Spielarten des Bösen

Mozarts «Figaro» und Verdis «Macbeth»
an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Die Zeit sei aus den Fugen, stellen die Salzburger Festspiele mit Shakespeares Hamlet fest. Das kann man wohl sagen. Ebenso liegt auf der Hand, dass eine Einrichtung wie die Salzburger Festspiele sich nicht in den Elfenbeinturm der künstlerischen Höchstleistung zurückziehen kann, dass sie vielmehr bewusst die Zeitläufte in den Blick zu nehmen hat. Ist das doch eingeschrieben im Erbgut einer Idee, die sich nicht zuletzt als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg konkretisiert und 1922 erstmals ihre Form gefunden hat. Dass mit Markus Hinterhäuser, der seit 2016 als Intendant die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, etwas expliziter, etwas weniger immanent gelebt wird als ehedem, auch das liegt nahe. Schon in den frühen neunziger Jahren, als er in Salzburg noch eine Randfigur war, sprach Hinterhäuser davon, dass ihn der Krieg in Jugoslawien als Pianisten nicht gleichgültig lasse, die Grenze zu Slowenien sei nicht sehr weit von Salzburg entfernt.

So erstaunt nicht, dass das Opernprogramm der Salzburger Festspiele 2023 unseren so ungut bewegten Tagen den Spiegel vorhält. Grosse Werke der Vergangenheit erzählen dem Publikum von der Gegenwart. Zum Beispiel, in Mozarts «Nozze di Figaro», vom Grafen Almaviva, einem Grapscher, der über Geld und Privilegien verfügt und sich darum alles erlauben zu können glaubt – ganz unbekannt kommt einem das nicht vor. Oder, in Verdis «Macbeth», von einem Offizier, der eine Machtgier sondergleichen an den Tag legt, der über jede Leiche geht und alles zerstört, am Ende sich selbst – auch das löst nicht eben angenehme Assoziationen aus. Falstaff sodann, in Verdis gleichnamiger Oper, auch er ist ein Mannsbild, wie es im Buche steht; dass er am Ende über sich selber stolpert, schafft eine Art Gerechtigkeit. Einen ganz besonderen Gegenwartsbezug weist «Die griechische Passion» auf, die 1961 in Zürich uraufgeführte, selten gespielte Oper von Bohuslav Martinů, die ein Drama um die Ankunft türkischer Flüchtlinge in einem griechischen Dorf zum Gegenstand hat. Ein Programm in solcher Konsistenz muss zuerst einmal erfunden werden.

«Le nozze di Figaro»

Die Idylle trügt… «Le nozze di Figaro» / Bild Matthias Horn, Salzburger Festspiele

Und dann, vor allem, realisiert werden. «Le nozze di Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart hätte problemlos die leicht tänzelnde, von zartem Humor getragene opera buffa werden können, als die das Stück in weiten Kreisen geliebt wird. Damit hatte der Regisseur Martin Kušej bei seiner Inszenierung im Haus für Mozart rein gar nichts am Hut, er schälte vielmehr heraus, mit welch unbarmherziger Präzision das Stück von Beaumarchais, Da Ponte und Mozart den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf den Grund geht und die sich andeutenden tektonischen Verschiebungen skizziert. Dass «Le nozze di Figaro» 1786 in der Wiener Hofoper zur Uraufführung kommen konnte, dass Joseph II. die beissende Kritik zuliess, wo die Komödie Beaumarchais’ in Wien auf der Bühne doch verboten war, nur als Buch in deutscher Übersetzung kursierte – es kann immer wieder erstaunen. Auf den Einfluss Da Pontes am Hof allein ist es nicht zurückzuführen, eher noch auf die Einkleidung der fürwahr scharfen Aussagen in feingliedrige Ironie. Indessen steht genau diese Ironie in unseren Tagen dem Stück im Weg, sie verschleiert seine Brisanz. Dem suchte Kušej entgegenzuwirken. Er tat es in der drastischen Art, die für ihn charakteristisch ist – durchaus erfolgreich, wenn auch nicht zu durchgängiger Begeisterung der Kritik.

