Kunst und Gunst des Alters

Bruckners Fünfte mit Herbert Blomstedt

 

Von Peter Hagmann

 

Alles hatte seine Stimmigkeit an diesem Abend des Tonhalle-Orchesters Zürich – fast alles, doch davon später. Der fünften Sinfonie Anton Bruckners mit ihren knapp eineinhalb Stunden Spieldauer etwas voranzustellen, hat seinen Sinn. Erst recht, wenn es von Johann Sebastian Bach stammt, dem Meister jener Kunst des Kontrapunkts, der sich Bruckner nicht nur im Finale seiner Fünften, dort aber mit besonderer Inständigkeit hingegeben hat. Wenn aber das Vorangestellte von Bach kommt und für Orgel geschrieben ist, dann ist ein Optimum erreicht. So war es beim Auftritt des Tonhalle-Orchesters im Rahmen der erstmals durchgeführten Internationalen Orgeltage. Zu Beginn des Abends spielte der Organist Christian Schmitt, der zusammen mit Peter Solomon am Bau der neuen Orgel in der Tonhalle wesentlich beteiligt war und die erste Saison des Orchesters im neu erstrahlenden Saal als Fokus-Künstler begleitet, Bachs Fantasie mit Fuge in g-moll (BWV 542) – und führte vor Ohren, dass das Instrument der Firma Kuhn aus Männedorf nicht nur eine präzis auf die Bedürfnisse der Chöre und Orchester abgestimmte Konzertsaalorgel ist, dass auf ihr vielmehr auch Werke der Barockzeit adäquat dargeboten werden können. Mit einem Ausschnitt aus dem «Livre du Saint-Sacrement» des grossen Olivier Messiaen, eines wie Bruckner tiefgläubigen Katholiken und Organisten, konnte er das Publikum ausserdem in die Welt der französischen Klanglichkeit entführen.

Im hellsten Licht, wo es ihm wohl gar nicht so behagt, stand aber Herbert Blomstedt, der amerikanische Dirigent schwedischer Herkunft, der in Kürze seinen 95. Geburtstag begehen kann – und der nach den drei Zürcher Konzerten vier weitere Auftritte in Hamburg, Bremen und Berlin im Kalender stehen hat. Raschen Schrittes, ohne jede Gehhilfe, absolvierte er seine Auftritte, aufrecht, mit etwas hochgezogener linker Schulter, aber das tat er schon in jüngeren Jahren, stand er vor dem Orchester, das ganze Werk hindurch ohne Sitzpause – es ist zum Staunen. Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin sowie auf jede Form von Liften und Rolltreppen, das soll seinen eigenen Worten gemäss das Rezept sein. Vollends unbegreiflich ist aber, wie er in diesem methusalemischen Alter in der Lage ist, ein derart ausgreifendes, derart komplexes Werk wie Bruckners Fünfte so souverän zu meistern, wie es ihm am dritten seiner drei jüngsten Zürcher Abende gelang. Es ist natürlich Frucht ausgeprägter Begabung und lebenslanger Erfahrung, vielleicht aber auch, um es mit Bruckner zu sagen, eine Gnade Gottes. Das Tonhalle-Orchester Zürich fing jedenfalls sogleich Feuer und blieb dem Dirigenten in letzter Aufmerksamkeit zugewandt. Von strahlender Kraft das Tutti, pointiert und bestens integriert die Farben der Bläser, weshalb der Tonsatz jederzeit durchhörbar blieb.

Von Feuer zu sprechen ist aber vielleicht doch verkehrt; das ist es gerade nicht, was Blomstedt im Sinn hat. Er pflegt vielmehr einen sachlichen, strukturbezogenen Bruckner. Davon zeugt der helle, etwas strenge Klang, den er mit dem Tonhalle-Orchester erzielt – das reine Gegenteil zu der runden, emotional durchdrungenen Wärme, die Bernard Haitinks, auch Claudio Abbados Sache war. Für einen modernen Zugang zu Bruckner stehen aber auch die vergleichsweise flüssigen Tempi und der sparsame Einsatz der agogischen Unterstreichung; sie gehören zu den Kernmerkmalen von Blomstedts Auffassung. Am deutlichsten trat es im Finale zutage, wo sich der Dirigent mit geradezu neckischer Verspieltheit den Vertracktheiten hingab, wie sie die Kunst der Fuge bietet. Mit den kleinen Handzeichen, die er, ohne Taktstock schlagend, seit langem pflegt, wies er auf die jeweils erklingenden Hauptsachen hin, auf die Vergrösserungen, auf die Umkehrungen – und es war zu hören, was er sehen liess. Doch schon im Eröffnungssatz war deutlich geworden, aus welcher Übersicht heraus er die Bögen zu spannen und dennoch das Ganze zusammenzuhalten weiss. Sehr getragen, doch ohne jeden Bombast das Adagio des zweiten Satzes, entspannt, ja keck das Scherzo mit seinem Trio. Welche Erleuchtung.

