Víkingur Ólafsson und Paavo Järvi eröffnen die Saison des Tonhalle-Orchesters Zürich
Von Peter Hagmann
Eiligen Schrittes, sichtbar tatendurstig, strebt Víkingur Ólafsson seinem Platz am Steinway zu – der Mann hat etwas vor. Ólafsson gehört nicht zu den Pianisten, die den Betrieb am Laufen halten, er sucht und pflegt das Besondere. Die vergangene Saison, 2023/24, widmete er einem einzigen, allerdings schwergewichtigen Werk: den «Goldberg-Variationen» Johann Sebastian Bachs, die er auf einer Reise über den gesamten Globus an insgesamt 88 Abenden aufgeführt hat. Ein Projekt solcher Art ist ihm möglich, weil er tief in die Musik eintaucht, ihr Inneres erkundet und ihren Kontext ausleuchtet; das verleiht ihm die Kraft, seine Interpretationen nicht nur stetig zu verfeinern, sondern sie auch am Leben zu erhalten. An einem Leben notabene, das dem wachen Zuhören auch bei angeblich bekannten Stücken neue Dimensionen erschliesst.
So war es auch beim Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll von Johannes Brahms op. 15, mit dem er die Saison 2024/25 des Tonhalle-Orchesters Zürich und zugleich seine Präsenz als Künstler im Fokus eröffnete. Sehr getragen ging Paavo Järvi den Kopfsatz an: maestoso, wie Brahms es verlangt, aber nicht basslastig, nicht schwer im Klang, wie es so oft geschieht. Dies erkennbar in Absprache mit dem Solisten, dem es nicht um Kraft und Geläufigkeit ging – beides ist bei Ólafsson in mehr als ausreichendem Mass vorhanden –, sondern um das Singen und das Artikulieren. Herrlich schwangen die Bögen aus, und zugleich waren sie durch Satzzeichen gegliedert, woraus sich eine spezifische Vitalität ergab. Besonders eindringlich geriet das Adagio des Mittelsatzes: erfüllt von Emotionalität und getragen durch eine ausgeprägte Gemeinsamkeit des Musizierens zwischen dem Solisten und dem Tonhalle-Orchester, das mit letzter Aufmerksamkeit und allem Erfolg bei der Sache war. Auch im abschliessenden Rondo dominierte das «non troppo», mit dem Brahms die Ausführungsbezeichnung «Allegro» ergänzt hat – vielgestaltiges Konzertieren stellte sich hier ein. Der Einstieg in die Zürcher Residenz Víkingur Ólafssons geriet fulminant; er machte neugierig auf die Fortsetzung.
Zu Wort kam am Eröffnungsabend in der Grossen Tonhalle Zürich auch Anna Thorvaldsdottir, Jahrgang 1977, aus Island stammend wie Víkingur Ólafsson. Sie nimmt in dieser Saison die Funktion des Creative Chair ein. Seit Paavo Järvi an der Seite von Ilona Schmiel das künstlerische Sagen hat, treten Regionen in Erscheinung, die hierzulande unterbeleuchtet sind, und mit ihnen weniger vertraute ästhetische Ansätze. «Archora», das Orchesterstück von 2022, bot Musik, die ganz aus der Tiefe kommt und aus ihr eine Fülle an Farbwirkungen gewinnt. Strukturelles Denken scheint hier weniger im Vordergrund zu stehen, der Gegensatz etwa zur Neuen Komplexität Brian Ferneyhoughs könnte grösser nicht sein. Auch die Arbeit an Entwicklungsverläufen, wie sie die zentraleuropäische Musik so entscheidend geprägt hat, ist offenbar nicht von Bedeutung; das Stück, mit dem sich Anna Thorvaldsdottir vorstellte, erscheint mir eher wie Magma, das sich unablässig verändert und gerade dadurch Interesse weckt. Auch hier blickt man weiteren Begegnungen mit Spannung entgegen.
Schliesslich, als orchestrales Prunkstück, «L’Oiseau de feu», die erste Ballettmusik, die Igor Strawinsky 1910 für Serge Diaghilev geschrieben hat; an diesem Abend wurde sie in Form der Konzertsuite von 1919 gespielt. Ein Fest für das Tonhalle-Orchester Zürich, es zeigte sich in Bestform. Das geht auch auf Paavo Järvi zurück, der die Fäden sehr geschickt in der Hand hielt. Mit kleinen, nur das Nötigste, das jedoch klar anzeigenden Bewegungen steuerte er das Orchester, das darum nicht zu früh in Ekstase geriet. Die dynamischen Werte waren auf das Sorgfältigste kontrolliert, die Farben der raffinierten Instrumentation Strawinskys funkelten um die Wette. Und als es dann in im Finale ums Ganze ging, stand der Klang grossmächtig im Raum, freilich ohne je die Grenzen der akustischen Kapazität zu tangieren. Grandios. Und ein Erlebnis, wie es sich eben nur live, nur im Konzertsaal einstellt.