Almaviva ist das, was heute ein toxischer Mann genannt wird. Dem Ius primae noctis, das kein Gesetz war, doch ein durch die Praxis sanktioniertes Vorrecht, hat er zwar abgeschworen, er tat es aber nur öffentlich. Wenn er von der versammelten Angestelltenschaft des Schlosses dafür gefeiert wird, wirft eine Gruppe junger, weissgekleideter Mädchen ihre von Blutspuren getränkte Unterwäsche gegen eine Glasscheibe (Kostüme: Alan Hranitelj). Mit Susanna, der mit zauberhaft schlanker Stimme und grossartiger Stilsicherheit agierenden Sabine Devieilhe, geht es jedenfalls klar zur Sache – nur braucht es dafür am Ende doch deren zwei. Zum einen scheint Susanna mit ihrem Bräutigam Figaro (Krzysztof Bączyk) nicht wirklich glücklich zu sein, zum anderen mag sie die Gräfin zum Vorbild nehmen (Adriana González versieht ihre Partie mit warmem Klang und starker Ausstrahlung) – die Rosina aus dem Umfeld eines Barbiers von Sevilla, die durch die Verheiratung mit einem gewissen Almaviva gesellschaftlich einen Schritt nach oben getan hat.

Vielleicht schwimmt sie auch nur im Fahrwasser der nicht nur, aber vor allem erotischen Entfesselung, die im Hause Almaviva herrscht. Dafür steht die fast nackte junge Frau, die den Herrn des Hauses sorgfältig einkleidet. Dafür steht aber auch der juvenile, triebgesteuerte Cherubino, den Lea Desandre körperlich agil und stimmlich unerhört berührend verkörpert. Dafür steht in erster Linie aber Almaviva selbst, dem die Pistole locker im Halfter sitzt – selbst dann, wenn er im Schlafzimmer seiner Gattin eine Tür aufbrechen will. Der allseits gepflegte Griff zur Waffe spricht fvom Heraufdämmern der Revolution mit ihren Gewaltausbrüchen und Blutorgien (der Dramaturg Christian Longchamp hat dazu einen informativen Text verfasst, er steht allerdings im Programmbuch von «Macbeth»). Cherubino springt denn auch nicht in einen Garten, sondern in einen Haufen grosser Müllsäcke. Am Ende, nach den vielschichtigen Verirrungen in dem süssen Dickicht des Bühnenbildners Raimund Orfeo Vogt, hat sich der tiers état erhoben, steht Figaro aufrecht auf einem kleinen Hügel, während der Graf – es ist André Schuen, der über ein samtenes Timbre, aber nicht die nötige Tiefe verfügt – auf den Knien vor seiner Gattin um Verzeihung bittet.

Keine Revolution, aber doch so etwas wie einen Aufstand gab es bei den Wiener Philharmonikern, die sich nicht mit dem Mann am Pult anfreunden mochten. Markus Hinterhäuser versucht hartnäckig, den ästhetischen Horizont des Spitzenorchesters aus der Welthauptstadt der Musik zu erweitern. Darum hat er für den «Figaro» Raphaël Pichon engagiert, einen pointierten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, der mit seinem Ensemble Pygmalion hervorragende Arbeit leistet. Ein mit Spezialisten besetztes Ensemble und die Wiener Philharmoniker sind wahrlich zwei verschiedene Paar Stiefel, zumal wenn der Dirigent stilistisch auf dem neusten Kenntnisstand zu Werk geht. Am Ende haben sich die beiden Parteien aber gefunden. Pichon konnte vielleicht nicht alles realisieren, was er sich vorgenommen hatte, jedenfalls klangen die Wiener Philharmoniker nicht so, als wäre bei ihnen 1789 ausgebrochen. Aber insgesamt durfte sich der musikalische Ansatz des Abends sehr wohl hören lassen. Die Tempi hielten sich jederzeit in natürlichem Rahmen und waren ausgezeichnet aufeinander abgestimmt. Der Klang blieb leicht, transparent, vor allem von federnder Energie und rhythmischer Präzision geprägt. Und das Zusammenwirken mit der Bühne liess in der dritten Vorstellung nichts zu wünschen übrig.

