Drama aus dem Geist der Musik

Lucerne Festival:
Wagners «Walküre» historisch informiert

 

Von Peter Hagmann

 

Per Stierhorn ruft Hunding (Patrick Zielke) seinen Kontrahenten Siegmund zum Kampf / Bild Patrick Hürlimann Lucerne Festival

Bühne? Braucht es nicht, stört bloss – denn: Die Musik sagt alles. So gedacht schon bei der konzertanten Aufführung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013. Äusserst fasslich und in hinreissender Tonschönheit erzählten die Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Jonathan Nott, was es in der Tetralogie zu erzählen gibt. Und die Vokalsolisten verliehen ihren Rollen scharf gezeichnete, hochgradig energiegeladene Profile, welche die gewaltige Ausdehnung von Wagners opus summum vergessen liessen – man erinnere sich nur der ehelichen Streitgespräche zwischen Wotan und Fricka, die von Albert Dohmen und Elisabeth Kulman zu unvergesslichen Szenen einer Ehe ausgeformt wurden. Ja, «unvergesslich» ist das richtige Wort.

Doch jetzt geht das von Michael Haefliger geleitete Lucerne Festival einen Schritt weiter. Seit dem letzten Sommer wird in Zusammenarbeit mit den Dresdner Musikfestspielen, und dort mit dem Cellisten Jan Vogler als deren Intendant und dem seit je für aufsehenerregende Projekte einstehenden Dirigenten Kent Nagano, über vier Jahre hinweg Wagners «Ring» in historisch informierter Aufführungspraxis auf das Konzertpodium gehoben. «Historisch informiert» heisst nicht: so wie die Tetralogie bei ihrer Uraufführung geklungen hat; der Versuch einer Rekonstruktion wäre sinnlos, denn was sich 1876 musikalisch ereignet hat, kann niemand wissen. Möglich ist jedoch, die aufführungspraktischen Dokumente zur Bayreuther Arbeit am «Ring» zu erforschen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis der Gegenwart zu übertragen und auf dieser Basis zu einem neuen Wagner-Bild zu gelangen.

Die Idee geht auf das Barockensemble Concerto Köln zurück, mit dem Kent Nagano seit langem zusammenarbeitet und dem er als Ehrendirigent verbunden ist. Warum sie nicht einmal ein Stück aus seinem, aus des Dirigenten Repertoire erarbeiteten, soll Nagano von einem Ensemblemitglied gefragt worden sein. Gefragt, getan. Nach vier Jahren der Vorarbeit kam im November 2021 «Das Rheingold» in der Kölner Philharmonie zum ersten Mal historisch informiert zur Aufführung. Der Abend war eine Sensation (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 08.12.21). Die Fortsetzung des Projekts war dringend erwünscht, überstieg jedoch die organisatorischen Kapazitäten des Concerto Köln, weshalb eine neue Partnerschaft eingerichtet wurde, nun eben mit den Dresdner Musikfestspielen, die seit 2012 über ein voll ausgebautes Originalklangorchester verfügen. Das Concerto Köln integrierte sich in diesen Klangkörper, Nagano blieb als künstlerischer Leiter im Boot, die finanzielle, organisatorische und wissenschaftliche Basis wurde verstärkt. So läuft jetzt seit 2023 dieses «Ring»-Projekt, das auch ins Luzerner KKL gekommen ist (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.08.23 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.08.23)) und ohne Zweifel weiterhin kommen wird.

Jetzt also «Die Walküre». Der erste Aufzug: grandios in jeder Hinsicht. Das Orchester liess eine gegenüber dem «Rheingold» merklich erhöhte Qualität des Zusammenwirkens erkennen; der Gewittersturm des Beginns tobte heftig, wenn auch ohne jene Mängel in der Balance, welche die orchestrale Seite des neuen Zürcher «Rings» so sehr störten, und versiegte dann in vibrierendem Pianissimo. Sarah Wegener, die überragende Sieglinde, konnte mit «Ein fremder Mann» flüsternd ins Geschehen eintreten. Wie sie dem Fremden das Trinkhorn mit Wasser reicht und dazu, ganz nach der Art Wagners, das Geschwisterliebe-Motiv erklingt, treten die hier tragenden Celli ohne jedes Vibrato in den Vordergrund. Rasch erholt sich Siegmund, und wie Maximilian Schmitt, derzeit einer der führenden Vertreter dieser Partie, der sich aber ohne Vorbehalt ins Konzept eingefügt hat, von der ihm neu lachenden Sonne singt, tut er das in einem Ton offener Werbung.

