Verdis «Emilia» – der doch nicht so andere «Otello» in Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Desdemona (Evgenia Grekova) ringt um Otello (Rafael Rojas), Emilia (Sarah Mehnert) beobachtet / Bild Annette Boutellier, Konzert Theater Bern

Am Schluss, wie die ganze Grausamkeit der Intrige Jagos ans Licht gekommen ist, reisst dessen Frau Emilia das Kreuz von der Wand und schlägt es ihrem Tyrannen in den Rücken, worauf der, tödlich getroffen, zu Boden geht. Endlich, denkt man. Endlich hat sich diese stolze, aber unentwegt gedemütigte, auch geschlagene Frau ihres brutalen Gatten entledigt. Allein, in der Partitur von Giuseppe Verdis später Oper «Otello» steht es anders; der Librettist Arrigo Boito lässt den Bösewicht ganz einfach entweichen. Ein Verstoss gegen den Text also, aber einer, der seine Plausibilität aufweist.

Für die Regisseurin Anja Nicklich, die «Otello» im Konzert-Theater Bern auf die Bühne gebracht hat, waren die üblichen Ansatzpunkte einer szenischen Interpretation von Verdis Oper nicht das Richtige. Die Verkörperung des Negativen an sich durch den Offizier Jago und, auf der anderen Seite, das Leiden des siegreichen Oberbefehlshabers Otello an der tödlichen Intrige seines Untergebenen, das schien ihr verbraucht. Thematisiert wurde, Gottseidank, auch nicht die gesellschaftliche Marginalisierung des Helden aufgrund seiner dunklen Hautfarbe; Otello war denn auch kein schwarzer, nicht einmal ein schwarz angemalter Sänger.

Nein, Anja Nicklich hat eine spezifisch weibliche Sicht gesucht – und was entdeckt diese Sicht? Sie legt einen Fall häuslicher Gewalt frei, er ereignet sich im Hause Jagos – darin liege, so die Regisseurin, die Aktualität des Stücks. So trägt denn der Bösewicht einen überlangen Rosenkranz bei sich, mit dem er, einmal in Rage geraten, erbarmungslos zuschlägt: auf den Boden, auf Säulen, auf Menschen. Die szenische Metapher ist nicht ohne Hintersinn, wenn man die vielen Männer aus anderen Kulturen denkt, die ihre Gebetskette in den Händen halten. Wie auch immer: Jordan Shanahan ist genau der Richtige für diesen Gewalttäter, er gibt die Figur in einer Intensität und einer Durchhaltekraft sondergleichen, freilich auch etwas einseitig auf sein gewaltiges Fortissimo zugespitzt.

Gegen diesen Dämon erhebt sich eine Frau: seine Gattin – eine Schwester der bewundernswerten Frauen in Belarus? Nicht nur das, Emilia wird gar zu einer Art Hauptperson, weil die Geschichte von «Otello» aus ihrem Blickwinkel erzählt werden soll. Der Ansatz der Regisseurin ist bedenkenswert, bleibt jedoch im Programmheft stecken, im Bühnengeschehen nachzuvollziehen ist er nicht wirklich. Zu erleben ist dafür, wie eine kleine Rolle allein durch vokale Kunst und szenische Präsenz in hellstes Licht geraten kann. Sarah Mehnert versieht ihre Partie mit einem warmen, in der Tiefe herrlich strahlenden, in der Höhe unverkrampft zeichnenden Mezzosopran, und sehr genau bringt sie die inneren Regungen Emilias über die Rampe. Verdi und Boito hatten mit dem Gedanken gespielt, ihren «Otello» vielleicht doch eher «Jago» zu nennen. In Bern könnte sie fast als «Emilia» durchgehen.