«Macbeth»

Trautes Ehegespräch… «Macbeth» / Bild Bernd Uhlig, Salzburger Festspiele

Wie sich ein Orchester doch wandeln kann. Unter dem energischen Zugriff des Dirigenten Philippe Jordan klangen die Wiener Philharmoniker bei Giuseppe Verdis «Macbeth» grundlegend anders: unglaublich kraftvoll, ja muskulös, ohne dass die klangliche Schönheit gelitten hätte und die Balance gestört worden wäre, auch ohne jeden Moment der Bedrängnis für die durchs Band ausgezeichneten Sängerinnen und Sänger. Zugleich gelang Jordan dort, wo es die Partitur forderte, der Blick nach innen, hin zu den Befindlichkeiten der einzelnen Figuren und zu den solistischen Einwürfen der Bläser – Verdis Instrumentation erschien an diesem Abend, der zweiten von sechs Vorstellungen von «Macbeth», in neuem, glanzvollem Licht. Hinreissend auch der Auftritt der ausserordentlich gross besetzten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die von Jörn Hinnerk Andresen vorbereitet worden war.

Alles war da ins Grosse gerichtet – wohl der einzig mögliche Ansatz auf der Riesenbühne im Grossen Festspielhaus. Als Ausstatterin liess Małgorzata Szczęśniak die gesamte Spielfläche benutzen – was insofern eigene Ansprüche stellte, als das Stück nur wenige personalintensive Aufzüge kennt. Sie löste das Problem durch die Vervielfältigung der Zahl der Mitwirkenden und die simultane Präsenz von Nebenschauplätzen. Die immer wieder auftauchenden Hexen sind ein Chor blinder Frauen im Saal eines Behindertenheims, die Geister zahlreiche Kinder mit überlebensgrossen Köpfen, während die Bediensteten in ihrer schwarzen Kluft mit den weissen Handschuhen ohne Zahl sind. Dazu gibt es Videoprojektionen in unterschiedlichen Formaten. Von allem so viel, dass das konzentrierte Zuhören fast unmöglich wird.

Nur, was soll der arme Regisseur machen in einem Stück, das zwar den grossen Gefühlsausbruch kennt, sich aber in kleinen Schritten auf das unabwendbare schreckliche Ende hin zubewegt? Krzysztof Warlikowski stellt sich dem oratorischen Zug von «Macbeth» und positioniert den Chor gerne in schwarzen Gewändern an den Rändern der Bühne. Und er arbeitet gezielt mit Nähe und Ferne, mit Weitblick und Fokus. Zu Beginn rollt eine enorm in die Breite gezogene Sitzbank in den Vordergrund, auf der sich die beiden Feldherren Macbeth und Banco über ihre Erfolge freuen – beide, Vladislav Sulimsky wie Tareq Nazmi, in glänzender Verfassung. Dazu darf man über Video einer in einem seitlichen Tunnel vollzogenen gynäkologischen Untersuchung beiwohnen, an deren Ende Lady Macbeth erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird. Das ist der Startschuss für den unglaublichen Antrieb zum Bösen, den die offenkundig zutiefst verletzte Frau auslebt, und der Auftakt zu einer sängerischen Grossleistung von seltenem Format. Asmik Grigorian reiht hier einen weiteren Salzburger Stern an Marie, Salome, Chrysothemis und Suor Angelica. Für das Trinklied im Zentrum des Werks mag ihr das letzte Quentchen an Kraft fehlen, aber vielleicht ist die Zurückhaltung auch gewollt, herrscht hier doch nur gespielte Ausgelassenheit. Schliesslich beginnt schon da der Niedergang; bald sitzt Macbeth, Vladislav Sulimsky fasst das stimmlich bewundernswert, vom Schlaganfall niedergestreckt im Rollstuhl, während sich seine irr gewordene Gattin durch ihre Wahnvorstellungen schleppt. Beide Opern, «Figaro» wie «Macbeth», enden in Jubel. Uns Heutigen bleibt bestenfalls ein Glühwürmchen an Hoffnung.