Doch bald erklingt das Hunding-Motiv, hier erstmals durch trockene Holzschläge unterstrichen – und schon erscheint er: Patrick Zielke, ein Felsbrocken von Mann und einer mit Donnerstimme. «Du labtest ihn?» fragt der düstere Kerl drohend die von ihm unterworfene Frau, und er meistert den dort geforderten Quintsprung ohne jeden Schleifer, dafür blickt er schon gleich zwischen der «Gattin» und dem Gast hin und her, die Ähnlichkeit der Gesichter erkennend. Es sind die kleinen Zeichen der Körpersprache, die diese konzertante Aufführung mit zu einer veritablen Oper machen – auch zum Beispiel die Art, in der Sarah Wegener den Kopf in den Nacken legt, wenn das Liebes-Motiv erklingt. Verlangt Hunding, dass des Gastes Name genannt werde, so formt Patrick Zielke die beiden «a» ganz offen, in jener Offenheit, die er von seinem Gast einfordert; das entfaltet ungeheure Wirkung, ähnlich wie immer wieder das spitze «i» von «Liebe» – sinnvoll, hat doch Wagner auf Diktion und Textverständlichkeit besonderen Wert gelegt.

Hinreissend grausig, wie Hunding seine «Gemahlin» in die Küche und später ins «eheliche» Schlafgemach kommandiert, wo er selbst alsbald in schweren Schlaf sinkt. Und zum Weinen schön das Liebe- und Lenz-Lied, das Maximilian Schmitt mit Emphase und zugleich frei von Kitsch anstimmt. Rasch erkennt Sieglinde, Sarah Wegener erklimmt hier einen Höhepunkt an vokaler Durchdringung, ihren Bruder und zieht der das Schwert Nothung aus dem Stamm, worauf die Schwester einen markdurchdringenden Schrei ausstösst. Sogleich brausender Beifall; begeisterter als hier ist wohl nie ein Inzest gefeiert worden.

Genau daran, am Inzest, hängt im zweiten Aufzug Fricka den Göttervater auf. Ohne mit der Miene zu zucken, exponiert Claude Eichenberger ihre Argumente, gegenüber denen Simon Bailey als Wotan mit Augenbinde rasch zusammensackt. Auch wenn Fricka aufbraust, bleibt die Sängerin bei ausnehmend schönem Ton und dem verächtlichen Blick von oben herab. In kürzester Zeit – das will bei Wagner etwas heissen – ist der Oberste der Götterwelt gefällt, schwört er den verlangten Eid, worauf sich zum Vertrags-Motiv das Unmuts-Motiv gesellt. Dass solches so klar wahrzunehmen ist, gehört zu den entscheidenden Vorteilen der Aufführung. Oft genug wird das Erkennen der Leitmotive als Ausdruck bildungsbürgerlicher Haltung verachtet, dabei liegt in Wagners Arbeit mit den Motiven das musikalisch Zukunftsträchtige der Tetralogie. Im lichten Klang der Kölner und Dresdner Kräfte, der von Kent Nagano dynamisch sehr im Zaum und gleichzeitig farblich zugespitzt wird, ist das auf das Herrlichste zu erleben.

