rückblende und die einem Kriminalroman gleichende Spannung aufrecht zu erhalten. Er hat sie sogar noch geschärft, indem die Oper anders als die Vorlage nicht mit dem Abnehmen der Totenmaske, sondern mit der in der Novelle erst später offenkundig werdenden Liebe zwischen Pauline, der Haushalthilfe der Sängerin, und dem ermittelnden Polizisten Heid anhebt. Dass die Rückblende auf der Bühne so gut funktioniert, ist nicht zuletzt der szenischen Einrichtung durch die Regisseurin und Ausstatterin Mirella Weingarten zu verdanken, der hier eine famose Arbeit gelungen ist. Die Bühne ist schmal gehalten, in die Höhe gezogen und in drei Ebenen geteilt. Zuoberst aufgereiht der von Michael Vogel einstudierte Chor, der eher episodisch eingesetzt ist. In der Mitte die tote Anna, das alter ego, das zum Schluss in die Freiheit enteilt – die St. Galler Ballettdirektorin Beate Vollack bringt ihre Körpersprache da zu voller Geltung. Ganz unten schliesslich die Ebene, auf der sich in der Chronologie der Ereignisse die Rückblende abspielt.

Hochästhetisch wirkt diese Disposition in ihrer minimalistischen Formensprache und passend zu einem Stück, das einen bereits eingetroffenen und demnach bekannten Vorfall gleichsam analysierend herbeiführt. Sinnlich und sinnreich zudem die zu beiden Seiten angebrachten Türen, durch die scharf zeichnendes Licht einfällt, aus denen sich manchmal aber auch bloss Hände recken. Eine mächtige Flügeltür wird ausserdem als Video auf die hellgraue Rückwand projiziert – die Tür spielt ja eine zentrale Rolle im Plot. Hätte Pauline (Sheida Damghani), das gesteht die Zofe gleich zu Beginn und dann immer wieder, die Wohnungstür nicht geöffnet, das Verbrechen wäre nicht geschehen. Das Verbrechen, es bahnt sich in ungeschmälerter dramatischer Spannung an, denn auf der Bühne wird der szenische Effekt voll ausgekostet. Sprechend schon allein die von der Regisseurin entworfenen Kostüme. Anna Sutter trägt einen wallenden Umhang, wie er zur Diva gehört, darunter aber einen roten Unterrock – alles klar? Und Maria Riccarda Wesseling schafft mit ihrem kernigen Timbre und ihrer fabelhaften Bühnenpräsenz das Energiezentrum des Stücks.

Nicht weniger prägnant David Maze in der Partie des Hofopernintendanten Putlitz, der sich in seinen Geschäften mit der Diva nicht stören lassen will und darum den aufsässigen Dirigenten Obrist mit Donnerstimme des Hauses verweist. Diesen wiederum zeichnet Daniel Brenna mit seinem geschmeidigen Tenor als Karikatur seiner selbst. Auch Aloys Obrist hat sein alter ego, wenn auch in ganz anderer Art: in jener des Sängers Albin Swoboda, ebenfalls eines Tenors, und seines Zeichens Nachfolger in Annas Armen. Er ist bei Nik Kevin Koch ausgezeichnet aufgehoben. Das Ensemble und das Sinfonieorchester St. Gallen meistern die Partitur von David Philip Hefti, soweit das in einer ersten Begegnung wahrzunehmen ist, ganz hervorragend; der Dirigent Otto Tausk agiert mit Sinn für das Wesentliche und den grossen Bogen – das ist nicht wenig.

Hefti, Jahrgang 1975, ist in seinem ersten abendfüllenden Werk in hohem Mass sich selber treu geblieben. Wie in vielen seiner Werke gibt es auch in «Annas Maske» liegende Töne oder Klänge, um die herum erregte Bewegung herrscht. Ungewohnter sind die leeren Quinten, die sich glissandierend ineinander schieben und die den Schluss, nach den gewaltigen Tutti-Schlägen der tödlichen Schüsse, in eine ganz eigene Atmosphäre tauchen. Hefti beherrscht sein Handwerk virtuos, er kennt das Arsenal dessen, was die Avantgarde hervorgebracht hat, und bedient sich seiner äusserst phantasievoll. Dessen ungeachtet (oder gerade darum) kommt es immer wieder zu Momenten des Déjà-entendu. Der Passus duriusculus, die Folge absteigender Halbtöne, im Zusammenhang mit dem Tod gehört ebenso zu den Allgemeinplätzen, wie der Einsatz des Löwengebrülls zum Ausruf «Verfluchte Carmen!» eine tautologische Banalität darstellt. Und die gezackten vokalen Linien, sie tragen ebenso Staub des Gestrigen, wie es die auf die Spitze getriebene rhythmische Komplexität tut. Heftis Handschrift ist klar erkennbar; wenn sie noch genuiner eigenes Mass nähme, könnte sie nur gewinnen.