«Macbeth» in Basel

 

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Am Ziel und restlos verstrickt: Macbeth (Vladislav Sulimsky) und seine Lady (Katia Pellegrino) in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Macht und Sex, Sex und Macht

Verdis «Macbeth» mit Olivier Py und Erik Nielsen am Theater Basel

 

Zu sehen gibt es hier nun sehr viel – ganz anders als im Opernhaus Zürich, wo «Macbeth» ebenfalls auf dem Spielplan steht und Giuseppe Verdis radikale Schaueroper durch einen Akt des Nicht-Theaters zu eindringlichstem musikalischem Theater wird. In Basel ist Olivier Py am Werk; im Gegensatz zu Barrie Kosky untersucht er auch dieses Stück auf seine untergründiggen sexuellen Ströme – und er tut das so explizit, wie es bei ihm so Sitte. Er zeigt alles beziehungsweise lässt alles zeigen. Wenn König Duncan bei seinem Vasallen Macbeth zu Gast kommt, entledigt er sich erst seiner Statussymbole und dann seiner Kleidung, um sich schliesslich splitternackt in eine Badewanne zu legen und dort sein Marat-Schicksal zu erwarten. In der Folge führt der Dahingemeuchelte, vom Theaterblut gezeichnet, sein Gemächt noch und noch ins Licht. Auch die Hexen dürfen ihre für gewöhnlich verdeckten Sächelchen herzeigen, es ist eine wahre Freude. Später kämpft sich Macbeth noch über einen Berg ebenfalls nackter Leichen, aber die sind nun aus Plastik. Genau so wie die Krähen, die als kleine Reverenz an die Zürcher Produktion vom Rhein an die Limmat grüssen.

So ist es nun einmal bei Olivier Py. Wer diese Regiehandschrift nicht mag, bleibt besser fern, es gibt ja eine Alternative. Nicht nur das Nackte, auch das Grobe gehört bei ihm dazu. Wenn zu Beginn des vierten Akts die Hoffnungslosigkeit ihren tiefsten Punkt erreicht hat und das Volk von Schottland sein Schicksal beklagt, tut es das im Schatten einer enormen Diktatorenstatue – die am Ende der Nummer pünktlich und krachend zu Boden fällt. Dass der von Henryk Polus einstudierte Chor des Theaters Basel, dessen Damen wieder reichlich Vibrato einbringen und damit die die erwünschte klangliche Homogenität stören, hier seine Sache ganz ausgezeichnet macht und einen grossartigen Moment musikalischer Dichte erzeugt, wird durch das Getöse des fallenden Monuments brutal zerstört. Einmal mehr wird offenbar, mit wie wenig entwickelter Musikalität Musiktheater in Szene gesetzt werden kann. Oder wie sehr sich die Kraft des szenischen Bilds gegenüber dem als Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte gedachten Kunstwerk Oper verselbständigen kann. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass Pierre-André Weitz die Ausstattung virtuos konzipiert und die Haustechnik sie meisterlich realisiert hat.