Es gilt auch für die Begegnung Wotans mit Brünnhilde. «Götternoth» ruft er aus – da fällt Simon Bailey so plötzlich zu Boden, dass man einen Schlaganfall befürchtet. Eindrucksvoll, wie Bayley aus dem Monolog ins Flüstern und dann, wenn die Rede auf Wotans Vertragswerk kommt, ins Sprechen übergeht – eine Art des Ausdrucks, die Wagner explizit wünschte, die aber in Vergessenheit geraten ist. Auch Åsa Jäger, die als Brünnhilde vielversprechendes Profil erkennen lässt, geht in den Sprechgesang über, etwa dort, wo sie Siegmund den baldigen Tod voraussagt. Schon darf man das auf der Empore erscheinende Stierhorn bewundern und den edlen Speer Wotans; die beiden ebenfalls in der Höhe postierten Kontrahenten neigen zum Zeichen ihres Ablebens aber schlicht den Kopf, mehr braucht es nicht. Später, im dritten Aufzug, gab es noch Flüstertüten zu sehen, doch der Beginn mit den acht Walküren geriet konventionell laut. Bewegend dagegen Wotans Abschied von Brünnhilde – und zum Schluss konnte das Orchester noch einmal zeigen, was ein Fortissimo in historisch informierter Aufführungspraxis sein kann. Schade nur, dass die Namen der Orchestermitglieder im Programmheft ebenso wenig aufgeführt sind wie jener des doch gewiss vorhandenen Regisseurs.

Der innovative Ansatz der Dresdner Tetralogie ist von höchstem Interesse; dass er seine Kreise ziehen wird, lässt sich leicht voraussagen. Für das Lucerne Festival öffnet sich zudem eine weitere, wichtige Tür. Eine Bühne für grosse Oper wie in Salzburg gibt es in Luzern nun einmal nicht. Die Möglichkeit, der Gattung paradigmatisch neue Wege aufzuzeigen, kann jedoch, wie dieses Projekt erweist, sehr wohl fruchtbringend weiterverfolgt werden.

Sinnreich und sinnlich: Wagners «Walküre» im Opernhaus Zürich

Von Peter Hagmann

 

Sieglinde, Siegmund und der unsichtbare Gast / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Vielleicht funktioniert er doch, der Weg, den Andreas Homoki für seine Inszenierung von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Opernhaus Zürich eingeschlagen hat. Nicht ein weiterer Deutungsversuch der Tetralogie, nicht eine neuerliche Transposition der Geschichte in eine Lebenswelt, die uns näher scheint als jene der Vorlage, auch nicht der Ersatz der von Wagner erfundenen Metaphern durch solche aus der Hand des Regisseurs soll auf die Bühne gebracht werden. Im Vordergrund soll die Sache selbst stehen, ja die Sache allein, nämlich der Text und seine Spiegelung in der Musik – das ist die Ambition im neuen Zürcher «Ring». Ein werkimmanenter Zugang also. Er mag altväterische Züge tragen, ja geradezu aus der Zeit gefallen sein, jedenfalls im Widerspruch stehen zu der dominierenden rezeptionsgeschichtlichen Tendenz. Er mag sogar aufrichtig unmodern sein in dieser Zeit, da auf den Bühnen, zumal jenen des Sprechtheaters, das Dekonstruieren und das Überschreiben um sich greift – all das mag sein. Aber: Er überzeugt. In der «Walküre» wirkt Homokis scheinbar retrospektiver, in Wirklichkeit aber revolutionärer Zugang klar, anregend und ausgesprochen berührend.

