Einakter von Adolphe Adam und
Gaetano Donizetti im Stadttheater Solothurn
Von Peter Hagmann
Mehr als sechs Jahre sind vergangen seit jenem höchst vergnüglichen Abend im Stadttheater Solothurn, der den beiden Einaktern «La notte di un nevrastenico» von Nino Rota und «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini galt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.01.17). Zunächst der gestresste Geschäftsreisende, der für die Übernachtung nicht nur sein eigenes Zimmer bucht, sondern, um jeder Störung zuvorzukommen, auch noch jenes links und jenes rechts davon. Der dann aber gleichwohl verdächtige Geräusche wahrnimmt, weil das Schlitzohr von Hotelier das Zimmer zur Rechten trotz hoch und heiliger Versprechungen dennoch vermietet hat, und das erst noch an ein junges Liebespaar. Danach dann die Posse um den verstorbenen Buoso Donati, dessen sehr attraktives Testament zugunsten der Verwandten abgeändert werden soll, was der von der Familie nicht eben geliebte Gianni Schicchi bewerkstelligt, allerdings durchs Band zu seinem Vorteil. Die Lust auf der Bühne wie jene im Zuschauerraum sind bis heute lebendig.
Jetzt legt die kleinste professionelle vollausgebaute Oper vielleicht nicht der Welt, aber wohl doch der Schweiz, nochmals nach. Zur Eröffnung seiner Spielzeit bringt das Theater-Orchester Biel-Solothurn nichts Geringeres als ein Stück Johann Wolfgang von Goethes. Es trägt den Titel «Jery und Bäteli» und ist von dem berühmten Eugène Scribe unter Assistenz von Méleville, bürgerlich Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, zu einem Libretto geformt worden. Adolphe Adam hat auf dieser Basis einen ebenso eingängigen wie witzigen Einakter komponiert; «Le Chalet», so sein Titel, wurde im Herbst 1834 durch die Opéra-Comique aus der Taufe gehoben und geriet mit seinen über eintausend Aufführungen allein in Paris zu einem Kassenschlager sondergleichen. Allein, was Adam recht war, sollte Gaetano Donizetti billig sein. Er übersetzte die aus Goethes deutscher Sprache von Scribe ins Französische transponierte Vorlage eigenhändig ins Italienische und schuf, diesmal nun unter dem Titel «Betly ossia La campanna svizzera», seinen eigenen Einakter, der zwei Jahre nach dem Pariser Erfolg Adams in Neapel uraufgeführt wurde – ebenfalls mit Gewinn. Heute sind beide Kurzopern restlos vergessen; «Betly» hat nicht einmal in «Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters», das Allerheiligste der Oper, Eingang gefunden.
Genau das Richtige also für TOBS, wie die seit 2012 von Dieter Kaegi geleitete Institution zu nennen ist. «Aida» oder «Die Meistersinger» gehen nicht in den intimen Räumen von Biel und Solothurn, man muss sich nach der Decke strecken und Alternativen finden – was das quicklebendige Haus mit seinen zwei Spielstätten überaus geschickt tut. Zum Beispiel mit dem erheiternden Doppelabend im Zeichen von «Le Chalet suisse». Goethes Singspiel hat es durchaus in sich. Betly ist eine junge Frau, aber eine von rebellischem Geist. Sie lebt in ihrem weitab, nämlich im Appenzellischen gelegenen Chalet und hat nichts im Sinn mit der hergebrachten Karriere als Hausfrau und Mutter. Heiraten? Nein danke. Dem Mannsbild, das ihr Haus betritt, wird alsbald die Tür gewiesen. Dies sehr zum Kummer des jungen Daniel, der für Betly brennt. Schützenhilfe erfährt der Bewerber von Max, dem deutlich älteren Bruder Betlys, der in fremden Diensten zu Rang und Geld gekommen und nun in die Heimat zurückgekehrt ist. Seine Schwester gehöre unter die Haube, findet Max, und Daniel sei der Rechte. Nach einer Reihe von Zwischenfällen scheint das auch zu gelingen – oder vielleicht doch nicht?
Das wäre die Geschichte. In (Biel und) Solothurn wird sie zwei Mal erzählt, aber in zwei ganz und gar unterschiedlichen Weisen. Für die leichtfüssige, schwungvolle, in der Substanz freilich etwas schmalbrüstige Opéra-comique von Adam hat sich der Regisseur Andrea Bernard ein Spiel im Spiel ausgedacht. Gezeigt wird eine Probe von «Le Chalet», die Bühne von Alberto Beltrame ist eine Bühne, die Dekoration ist als Modell anwesend: als Blick in ein etwas schräg geratenes Puppenhaus. Max ist nicht nur Max, sondern auch der Regisseur und als solcher meist genervt – Michele Govi gibt seinen Part fulminant. Etwas chargiert vielleicht, aber das mag am Platz sein. Betly wiederum, Roxane Choux brilliert mit ausgeprägtem komischem Talent, erscheint als eine kaum zu bändigende Diva, die alles singen mag ausser – Betly. Schon gar nicht an der Seite von Pierre-Antoine Chaumien, der als Daniel seinen ersten grösseren Auftritt hat und den Umstehenden gleich einmal einen werbenden Flyer aufdrängt. Er gibt vor, das zu erarbeitende Stück mit einer Eigenkomposition erweitert zu haben – und genau da liegt eine kleine Schwäche von «Le Chalet», denn in diesem Momenten hängt Adams Partitur ein wenig durch. Dies trotz dem beherzten Einsatz des Sinfonie-Orchesters Biel-Solothurn, das von Franco Trinca souverän in Schwung gehalten wird.
Nach der Pause stellt man fest, dass das soeben noch als Modell gezeigte Puppenhaus mitsamt seinem nicht ganz passenden First in reale Grösse gewachsen und zum Bühnenbild worden ist. In Donizettis Fassung kommt «Betly» als eine ausgewachsene Opera comica im Belcanto-Stil daher. Das Szenische gibt sich zurückhaltender, es lässt mehr Raum für das Musikalische – und das ist gut so, treten doch bei allen drei Darstellern hochstehende vokale Qualitäten zutage. Seinen Anteil daran hat auch der von Valentin Vassilev geleitete Opernchor, dem die Kostümbildnerin Elena Beccaro zur Verdeutlichung der couleur locale etwas vergammelte Uniformen schweizerischer Offiziere und Fantasietrachten verpasst hat. Und hier legt der Regisseur auch den Finger auf die überraschende emanzipatorische Seite, die an dem Doppelabend aufscheint. Ihre Freiheit ist der jungen Frau alles, davon singt sie explizit. Wenn der Einakter Donizettis zu Ende geht, hat sie den Ehevertrag zwar unterschrieben, doch zeigt die Inszenierung, wie sie das Papier vor den Augen des frischgebackenen Ehemanns und ihres Bruders zerreisst, ihre Skier ergreift und mit ihren Freundinnen aus dem Chor in Richtung Matterhorn aufbricht. Goethe hat es nicht so gemeint, man kann es jedoch so denken.
Die Produktion steht noch in Biel und Solothurn auf dem Programm. Sie reist dann nach Visp, Winterthur und Zug.