Doch das ist nur die eine Seite. Was Olivier Py zu «Macbeth», zu Verdi und zu Shakespeare zu sagen hat, das zeigen die intelligenten Antworten, die der Theologe, Autor, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter dem Dramaturgen Pavel B. Jiracek im Programm gibt. Es ist weitaus anregender als das, was an diesem Abend im Theater Basel zu sehen ist. Denn jenseits des Plakativen bleibt die Basler Produktion im Konventionellen oder im Ungefähren stecken. Das liegt an einem Mangel an Hinwendung des Regisseurs zu den dramatis personae. So sehr sie – man könnte fast sagen: im Stil des italienischen Ausstattungstheaters – dem schlagkräftigen Bild zustrebt, so wenig Aufmerksamkeit schenkt die Inszenierung den einzelnen Figuren; sie bleiben darum Chiffren, ja Schemen. Gewiss zeigt Py das Geschehen von «Macbeth» nicht als eine reale Wirklichkeit, sondern vielmehr als eine Wirklichkeit des Unterbewusstseins – die Omnipräsenz des Waldes, als szenische Metapher auch aus anderen Inszenierungen dieses Regisseurs bekannt, mag dafür stehen. Aber welcher Art die Keimzelle des Dramas ist, nämllich die Beziehung zwischen Macbeth und seiner Gattin, dass sich hier die krankhafte Skrupellosigkeit einer Frau der ebenso krankhaften Abhängigkeit, ja Hörigkeit eines schwachen Mannes bedient, das wird nicht wirklich fassbar.

Auch musikalisch nicht. Katia Pellegrino (Lady Macbeth) verfügt über eine tadellos ausgebaute Tiefe und eine strahlkräftige Höhe, der Übergang zwischen Brust- und Kopfstimme ermangelt jedoch der Kontrolle. Ebenso fehlt es an Piano-Kultur – wohingegen das Forte mächtig beeindruckt, aber doch arg der Konvention des italienischen Starkgesangs verpflichtet bleibt. Das Bedrohliche, das schauerlich untergründige Streben kommt daher ebenso wenig zum Ausdruck wie der Zusammenbruch in der Schlafwandlerszene – und schon gar nicht zu hören ist, dass Verdi bei dieser Figur an eine ganz und gar unübliche vokale Ästhetik gedacht hat: an eine Ästhetik des Hässlichen. Vladislav Sluminksy (Macbeth) kommt seiner Partie näher. Er bringt ein obertonreiches Timbre ein, beherrscht die italienische Technik ausgezeichnet und profitiert von vorbildlicher Diktion, doch so weit im Ausloten der Extreme, wie es Markus Brück in Zürich tut, geht der Bariton aus Weissrussland nicht. In den kleineren Partien glänzt neben Valentina Marghinotti (Kammerfrau der Lady Macbeth) vor allem Callum Thorpe als Banquo; der britische Bass, der Ende letzten Jahres als Sarastro in Mozarts «Zauberflöte» auffiel, bringt auch hier äusserst gepflegte, klangvolle Sonorität und souveräne Ausgestaltung ein.

Allein, was Verdis Partitur an Spannung enthält, wird in Basel weitaus weniger deutlich als in Zürich. Das liegt auch am Dirigenten. Ohne Zweifel braucht es eine gewisse Offenheit, den exzentrischen Zugang des Dirigenten Teodor Currentzis zu goutieren, doch unter dem Strich fördert er entschieden mehr zutage, als es der konventionelle Verdi-Ton tut. Den verfolgt Erik Nielsen in Basel – klanglich eher schwer als zugespitzt, dafür rhythmisch präzis und energiegeladen. Und das Sinfonieorchester Basel lässt unter der feurigen Anleitung durch den designierten Musikdirektor am Theater Basel hören, dass es sich in sehr respektabler Verfassung befindet.