Die von Christian Schmidt entworfene Ausstattung geht vom gleichen Muster aus wie im «Rheingold». Auf den beiden Seiten einer Trennwand stellt die Drehbühne zwei Spielorte zur Verfügung, die Flexibilität und Wandelbarkeit ermöglichen. In ihrer Anmutung sind sie erkennbar in der Entstehungszeit der Tetralogie verankert. Was es zur Entfaltung der Geschichte braucht, ist vorhanden; der Stamm in der Behausung Hundings fehlt ebenso wenig wie der herrschaftliche Salon für den Disput um Ehre und Ehe, wie der Wald für den entscheidenden Kampf oder der Fels, auf dem in Tiefschlaf gefallen werden kann. Wichtiger, ja entscheidend ist die Schärfe, in welcher der Regisseur zusammen mit den Darstellerinnen und Darstellern die einzelnen Figuren zeichnet – hinreissend ist das. Massgebliche Unterstützung kommt dabei aus dem Graben, wo die Philharmonia unter der Leitung von Gianandrea Noseda für schlanken und farbenreichen, ausgezeichnet modellierten, auch emphatischen Klang sorgt. Der Dirigent wandelt auf denselben Pfaden wie der Regisseur; auch Noseda, er hat die Partitur übrigens ausgezeichnet im Griff, wird konkret. Hell leuchtet der musikalische Satz, die Leitmotive treten markant heraus, und dass die Tuba die Kontrabässe so oft unterstützt, versteckt der Dirigent keineswegs – wie er überhaupt der orchestralen Muskelspannung nichts schuldig bleibt.

Auf dieser Basis wird fassbar, dass es in der «Walküre» nicht so sehr um Brünnhilde geht als vielmehr um Wotan – und seinen selbstverschuldeten Fall. Das wird gleich zu Beginn angelegt, wo sich Wotan als unsichtbarer Spielleiter geriert, der die Szene arrangiert hat und das Heft noch voll in der Hand hält. Stösst er seinen Speer in den Boden, erklingt bedrohlicher Donner; benötigt Sieglinde ein Glas Wasser, ist er damit zur Stelle. Und später erscheint er persönlich bei Hunding zuhause, um das Siegmund versprochene Schwert in den Stamm zu stossen – Homoki setzt hier in Theater um, was Wagner mit seinen instrumentalen Anspielungen tut. Zugleich deutet sich an, in welchem Mass die Frauen die Feder führen. Sieglinde (Daniela Köhler bringt ein herrlich ausgebautes Timbre ins Spiel) erkennt ihren Bruder auf Anhieb, das lässt ihr Mienenspiel erkennen, das zeigt aber auch ihr Verhalten: Wie im Orchester das Schwertmotiv erklingt, küsst sie den verdutzten Besucher auf den Mund – das ist Musiktheater. So plausibel es wirkt, es nimmt der erotisch aufgeladenen Begegnung zwischen den Geschwistern doch ein wenig das Feuer. Obwohl ihn Eric Cutler als Siegmund untadelig besingt, kann der Lenz stürmischer wirken, als es hier geschieht. Erfrischend gelingt die Szene gleichwohl, zumal Christof Fischesser zwar als ein veritabler Herr der Hunde erscheint, dabei aber weniger einen ungehobelten als einen aufrecht in sich ruhenden, selbstgewissen Hunding gibt.

In der Folge geht es rasant bergab mit Wotan. Fricka (Patricia Bardon) liest ihrem Gatten derart scharf die Leviten, dass er sich förmlich aufbäumt. Deutlich wird da, welch grossartiges Rollenporträt Tomasz Konieczny in dieser Produktion gelingt. Virtuos dreht und wendet er den Speer, den er später, das ist nur logisch, eigenhändig in Siegmunds Leib stösst. Und brillant – auch vokal, mit seiner Strahlkraft, mit seiner genüsslich auskostenden Diktion – verkörpert er seine Seelenzustände. Schon merklich geknickt, wenn auch noch immer herrisch, erklärt der Göttervater seiner Wunschmaid den von der Gattin aufgezwungenen Plan. Brünnhilde aber – Camilla Nylund zeigt und singt es bezwingend – ist von Anfang an reine Liebe, innig verbunden mit dem Vater und dann entzündet durch die Unbedingtheit der Liebe Siegmunds; darum erfüllt sie nicht den Befehl, wohl aber den Wunsch Wotans und wird sie zu einer Zukunftsfigur. Bewegend der Abschied des Vaters von seiner Tochter – nicht zuletzt darum, weil die Inszenierung offenkundig macht, dass sich Wotan in diesem Moment auch von einem Teil seiner selbst zu lösen hat. Wenn der Feuerzauber ausklingt, geht der Gott in den Feierabend. Seinen Speer lässt er stehen.