«Die Zauberflöte» in Basel

 

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Ballett der Türme in der Basler «Zauberflöte» – Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Mit Mozart im Labyrinth

Eine neue Produktion der «Zauberflöte» im Theater Basel

 

Gut anderthalb Jahrzehnte ist es her, dass das Theater Basel zur Weihnachtszeit «Hänsel und Gretel» von Engelbert Humperdinck aufs Programm nahm – dies allerdings in einer Inszenierung von Nigel Lowery, die mit ihren frechen Akzentsetzungen für den festtäglichen Opernbesuch mit Kindern und Grosseltern nicht eben geeignet war. Ähnlich lässt sich von der neuen «Zauberflöte» denken, mit der das seit dieser Spielzeit von Andreas Beck geleitete Haus am Rheinknie jetzt aufwartet. In gewisser Weise, nämlich szenisch, ist es eine «Meta-Zauberflöte», die hier geboten wird. Wer die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts kennt und mit dem Labyrinth der Operngeschichte einigermassen vertraut ist, kann sich vielfach anregen lassen – auch zum Widerstand. Wer aber ganz einfach «Die Zauberflöte» kennenlernen möchte, wird sich vielleicht bald allein gelassen sehen.

Entdeckungen im Graben

Nicht im Musikalischen. Dort herrscht eine ganz eigene Nähe zur Partitur in Verbindung mit einem auf der Höhe der Zeit stehenden Blick auf den Notentext – das lässt die Musik Mozarts enorm gegenwärtig werden. Nicht dass das Sinfonieorchester Basel nun zu einem Originalklangensemble geworden wäre, aber die kleine Streicherbesetzung, der Verzicht auf das durchgehende Vibrato und der damit verbundene Zuwachs an Klangfarben sowie die hörbar differenzierte Artikulation lassen den Basler Klangkörper in einem überraschenden Licht erscheinen – einmal mehr erweist sich, dass die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis Allgemeingut geworden sind. Und welchen Zugewinn sie zutage fördern können, zeigt der Dirigent des Abends. Der 35-jährige Heidelberger Christoph Altstaedt, der sich unter anderem von Kurt Masur und bei der Lucerne Festival Academy von Pierre Boulez ins Metier einführen liess, animiert das Orchester zu einer derart packenden Auslegung, dass sich die Ohren im Saal spitzen und sich die Aufmerksamkeit auf den oft bloss beiläufig aufgenommenen Ton aus dem Graben zuwendet.

Von dort kommen auch wesentliche Impulse für die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, zum Beispiel in Sachen Tempo. Christoph Altstaedt ist da von einer bemerkenswerten Konsequenz. So wie er in der Ouvertüre das Langsame und das Schnelle in klarer, rationaler Beziehung zueinander hält, so scheint er die Zeitmasse insgesamt wie aus einem einzigen Kern heraus zu entwickeln. Jedenfalls hat es den Anschein, als ergebe sich in den musikalischen Verläufen das eine ganz organisch aus dem anderen – und das in einer Natürlichkeit der Diktion, die niemanden auf der Bühne bedrängt oder gar einzwängt: in der spritzigen Vitalität von Arnold Östman, aber ohne dessen Tempoexzesse, und in der sprechenden Expressivität von Nikolaus Harnoncourt, jedoch fern von dessen Zerdehnungen. So kann sich das grosse Ensemble, das Mozart hier verlangt, voll entfalten – und es ist so zusammengestellt, dass das zur Geltung kommt. Wenn man bedenkt, dass das Theater Basel ein Dreispartenhaus ist und zudem eines, das mit halb so viel Geld auskommen muss wie das Opernhaus Zürich, kann man dem Ergebnis des Abends (und dem Knowhow der Basler Operndirektorin Laura Berman) nur Respekt zollen.