«Macbeth» in Zürich

 

Verfolger und Verfolgter: Macbeth (Markus Brück) auf der Zürcher Bühne / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn

Verdis «Macbeth» mit Teodor Currentzis und Barrie Kosky am Opernhaus Zürich

 

Zu sehen gibt es da rein gar nichts. Oder, konkreter und korrekter, nur sehr wenig. Dabei befinden wir uns doch im Opernhaus Zürich und in einem Stück musikalischen Theaters. Doch der Regisseur Barrie Kosky wollte «Macbeth», die Oper Giuseppe Verdis, als ein Geschehen zeigen, das sich allein im Innern der beiden Protagonisten abspielt: als eine Geschichte von Ehrgeiz, Machtrausch und Verfolgungswahn. Eben genau so, wie er das Stück hört. Kosky, der Nachfolger Andreas Homokis an der Komischen Oper Berlin und ein Theatertier voller unkonventioneller Ideen, empfindet «Macbeth» nicht als ein Schauerstück voll von Mord und Totschlag; die schauerlichen Kämpfe, von denen Shakespeare berichtet, spielen sich für ihn vielmehr als psychische Reflexe ab. Diesen durchaus subjektiv interpretierenden, aber gerade darum hochinteressanten Ansatz bringt er mit hinreissender Konsequenz und einer Radikalität sondergleichen auf die Bühne.

Klangwunder aus dem schwarzen Loch

Auf eine Bühne, die ein schwarzes Loch ist. Klaus Grünberg, der auch die ungewöhnliche, mit überraschen Effekten aufwartende Beleuchtung konzipierte, machte das Spielfeld zu einem ansteigenden, sich im Unendlichen verlierenden Tunnel, der an den beiden Seiten durch kurze, dämmerig glühende Lichtsäulen begrenzt wird. Den Vordergrund beherrscht eine mächtige, hier tief, dort höher hängende Dose, aus der trüber Schein fällt; das Licht erhellt den dramatischen Ort, der allein durch zwei karge Holzstühle markiert ist. Jeder Anschein von Realismus ist da getilgt. Es gibt keinen Aufzug des amtierenden Königs, der kurze Zeit nach seiner Ankunft von Gastgeber erschlagen wird, kein grosses Fest, an dem sich der Mörder blossstellt, kein Schlafzimmer, in dem die furchterregende Strippenzieherin schliesslich doch die Contenance verliert. Allein die Hexen werden eine Spur fassbarer – aber doch nicht wirklich, ist dieser als Schemen erscheinende Bewegungschor doch aus nackten Wesen gebildet, die Mann und Frau zugleich sind. Alles, was das grosse Bild erzeugt, kommt aus dem Dunkel des Hintergrunds und der Bühnenseiten, und das rein akustisch, dafür effektvoll in den Raum rund ums Publikum gesetzt.

So erscheint «Macbeth» hier als ein veritables dramma in musica – und das heisst, dass das Instrumentale, durchaus der Partitur gemäss, nicht begleitende, untermalende Funktion erfüllt, sondern zu einem zentralen Parameter wird. Ebenso sehr, wie es die Darsteller auf der Bühne tun, ist es das Orchester, das die Geschichte erzählt – die Philharmonia Zürich tut das brillant: mit aufgerauhten Klängen, beissend scharf bisweilen, aber auch flüsterleise. Kein Wunder, am Pult steht nämlich Teodor Currentzis, der Grieche aus Russland oder der Russe griechischer Herkunft, der seiner aufschiessenden musikalischen Phantasie freien Lauf lässt. Wüst stellte sich Verdi seine Oper vor, und er bezog das in erster Linie auf die vokale Darstellung. Currentzis, mit seinem Ensemble Musica Aeterna als ein wilder, ja frecher Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis bekannt geworden, nimmt sich das für seine Aufgaben nicht weniger radikal zu Herzen, als es der Regisseur auf seinem Feld tut.