Alles schön, alles gut, wäre nicht der Beginn vor dem Beginn gewesen. Der herrliche Frühsommerabend lud dazu ein, die neue Terrasse vor dem Foyer, die bei der Eröffnung der Tonhalle mit Nachdruck als deren neues Highlight bezeichnet wurde, zu erkunden und einen Blick über den See in die Glarner Alpen zu werfen. Allein, justament dort, wo die Aussicht am schönsten wird, stand wieder einer jener schwarzgewandten Aufseher, der die herandrängenden Konzertbesucher in barschem Ton darauf hinwies, dass hier weiterzugehen untersagt sei; wer es dennoch wage, werde nicht mehr in den Konzertsaal kommen. Wir salutierten und wandten uns um zurück ins Foyer, wo die unsäglichen Kordeln, die das Publikum in Zugelassene und Ausgeschlossene teilten, verschwunden waren, aber deshalb nicht viel bessere Atmosphäre herrschte. Was waren das für Zeiten im Maag-Areal, ohne Aussicht zwar, dafür aber mit Gastfreundlichkeit und ausgesuchter Höflichkeit. Vielleicht wäre es doch endlich an der Zeit, das Kongresshaus von Aufgaben zu entbinden, die es offenkundig nicht zu bewältigen in der Lage ist.

PS., erfreulicher: Am kommenden Sonntag, 12. Juni 2022, um 11.15 kommt die neue Orgel in der Grossen Tonhalle nochmals zu Wort. Anlässlich einer Matinee im Rahmen der Reihe «Literatur und Musik» spielt Christian Schmitt zusammen mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters Zürich Werke von Johann Sebastian Bach, Frank Martin und Petr Eben. Dazwischen liest Stefan Kurt Gedichte von Rainer Maria Rilke.

Farbenfroh und beweglich

Die neue Orgel in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

© Fotograf Michael Reinhard, Zürich

So klingt sie also, die neue Orgel in der Tonhalle Zürich. Mit einer Aufführung der Sinfonie Nr. 3, der sogenannten Orgelsinfonie, von Camille Saint-Saëns und einer veritablen Orgelnacht mit nicht weniger als acht Rezitals wurde die neue Königin gekrönt. Ein grossartiges Instrument. In ihrer äusseren Erscheinung passt die von der Firma Kuhn in Männedorf erbaute Orgel optimal in die nach vierjähriger Renovation wiedereröffnete Grosse Tonhalle (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.09.21); der von Christoph Jedele entworfene Prospekt schliesst an die Vorbauten an und nimmt die wiederhergestellten Form- und Farbgebungen des Saals auf. Für das Klangliche gilt das erst recht, steht hier doch ein Instrument, wie es in seiner ästhetischen Grundausrichtung grosso modo 1895, im Eröffnungsjahr der Tonhalle am See, hätte entstehen können.

Das kann als Zeichen nicht hoch genug gewertet werden. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galten die Prinzipien der sogenannten Orgelbewegung, die sich, grob gesagt, zum Ziel gesetzt hatte, die Orgel im Geist und im Klangbild des 18. Jahrhunderts wiederaufleben zu lassen – will sagen: die Orgel nicht, wie es im späten 19. Jahrhundert üblich war, als eine Imitation des Orchesters zu sehen, sondern ihr ein eigenständiges Gesicht, eben jenes des Barockzeitalters, zurückzugeben. Manche spätromantische Orgel, gerade auch solche aus dem Hause Kuhn, ist darum geringgeschätzt, wenn nicht sogar abgebrochen worden. Und mancher Organist, etwa Rudolf Meyer, der an der Stadtkirche Winterthur wirkte, hat dagegen opponiert – teilweise mit Erfolg, obwohl auf einsamem Posten stehend. Heute ist die Orgelbewegung – die ihrerseits nicht unterschätzt werden sollte – überwunden, wird das Orgelideal des späteren 19. Jahrhunderts wieder wertgeschätzt; im Neubau der Luzerner Musikhochschule zum Beispiel steht als Lern- und Übungsinstrument auch eine kleine Orgel in spätromantischem Geist. Das ist gut so, denn nur auf Instrumenten dieser Art lässt sich das wertvolle Repertoire von Komponisten wie Franz Liszt oder Max Reger, von César Franck oder Charles-Marie Widor adäquat wiedergeben.

