Mit Verdi, Brahms und Dvořák in neues Land

Amtsantritt von Gianandrea Noseda als Generalmusikdirektor am Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Vom Heer gefangengenommen, wird Azucena (Agnieszka Rehlis) dem Grafen Luna (Quinn Kelsey) überstellt. / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Der Neue sei da, verkündet das Opernhaus Zürich auf seinen Plakaten: der neue Generalmusikdirektor. Die Fanfaren haben ihre Berechtigung: Gianandrea Noseda hat einen fulminanten Start hingelegt – mit Giuseppe Verdis «Trovatore», einem Stück aus seinem Kernrepertoire, und einem Konzert, mit dem das Orchester der Oper Zürich und sein Chefdirigent gleich auf eine kleine Schweizer Tournee gegangen sind.

Schön laut klingt der Abend mit der jüngsten Produktion des Zürcher Hauses – nicht bloss laut nämlich, sondern auch schön (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 15.09.21). Verdi wird oft, und zwar vokal wie instrumental, muskulös realisiert, ebenso oft wirkt das simpel oder gar grobschlächtig. Nichts davon bei Noseda. An Kraft fehlt es zwar nicht, in ihrem kernigen Farbenreichtum ist sie vielmehr geradezu körperlich erlebbar, aber jederzeit bleiben die (zum Beispiel durch den Raum vorgegebenen) Proportionen respektiert und die Balance gewahrt. Zudem stellt sich neben das Extravertierte eine sorgsam gepflegte Kultur des Leisen, woran auch das vorzüglich zusammengestellte Ensemble partizipiert. Nicht zu vergessen ist der von Janko Kastelic vorbereitete Chor, der im neuen Zürcher «Troubadour» zum ersten Mal wieder ohne Einschränkung auf der Bühne agiert; er tut das mit beeindruckender Homogenität wie mit ausgelassener Spielfreude.

Das alles ermöglicht Noseda einen interpretatorischen Zugang zu «Il trovatore», der voll und ganz auf die dramatische Wirkung setzt, der die Kontraste zuspitzt und die Spannung durchgehend am Köcheln hält, dazwischen jedoch immer wieder mächtig anheizt. Adele Thomas, die junge britische Regisseurin, die hiermit ihre erste Produktion am Zürcher Opernhaus vorlegt, begegnet diesem Ansatz durch eine Lesart, die dem musikalischen Geschehen weiten Raum lässt. Eine gewissermassen neutrale, auf die reine Emotion reduzierte Bildersprache prägt die Szene. Das hat den Vorteil, dass die dramaturgisch wenig geschickte Anlage des Librettos in den Hintergrund tritt. Weitgehend ausgespart bleibt auch die heutzutage problematische «couleur locale»; dem entspricht, dass die »Zigeuner«, ohne die «Il trovatore» nicht denkbar wäre, in den Übertiteln und in den Publikationen des Zürcher Hauses politisch korrekt in Anführungsstriche gesetzt sind.

Beherrscht wird die Bühne der Ausstatterin Annemarie Woods durch eine raumfüllende, nach hinten hin ansteigende Treppe; auf ihr tummeln sich Gestalten, die, so erläutert die Regisseurin, aus dem 15. Jahrhundert stammen sollen, die in ihren erheiternden Kostümen aber eher an Asterix und Obelix erinnern. Wie der Herrscher endlich die Gelegenheit kommen sieht, seinen Rivalen um die Gunst der Dame einen Kopf kürzer schlagen zu lassen, erscheint hoch oben auf der Treppe als Schattenriss der Henker, der das übergrosse Beil nonchalant um den Hals trägt. Die Eruption der Gefühle in Verdis Oper wird durch solche Zeichen nicht ins Lächerliche gezogen, aber doch anregend relativiert – ganz ähnlich, wie es die spannungsvolle Beziehung zwischen der choreographierten Führung des Chors und der durch Tänzer dargestellten Kampfszenen tut. Der Witz an der Seite des Tragischen, das hat nicht nur Tradition, das schafft auch Distanz und Erleichterung.