Er geht Verdis Musik aus dem Geist ihrer Entstehungszeit an und lässt sie gerade darum ganz heutig wirken. Das Spiel ohne Vibrato zum Beispiel, für das Zürcher Opernorchester eine Selbstverständlichkeit, gehört absolut dazu – und mehr noch: es wir dazu einem der wirkungsvollsten Ausdrucksmittel. Ganz gläsern können da die Klänge werden, und sie nehmen dabei eine Bedrohlichkeit sondergleichen ein. Dazu kommen noch nie gehörte Effekte, etwa ein Flüstern des Chors gleichzeitig zu seinem Singen oder ein Gejohle des Volks, in dem die hinter Bühne agierende Band völlig untergeht. Nicht zuletzt aber die Vielfalt der Artikulation, auch der Unterscheidung zwischen schweren und leichten Tönen, sowie die Spannweite in der Wahl der Tempi – alles mit dem Ziel, die Musik Verdis in einem Zustand fiebriger Erregung klingen zu lassen. Das alles weitaus freier, souveräner als in der Pariser Produktion von 2009, die auf DVD vorliegt. Man muss es gehört haben, um es zu begreifen.

Extrem und schön zugleich

Wie auf der Bühne gesungen wird, steht dem in keiner Weise nach. Der grosse Chor des leidenden Volkes, mit dem Verdi an seinen Erfolg mit «Nabucco» anzuschliessen suchte, wird vom Chor und dem Zusatzchor der Oper Zürich zu einer Eindringlichkeit gebracht, die das legitime Anliegen des Moments und die Fragwürdigkeit seiner Umsetzung in gleicher Weise fühlbar macht. Und die beiden Protagonisten kommen dem, was sich Verdi an Verbindung zwischen dem Extremen und dem Schönen gedacht haben mag, in packender Weise nahe. Was besonders darum beeindruckt, da die schwarzen, durchgehend gleich geschnittenen Kostüme von Klaus Bruns nicht die Individualitäten unterstreichen, sondern vielmehr die Figuren als Chiffren stehen lassen. Um so effektvoller, wenn Lady Macbeth im Schlafzimmer in unschuldigem Weiss und Macbeth am Ende in seinem verschmutzten Unterhemd als eine Art Saddam Hussein nach dem Herauskommen aus dem Erdloch erscheinen.

Als Lady Macbeth bringt Tatiana Serjan einen in der Tiefe ruhenden, opulent leuchtenden Sopran ein, der keinen Zweifel daran lässt, wer in diesem Haushalt die Hosen trägt. Die Schlafwandlerszene zeigt dann aber grossartig, wie nahe Stärke und Schwäche nebeneinander liegen können. Umgekehrt ist Macbeth hier ganz aufbrausender Schwächling. Etwas kleiner als seine Gattin und gern mit rundem Rücken sitzend, hängt er sich an den Rocksaum der Frau, die für ihn eher eine Mutter zu sein scheint – eine horribel strenge Mutter, in deren Schlafzimmer sich der Sohn/Gatte nicht mehr wagt. Markus Brück verkörpert das darstellerisch grandios, und sein vielfarbiger, kraftvoller Bariton erlaubt ihm, das Körpersprachliche ungeschmälert hörbar zu machen. Dazu kommen bei ihm eine stilistische Versatilität und eine derart idiomatische Diktion, das man ihn geradewegs für einen geborenen Italiener halten könnte. Nicht weniger überzeugend sind in dieser Produktion die kleineren Partien besetzt, etwa der Banco von Wenwei Zhang, der Macduff von Pavol Breslik, der Malcolm von Airam Hernandez oder die Kammerfrau von Ivana Rusko.

Gegen Ende gibt es sogar noch etwas zu sehen, etwas durchaus Spektakuläres. Es sind fünf Krähen, die den Abgang des Schreckenspaars begleiten. Zunächst hält man sie für echt und runzelt angesichts des Tierschutzes die Stirn; wie sie jedoch so ungerührt dasitzen und dann ihre Schnäbel in einer Weise öffnen, als setzten sie zum Singen an, blickt man durch und erkennt eine stupende Leistung der Abteilung Theaterplastik der Zürcher Oper. Und einen genialen dramaturgischen Trick. In einem Zug sind die drei Stunden dieses Abends vorbei: in einer Aufführung, die nicht anders als weltstädtisch genannt zu werden verdient.