Konventioneller, als reine Lichtgestalt gezeichnet ist Desdemona – aber wie das Evgenia Grekova Wirklichkeit werden lässt, beeindruckt in hohem Mass. Die russische Sopranistin arbeitet auf der Grundlage einer lyrischen Ausrichtung, was ihr für diesen Abend einen weiten Horizont eröffnet – erst recht dann, wenn sie sich erlaubt, das Vibrato zu dosieren. Natürlich muss sie sich gegen die Verdächtigungen wehren, die Jago ausstreut, und dabei laut werden, aber das kann sie auch. Ihre Stärke ist jedoch das Zurückgenommene, und davon hat es in Verdis Oper mehr als gedacht. Ein armer Pechvogel war dagegen Rafael Rojas als Otello. Eine gesundheitliche Störung verunmöglichte ihm an der Premiere das Singen, er hatte sich aufs Spielen zu beschränken. An der Bühnenseite lieh ihm Aldo Di Toro die Stimme, was umso bewundernswerter gelang, als der Einspringer seine Aufgaben sehr authentisch und mit hoher Emotionalität wahrnahm.

Das alles ereignet sich in einer szenischen Umgebung, die leider etwas angestaubt wirkt. Den Schauplatz Zypern deutet die Bühnenbildnerin Janina Thiel durch eine maurisch angehauchte Gitteranlage an, die im Verlauf des Stücks immer mehr in sich zusammenfällt. Die Kostüme von Gesine Völlm orientieren sich an höfischen Stilen der Renaissance. So weit, so gut – aber dazu kommen Unmengen an Bühnendampf. Sobald die Temperatur steigt, geht seitlich das Gebläse an – das ist doch fürwahr von gestern. Der guten Laune auf allen Seiten tut das keinen Abbruch; unverkennbar das Glücksgefühl, wieder auftreten, wieder singen, wieder spielen zu können. Unter der Leitung von Matthew Toogood, des aus Australien stammenden Musikdirektors ad interim, zaubert das Berner Symphonieorchester, dessen Bläser in Plexiglaskabinen sitzen und dessen Streicher Masken tragen, prächtige Farbenspiele herbei; es zeichnet auch so klar, dass die harmonischen Wagnisse Verdis ungeschmälert zur Geltung kommen. Masken getragen werden auch auf der Bühne – jedenfalls dann, wenn nicht ein grosses Solo ansteht. Dabei offenbart sich eine eigene Virtuosität im Umgang mit diesem neuartigen Kleidungsstück. Durchgehend mit Maske singt der von Zsolt Czetner vorbereitete Chor: ausgezeichnet, gerade in den nicht von übermässigem Vibrato eingetrübten Frauenstimmen. Im Stadttheater Bern, wo auch für das dicht gedrängt sitzende Publikum Maskenpflicht herrscht, wird vorgeführt, dass Oper trotz Corona vollgültig möglich ist.

Jonas Kaufmann singt, Antonio Pappano dirigiert Verdis «Otello»

 

Von Peter Hagmann

 

Die Studioaufnahme einer Oper als reines Hörstück auf CD, das ist zur Seltenheit geworden. Zusammen mit dem Orchester der Accademia di Santa Cecilia in Rom – er leitet es seit 2005 als Musikdirektor und tut das neben seiner 2002 übernommenen Leitungsfunktion an der Königlichen Oper zu Covent Garden London – pflegt Antonio Pappano diese so gut wie verschwundene Gattung allerdings wie kein Zweiter. Er tut es immer wieder im Verein mit dem Münchner Tenor Jonas Kaufmann, mit dem Pappano seit langem eine enge künstlerische Verbindung pflegt. Ein Star wie Kaufmann ist es auch, der etwas so Aufwendiges wie die Studioproduktion einer Oper ermöglicht – der Name sorgt für Absatz.