So ist das Feld offen für scharf gezeichnete Rollenportraits. Mit seinem glänzenden Tenor und seiner stilistischen Versiertheit gibt Piotr Beczała einen Manrico, der furchtbar schwankt zwischen Sohnespflicht und dem stürmischen Begehren erster Liebe. Sie gilt einer Leonora, die von Marina Rebeka mit ihrem herrlich gerundeten Timbre und ihrer hinreissenden dynamischen Spannweite als eine schon reife, jedenfalls klar in sich ruhende, standfeste junge Frau vorgestellt wird. Die «Zigeunerin» Azucena dagegen, sie ist in dieser Produktion die reine, voll entbrannte, vielleicht auch verzweifelte Wut – woran Agnieszka Rehlis mit ihrem schäumenden, wenn auch jederzeit kontrollierten Temperament und ihrem sagenhaften Ambitus keinen Zweifel lässt. Besonders bemerkenswert Quinn Kelsey, der einen samtenen, lyrisch gefärbten Bariton einbringt und damit den Conte di Luna nicht ausschließlich als rasenden Bösewicht, sondern ebenso sehr als hoffnungslos Liebenden zeigt. Auch kleinere Partien wie die des Ferrando (Robert Pomakov) oder der Dienerin Ines (Bożena Bujnicka) sind hochstehend besetzt.

Und dann, eine Woche nach der Verdi-Premiere im Graben, der Einstand Gianandrea Nosedas auf dem Podium – so will es sein altertümlicher Titel als «Generalmusikdirektor», als musikalisch Verantwortlicher für die Oper wie für das Konzert. Der Auftritt erfolgte in Zürich, Basel und Bern; hier ist die Rede vom Besuch der Zürcher Philharmonia bei der Allgemeinen Musikgesellschaft Basel im wunderschön renovierten, stupend erweiterten Musiksaal der Rheinstadt. In schwerem Klang und sehr gemessenem Zeitmass hob das Klavierkonzert Nr. 1 von Johannes Brahms an, was aufs erste Hören hin einigermassen altväterisch wirkte, sind in jüngster Zeit doch – etwa von András Schiff als Solist wie als Dirigent des Orchestra of the Age of Enlightenment (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.06.21) – klanglich aufgelockerte, hellere Zugänge vorgestellt worden. Je weiter sich die Einleitung zum Kopfsatz entwickelte, desto plausibler erschien jedoch die packende, konsequent durchgestaltete und vom Orchester prachtvoll realisierte Anlage. Erst recht bestätigte es sich, als Daniil Trifonov mit seinen grossen, auffallend flach gehaltenen Händen in die Tasten zu greifen begann. Grüblerisch, hier mächtig auffahrend, dort in Introversion versinkend nahm er den ersten Satz, sehr innerlich das Adagio, brillant schliesslich das abschliessende Rondo. Und das Orchester stand ihm hellwach zur Seite.

Nach der Pause, zu der das anspielungsreiche, liebevoll detaillierte, geräumige Foyer von Herzog & de Meuron einlud, folgte Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 8, ein Paradestück erster Güte. Die Philharmonia Zürich und Gianandrea Noseda blieben dem Werk nichts schuldig. Das Orchester brillierte mit seinem kraftvollen, kompakten, zugleich aber in hohem Masse durchhörbaren Klang. Und der Dirigent, der jeden Einsatz gab und vielleicht ein bisschen à l’italienne anfeuerte, fand treffende Tempi und brachte die musikalischen Gesten zu überaus plastischer Formung. Ein Genuss, um es doch auch einmal so zu sagen. Und von den Orchestermitglieder, unter denen beste Laune herrschte, schien jeder und jede persönlich mit dem Dirigenten verbunden, so wie er mit allen Sinnen und mit voller Körperlichkeit den Musikerinnen und Musikern zugetan war. Die Zukunft, so der Eindruck, sieht vielversprechend aus. Und «Zukunft» heisst in diesem Fall: «Der Ring des Nibelungen».

Gianandrea Noseda at work / Bild Andrin Fretz, Opernhaus Zürich