Davon abgesehen wurden mit dem Neubau der Orgel in der Tonhalle Zürich einige Nachteile behoben, die bisher im Raum standen. Die erste Orgel – sie kam 1872 in die alte Tonhalle auf dem Sechseläutenplatz, wurde 1895 in die neue Tonhalle am See transferiert und dort 1927 einem erweiternden Umbau unterzogen – stammte aus dem Hause Kuhn und tat lange Zeit gute Dienste. 1988 wurde in der Tonhalle ein neues Instrument von Kleuker und Steinmeyer eingeweiht. Das wenig geliebte Geschenk eines wenig geliebten Gönners erwies sich bald als fehl am Platz. Von Jean Guillou entworfen, spiegelte die Disposition den Geschmack eines solistisch tätigen Virtuosen, während für die Aufgaben, die eine Orgel im Konzertsaal auch zu erfüllen hat, nämlich für die Begleitung von Vokalsolisten und Chören, die nötigen Klangfarben fehlten. Nicht zuletzt war das Instrument in seiner Dimension zu gross geraten; es nahm Raum auf dem Orchesterpodium für sich in Anspruch und schuf damit auch akustische Probleme.

All das ist mit dem Neubau der Orgel gelöst. Einem Neubau, der auf die Initiative von Peter Solomon zurückgeht, dem langjährigen Tastenspieler des Tonhalle-Orchesters Zürich und Professor für Orchesterklavier, Kammermusik und Korrepetition an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Tonhalle-Gesellschaft hatte zunächst abwartend auf die Initiative reagiert, doch als mit der Zürcher Baugarten-Stiftung ein Sponsor gefunden war, der die Hauptlast der Finanzierung übernahm, gab die Trägerschaft des Tonhalle-Orchesters grünes Licht. Eine Expertengruppe ging ans Werk; zu ihr gehörten Solomon, der Wiener Organist Martin Haselböck und Michael Schmitt, Hausorganist der Bamberger Symphoniker und vielgesuchter Solist. Schmitt entwarf eine erste Disposition, die dann in zahlreichen Schritten verfeinert wurde. Was des Organisten Herz begehrt, was die von ihm gespielten oder begleiteten Werke verlangen – es lässt sich mehr als befriedigend lösen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 20.05.20). Und das mit einem Instrument, das etwas kleiner ist als die Vorgängerorgel, also Raum freigibt auf dem Orchesterpodium und sogar die Orgelnische als solche wieder wahrnehmbar macht.

Und vor allem: das grandios klingt – was auch auf das Wirken des Intonateurs Gunter Böhme zurückgeht. Eine einzige Einschränkung gibt es. Sie betrifft das Generaltutti, das doch etwas brüllend klingt – ähnlich wie das Generaltutti der Cavaillé-Coll-Orgel in der Pariser Notre-Dame. Gute Gesellschaft ist das darum, weil auch das Fortissimo der Wiener Philharmoniker, anders als jenes der Berliner Philharmoniker, zur Schärfe neigen kann und weil auch Les Siècles, das von François-Xavier Roth geleitete Originalklang-Orchester, damit umzugehen hat. Mag sein, dass die Masse sehr charakteristischer Einzelfarben nicht von vornherein ein gerundetes Ganzes ergibt. Und an sehr charakteristischen Einzelfarben fehlt es der neuen Tonhalle-Orgel nun wirklich nicht, das haben die Konzerte des vergangenen Wochenendes in aller Eindrücklichkeit hörbar gemacht. Es gibt grundtönige Stimmen in reicher Farbigkeit und unterschiedlichsten Stärkegraden, aber auch tragende Bässe, die den Saal zart zum Vibrieren bringen. Es gibt Zungenregister in ausgeprägter Zeichnung, es gibt Aliquoten, also Register mit gemischten Teiltönen, es gibt die Klarinette, die dem Klang des Harmoniums ähnelt, und das runde Waldhorn, ganz zu schweigen von der neu erfundenen Nasenflöte und den reizenden Crotales, den wie ein Zimbelstern klingenden Klangplatten. Das alles gegliedert in ein Hauptwerk, ein deutsches Orchesterwerk, ein französisches Récit, beide in Schwellkästen, sowie natürlich ein auf festem Fundament stehendes Pedalwerk. Ach, ist das herrlich. Wer es genauer wissen will: https://www.orgelbau.ch/de/orgel-details/114680.html.