Dabei ist es bei der Einspielung von «Otello», der späten Oper Giuseppe Verdis, die wegen der von Shakespeare vorgesehenen Hautfarbe des Titelhelden da und dort in Diskussion geraten ist, gerade nicht Jonas Kaufmann, dem besondere Aufmerksamkeit gehört. In hellstem Licht stehen vielmehr das Orchester und sein Dirigent. Antonio Pappano kennt die Partitur von «Otello» bis in ihre letzten Verästelungen. Er nähert sich ihr zudem mit einem Höchstmass an Phantasie und Gestaltungsvermögen. Nicht zuletzt aber sorgt er – unterstützt durch die Aufnahmetechnik – für eine Balance zwischen dem vokalen und dem instrumentalen Geschehen, die bei Richard Wagner zum Normalfall gehört, bei Verdi aber alles andere als die Regel ist.

In dieser Aufnahme von «Otello» ist es nicht die Singstimme, die über einem mehr oder minder wahrgenommenen Untergrund an instrumentaler Begleitung das Feld beherrscht. Die vokale Linie prägt zwar das Geschehen, tut es aber in enger Interaktion mit den orchestralen Äusserungen – so dass die interessante Harmonik und die exquisiten Farbgebungen in gleichberechtigter Kraft auf das Ohr des Zuhörers einwirken. Dabei tritt heraus, dass das Orchester der Santa Cecilia einen Verdi-Ton pflegt, der von körperhafter Kompaktheit, zugleich aber von hoher Wendigkeit ist. Übrigens lässt auch das andere Kollektiv, der von Ciro Visco vorbereitete Chor der Santa Cecilia, keinen Wunsch offen.

Aber auch in der vokalen Besetzung fallen Glanzlichter auf. Mit seinem kernigen, Bariton gibt Carlos Alvarez einen Jago, dessen intrigantes Potential in aller Schärfe zur Geltung kommt. In der Trinkszene des ersten Akts stürmt dieser Bösewicht, den Verdis Librettist Arrigo Boito von sich sagen lässt, er sei ja bloss ein Kritiker, mit einer unerhörten rhythmischen Energie voran, während er in seinem Monolog des zweiten Aktes in die Untiefen seines Wesens blicken lässt. Sehr ausgeprägt auch die Desdemona der jungen Italienerin Federica Lombardi. Mit ihrer lichten Höhe und ihrem reichen Farbenspektrum zeichnet sie die Gattin des Protagonisten als Inbegriff der Unschuld. Dank ihr werden das Liebesduett mit Otello am Ende des ersten Akts und ihr Ave Maria am Anfang des vierten zu einzigartigen Höhepunkten.

Nun aber: Jonas Kaufmann. Über viele Jahre hinweg hat er sich die als besonders anforderungsreich geltende Partie des Otello erarbeitet, in mehreren szenischen Produktionen hat er sie erprobt. Abgeschlossen sind solche Prozesse nie, doch ist nicht zu überhören, dass Kaufmann in der Partie des Otello einen fruchtbaren Kulminationspunkt erreicht hat. Seine Darbietung ist in hohem Masse austariert, mit aller Sorgfalt gesteuert. Die Technik bis hin zur Diktion: fabelhaft. Und die Stimme, dieser baritonal gefärbte, auch in der Höhe zu Expansion fähige Tenor, ist voll in Kraft. Die Zärtlichkeit des Liebesduetts, der Zornesausbruch am Ende des zweiten Akts, die Kaltblütigkeit im Moment des Mordes an Desdemona – es gelingt vorzüglich. Wenn etwas offen bleibt, sind es die wenigen etwas erzwungenen Töne, ist es die ganz spontane Exaltation, der die Kontrolle des Tuns im Weg zu stehen scheint. Alles kann man nicht haben.

Giuseppe Verdi: Otello. Jonas Kaufmann (Otello), Federica Lombardi (Desdemona), Carlos Alvarez (Jago), Virginie Verrez (Emilia), Lipait Avetisyan (Cassio, Carlo Bosi (Roderigo) et al. Chor und Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom, Antonio Pappano (Leitung). Sony Classical 19439703972 (2 CD, Aufnahme 2019, Publikation 2020).