Aufklärungsmechanik

Das alles gilt umso mehr, als den Darstellern auf der Bühne einiges an Flexibilität und Mobilität abverlangt wird. Bei der Bühnenbildnerin Mirella Weingarten (für die Kostüme zeichnet Susanne Scheerer verantwortlich) spielt «Die Zauberflöte» in einem leeren Raum, in dem sich eine Reihe spektakulär hoher, fahrbarer Holztürme tummelt. Bewegt werden sie von Mannen mit schweren Schuhen, filzigen braunen Hosen und nacktem Oberkörper – die Bühnentechniker sind hier nicht versteckt, sie bilden vielmehr sichtbarer Teil des Geschehens. Die damit erzielte Transparenz lässt sich ebenso als szenische Metapher für das Zeitalter der Aufklärung lesen wie die Türme, die von menschlichem Konstruktionswillen zeugen und mit raffinierter Mechanik versehen sind: mit riesigen Antriebsrädern, sanft fahrenden Liften und Treppenkonstruktionen à la Escher. Alles, was an «Die Zauberflöte» erinnert, ist da getilgt zugunsten einer abstrakten Bühnenwirkung – verständlich angesichts der Rezeptionsgeschichte des viel gespielten Werks. Die Schlange sind Seile, die sich aus dem Schnürboden heruntersenken, oder die miteinander verknoteten Zöpfe der drei Damen (Bryony Dwyer, Dara Savinova, Sofia Pavone), die Flöte erscheint, eine nicht ganz neue Idee, als ebenfalls an einem Seil herniederbaumelnder Neonstab, das Glockenspiel als ein blinkender Würfel. Während Monostatos weder als dunkelhäutiger Sänger noch als schwarz bemaltes Bleichgesicht auftritt, sondern als Untermensch, der auf seinem ebenfalls nackten Oberkörper ein schwarzes Skelett herzeigt – was Karl-Heinz Brandt nicht daran hindert, seine tenoralen Fähigkeiten auszubreiten.

Zur Sache selbst – zur Frage nämlich, was «Die Zauberflöte» genau meine – ist damit noch nicht viel gesagt, wie überhaupt mit dem Stück selbst wenig angefangen wird. Warum der edle Freimaurer Sarastro mit Monostatos so grausam umgeht, wird anders als in der Zürcher «Zauberflöte» von Tatjana Gürbaca nicht thematisiert – wichtiger sind der Regisseurin Julia Hölscher die Brechung der Erwartungshaltungen und das muntere, durchaus auch witzige Assoziieren. Darum trägt Sarastro – den Callum Thorpe mit einem grossartig strahlkräftigen, aber nicht von Schwere belasteten Bass gibt – einen edlen Frack, den aber mit so weit offenem Hemdkragen, dass man an Don Giovanni oder Ärgeres denkt. Einer der Holztürme ist zuoberst mit einem Propeller versehen, wie er als Mechanismus für die Rheintöchter auf Zeichnungen zu sehen ist, die für die erste Bayreuther Gesamtaufführung von Wagners «Ring» entstanden sind. Und die vornehme, zugleich aber arg degenerierte Gesellschaft um Sarastro umfasst auch sechs Nönneriche, die von ferne an Fellini erinnern (der von Henryk Polus betreute Chor zeigt sich diesmal in ausgezeichneter Verfassung).

Schritt ins neue Leben

Da darf durchaus nach Sinn und Zweck des einen oder anderen Einfalls gefragt werden. Zugleich aber gerät die Frage rasch wieder in den Hintergrund, da auf der Bühne selbst so viel fröhliches Leben herrscht. Julia Hölscher ist eben keine Opernspezialistin, sie arbeitet im Theater Basel als Hausregisseurin für das Musik- wie für das Sprechtheater – das gereicht der Inszenierung zum Vorteil. Liebevoll sind die einzelnen Figuren ausgeformt, zum Beispiel der sonst gern so blässliche Sprecher, dem Andrew Murphy mit vielsagendem Mienenspiel (und samtener Stimme) zu Profil verhilft. Szenisch konventioneller bleiben die musikalischen tragenden Partien. Sebastian Kohlhepp (Tamino) steigt bei der heiklen Bildnisarie ohne Mühe in die Höhe und vermeidet jeden kitschigen Schleifer, Anna Gillingham (Pamina) kommt mit ihrem Vibrato noch nicht wirklich zurecht, bringt aber ein attraktives Timbre ins Spiel – und dennoch bleiben beide merklich brav. Naturbübisch, wie es naheliegt, der Papageno von Thomas Tatzl, temperamentvoll die Papagena von Valentina Marghinotti. Während die von einer mächtigen Treppe aus dem Bühnenhintergrund herabsteigende Königin der Nacht bei Mari Moriya ausgezeichnet aufgehoben ist: Kantabilität und Agilität finden bei dieser Sängerin zu optimalem Ausgleich.

An einem einzigen Moment erlaubt sich die Produktion einen deutenden Ansatz. Die Prüfungsszene, die an diesem Abend eigenartig rasch vergeht, erscheint nicht wirklich als Ritual der Aufnahme in die Gesellschaft der wahren Menschen, sondern vielmehr als Abschied von einer alten Welt der Eltern und als Eintritt eines jungen Paars in ein neues, nämlich sein eigenes Leben. Etwas mehr davon hätte dem Abend nicht geschadet.