Nun also die Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns. Gewaltig der vollgriffige C-Dur-Akkord der Orgel, der das Maestoso einleitet, den zweiten Teil des zweiten Satzes. Gewaltig, aber in stilgerechter Registrierung mit mächtigem Pedal, starken Grundtönen, bestimmenden Zungenregistern, nur eben, wenn ich richtig gehört habe, ohne Mixturen. Dasselbe gilt angewandt für den lange liegenden Schlussakkord ebenfalls in C-Dur, zu dem die Pauke das majestätische, hier aber nicht pathetisch aufgeladene Ritardando durchführt. Sehr markant dagegen kurz zuvor jener Abstieg im Pedal, der in vielen Wiedergaben zu schwach gerät. Das war alles sehr überzeugend im Geist der spätromantischen Orgelpraxis gehalten. Nicht weniger packend gerieten jedoch die drei vorangehenden Teile der Sinfonie, in denen das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung seines Musikdirektors Paavo Järvi und Christian Schmitt an der Orgel die Farbenpracht und die Emotionalität des klanglich höchst abwechslungsreichen Werks in aller Pracht zur Geltung brachten. So war denn eins zu eins zu erleben, was das neue Instrument an Sinnlichkeit und, vor allem, an Beweglichkeit einzubringen vermag: die Orgel als das andere Orchester.

Oder: die Orgel als das weit in den Raum hinein vergrösserte Klavier. In der Orgelnacht war es zu erfahren, als Christan Schmitt in wahrhaft magistraler Darstellung Franz Listzs Fantasie und Fuge über den Choral «Ad nos, ad salutarem undam» aus Giacomo Meyerbeers Oper «Le Prophète» zum Klingen brachte. Das halbstündige Stück, in dem sich Horribilitäten sondergleichen auftürmen, existiert auch in einer von Ferruccio Busoni erstellten Fassung für Klavier; Igor Levit spielte sie im Herbst 2018 beim Lucerne Festival. Tatsächlich handelt es sich bei «Ad nos» um ein Klavierstück für die Orgel – allerdings für eine Orgel, die der Phantasie des Komponisten gerecht zu werden vermag. Die neue Zürcher Kuhn-Orgel vermag es in denkbar bester Weise. Nicht nur bietet die Disposition ausreichend farbliche und dynamische Möglichkeiten, mit seinem Spektrum an digitalen Steuerungen stellt das Instrument enorme technische Möglichkeiten zur Verfügung. Komponisten von heute wissen das zu nutzen. In seinem Präludium «Vision in Flames» bietet der Japaner Akiro Nishimura ein Feuerwerk an Effekten, dass man in Ah und Oh ausbricht – auch weil Marco Amherd, der 1988 geborene Musiker und Wirtschaftswissenschafter, der zurzeit das Davos Festival leitet, die Partitur so blendend umsetzte. Daneben gab es erheiterndes wie die Paganini-Variationen für Orgelpedal, die von der jungen deutschen Organistin Anna-Victoria Baltrusch nicht weniger brillant realisiert wurden. Oder Prélude, fugue et variations von César Franck nicht für Klavier, sondern in einer vom Komponisten stammenden Einrichtung für Orgel und Konzertflügel – mit Christian Schmitt und Peter Solomon.

Die Orgel ist nicht das, wofür wir sie halten. Sie ist weit mehr. In der Tonhalle Zürich kann es erkundet werden. Weiter geht es im Juni kommenden Jahres mit einem Internationalen Orgelfestival.

Die Orgel in der Tonhalle Zürich. Herausgegeben von Lion Galluser und Michael Meyer. Tonhalle-Gesellschaft Zürich und Orgelbau Kuhn Männedorf, Zürich 2021. 58 S., zahlreiche Abbildungen.

© Fotograf Michael Reinhard, Zürich